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Wladimir I. Lenin 19051216 Sozialismus und Religion

Wladimir I. Lenin: Sozialismus und Religion

[Nowaja Schisn", Nr. 28, 3./16. Dezember 1905. Gezeichnet: N. Lenin. Nach Sämtliche Werke, Band 8, S. 566-571]

Die heutige Gesellschaft ist ganz auf der Ausbeutung der ungeheuren Massen der Arbeiterklasse durch eine verschwindend kleine, zu den Klassen der Grundbesitzer und Kapitalisten gehörende Minderheit der Bevölkerung aufgebaut. Es ist eine sklavenhaltende Gesellschaft, denn die „freien" Arbeiter, die ihr ganzes Leben lang für das Kapital schuften, „haben Anrecht" lediglich auf solche Existenzmittel, die zum Lebensunterhalt von Sklaven, die Profit erzeugen, zur Sicherung und Verewigung der kapitalistischen Sklaverei notwendig sind.

Die ökonomische Unterdrückung der Arbeiter verursacht und erzeugt unvermeidlich alle möglichen Arten politischer Unterdrückung und sozialer Erniedrigung, führt zur Verrohung und Verkümmerung des geistigen und sittlichen Lebens der Massen. Die Arbeiter können sich mehr oder weniger politische Freiheit für ihren Kampf um ökonomische Befreiung erringen, aber keine Freiheit wird sie von der Armut, der Arbeitslosigkeit und der Knechtschaft erlösen, solange die Macht des Kapitals nicht gestürzt ist. Die Religion ist eine Art des geistigen Druckes, der überall und allenthalben auf den Volksmassen lastet, die durch ewige Arbeit für andere, durch Not und Vereinsamung niedergedrückt werden. Die Ohnmacht der ausgebeuteten Klassen im Kampfe gegen ihre Ausbeuter erzeugt ebenso unvermeidlich den Glauben an ein besseres Leben nach dem Tode, wie die Ohnmacht des Wilden in seinem Kampfe mit der Natur den Glauben an Götter, Teufel, Wunder und dergleichen hervorruft. Denjenigen, der sein Leben lang arbeitet und Not leidet, lehrt die Religion Demut und Geduld hienieden, und sie vertröstet ihn mit Hoffnungen auf himmlischen Lohn. Diejenigen aber, die von fremder Arbeit leben, lehrt die Religion Wohltätigkeit hienieden, womit sie ihnen eine recht billige Rechtfertigung ihres ganzen Ausbeuterdaseins gibt und zu annehmbaren Preisen Eintrittskarten zur himmlischen Seligkeit verkauft. Die Religion ist Opium fürs Volk. Die Religion ist eine Art geistiger Fusel, in dem die Sklaven des Kapitals ihre Menschenwürde und ihren Anspruch auf eine halbwegs menschenwürdige Existenz ersäufen.

Doch der Sklave, der sich seiner Sklaverei bewusst geworden ist und sich zum Kampf für seine Befreiung erhoben hat, hat bereits zur Hälfte aufgehört, Sklave zu sein. Der moderne klassenbewusste Arbeiter, von der Großindustrie erzogen und durch das städtische Leben aufgeklärt, wirft mit Verachtung die religiösen Vorurteile von sich, überlässt den Himmel den Pfaffen und bürgerlichen Frömmlern und erkämpft sich ein besseres Leben hier auf Erden. Das heutige Proletariat tritt auf die Seite des Sozialismus, der die Wissenschaft zum Kampfe gegen den religiösen Nebeldunst heranzieht und die Arbeiter vom Glauben an ein jenseitiges Leben dadurch befreit, dass er sie zum wirklichen Kampf für ein besseres irdisches Leben zusammenschweißt.

Erklärung der Religion zur Privatsache – in diesen Worten wird gewöhnlich das Verhältnis der Sozialisten zur Religion ausgedrückt.1 Doch muss man die Bedeutung dieser Worte genau definieren, damit sie keine Missverständnisse hervorrufen können. Wir fordern, dass die Religion Privatsache sei dem Staat gegenüber, können aber keinesfalls die Religion unserer eigenen Partei gegenüber als Privatsache betrachten. Der Staat soll mit der Religion nichts zu tun haben, die Religionsgemeinschaften dürfen mit der Staatsmacht nicht verknüpft sein. Jeder muss vollkommen frei sein, sich zu jeder beliebigen Religion zu bekennen, oder auch gar keine Religion anzuerkennen, d. h. Atheist zu sein, was ja in der Regel jeder Sozialist auch ist. Alle durch das religiöse Bekenntnis bestimmten Unterschiede in den Rechten der Staatsbürger sind völlig unzulässig. Selbst die Erwähnung der Konfessionszugehörigkeit der Staatsbürger in offiziellen Dokumenten muss unbedingt ausgemerzt werden. Keine Zuwendungen an eine Staatskirche, keine Zuwendungen von Staatsmitteln an kirchliche und religiöse Gemeinschaften, die vielmehr völlig freie, von den Behörden unabhängige Vereinigungen gleichgesinnter Bürger werden müssen. Nur die restlose Erfüllung dieser Forderungen kann jener schändlichen und verfluchten Vergangenheit ein Ende machen, wo die Kirche im Hörigkeitsverhältnis gegenüber dem Staate und die russischen Bürger im Hörigkeitsverhältnis gegenüber der Staatskirche waren, wo mittelalterliche Inquisitionsgesetze bestanden und Anwendung fanden (die bis auf den heutigen Tag in unseren Strafgesetzen und -verordnungen erhalten geblieben sind), die Glauben oder Unglauben verfolgten, das Gewissen der Menschen vergewaltigten und Staatspöstchen und Staatspfründen mit der Verteilung dieses oder jenes Staatskirchenfusels verknüpften. Vollständige Trennung der Kirche vom Staat – das ist die Forderung, die das sozialistische Proletariat an den heutigen Staat und die heutige Kirche stellt.

Die russische Revolution muss diese Forderung als unentbehrlichen Bestandteil der politischen Freiheit verwirklichen. Die russische Revolution vollzieht sich in dieser Beziehung unter besonders vorteilhaften Bedingungen; denn das widerwärtige Bürokratenregime des politisch feudalistischen Absolutismus hat selbst innerhalb der Geistlichkeit Unzufriedenheit, Gärung und Empörung hervorgerufen. So geduckt und unwissend die russische rechtgläubige Geistlichkeit auch gewesen sein mag, selbst sie hat jetzt der dröhnende Sturz der alten, mittelalterlichen Ordnung in Russland geweckt. Selbst sie schließt sich der Forderung nach Freiheit an, protestiert gegen das Bürokratenregime und die Beamtenwillkür und gegen die polizeilichen Spitzeldienste, die den „Dienern Gottes" auferlegt werden. Wir Sozialisten müssen diese Bewegung unterstützen, indem wir die Forderungen der ehrlichen und aufrichtigen Leute innerhalb der Geistlichkeit bis zu Ende entwickeln, sie dort, wo sie von Freiheit sprechen, beim Wort nehmen und von ihnen fordern, dass sie jede Verbindung zwischen Religion und Polizei entschieden zerreißen. Entweder seid ihr aufrichtig – dann müsst ihr für die völlige Trennung der Kirche vom Staat und der Schule von der Kirche eintreten, dafür eintreten, dass die Religion bedingungslos und ohne Einschränkungen zur Privatsache erklärt werde. Oder aber ihr akzeptiert diese konsequenten Forderungen nach Freiheit nicht – dann seid ihr also immer noch in den Überlieferungen der Inquisition befangen, klebt also immer noch an den Staatspöstchen und Staatspfründen, glaubt also nicht an die geistige Kraft eurer Waffe, lasst euch auch weiterhin von der Staatsmacht bestechen – und dann erklären euch die klassenbewussten Arbeiter ganz Russlands den schonungslosen Krieg.

Für die Partei des sozialistischen Proletariats ist die Religion keine Privatsache. Unsere Partei ist ein Bund der klassenbewussten, vorgeschrittenen Kämpfer für die Befreiung der Arbeiterklasse. Ein solcher Bund kann und darf sich gegenüber dem Fehlen des Klassenbewusstseins, gegenüber der Unwissenheit und dem Irrsinn des religiösen Glaubens nicht gleichgültig verhalten. Wir fordern die vollständige Trennung der Kirche vom Staat, um gegen den religiösen Nebel mit rein geistigen und nur geistigen Waffen, mit unserer Presse, mit unserem Wort, kämpfen zu können. Aber wir haben unseren Bund, die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands, unter anderem gerade auch für einen solchen Kampf gegen jede religiöse Verdummung der Arbeiter gegründet. Für uns ist der ideologische Kampf keine Privatsache, sondern eine Angelegenheit der ganzen Partei, des gesamten Proletariats.

Wenn dem so ist, warum erklären wir nicht in unserem Programm, dass wir Atheisten sind? Warum verbieten wir nicht Christen und Gottesgläubigen, in unsere Partei einzutreten?

Die Antwort auf diese Frage muss über einen äußerst wichtigen Unterschied zwischen der bürgerlich-demokratischen und der sozialdemokratischen Fragestellung in Bezug auf die Religion Klarheit schaffen.

Unser Programm beruht ganz auf wissenschaftlicher, und zwar materialistischer Weltanschauung. Die Erläuterung unseres Programms schließt daher notwendig auch die Klarlegung der wahren historischen und ökonomischen Wurzeln des religiösen Nebels ein. Unsere Propaganda schließt notwendigerweise auch die Propaganda des Atheismus ein; die Herausgabe entsprechender wissenschaftlicher Literatur, die bisher von der absolutistisch-feudalen Staatsmacht streng verboten war und verfolgt wurde, muss jetzt einen Zweig unserer Parteiarbeit bilden. Wir werden jetzt wahrscheinlich den Rat befolgen müssen, den Engels einmal den deutschen Sozialisten erteilte: die französische atheistische und Aufklärungsliteratur des 18. Jahrhunderts zu übersetzen und in Massen zu verbreiten.

Aber wir dürfen uns dabei in keinem Falle dazu verleiten lassen, die religiöse Frage abstrakt, idealistisch, „aus der Vernunft", außerhalb des Klassenkampfes zu stellen, wie dies häufig bei den radikalen Demokraten aus dem Bürgertum der Fall ist. Es wäre unsinnig, zu glauben, dass man in einer Gesellschaft, die auf schrankenloser Unterdrückung und Verrohung der Arbeitermassen aufgebaut ist, die religiösen Vorurteile rein propagandistisch zerstreuen könne. Es wäre bürgerliche Beschränktheit, zu vergessen, dass der auf der Menschheit lastende Druck der Religion nur das Produkt und die Widerspieglung des ökonomischen Druckes innerhalb der Gesellschaft ist. Durch keine Broschüren, durch keine Propaganda kann man das Proletariat aufklären, wenn es nicht durch seinen eigenen Kampf gegen die finsteren Gewalten des Kapitalismus aufgeklärt wird. Die Einheitlichkeit dieses wirklichen revolutionären Kampfes der unterdrückten Klasse für die Schaffung eines Paradieses auf Erden ist uns wichtiger als die Einheitlichkeit der Meinungen der Proletarier über das Paradies im Himmel.

Das ist der Grund, warum wir in unserem Programm nichts über unseren Atheismus verlautbaren und nichts verlautbaren dürfen; das ist der Grund, warum wir den Proletariern, die noch diese oder jene Überbleibsel der alten Vorurteile bewahrt haben, die Annäherung an unsere Partei nicht verbieten und nicht verbieten dürfen. Die wissenschaftliche Weltanschauung werden wir immer propagieren, die Inkonsequenz irgendwelcher „Christen" zu bekämpfen, ist für uns unerlässlich; aber das bedeutet keineswegs, dass man die religiöse Frage an die erste Stelle, die ihr durchaus nicht zukommt, rücken muss, dass man die Zersplitterung der Kräfte des wirklich revolutionären, des ökonomischen und politischen Kampfes, um drittrangiger Meinungen oder abgeschmackter Einbildungen willen zulassen darf, die ja rasch jede politische Bedeutung verlieren und durch den Gang der ökonomischen Entwicklung selbst rasch in die Rumpelkammer geworfen werden.

Die reaktionäre Bourgeoisie hat überall danach getrachtet und beginnt jetzt auch bei uns danach zu trachten, religiösen Hass zu entfachen, um die Aufmerksamkeit der Massen von den tatsächlich wichtigen und grundlegenden ökonomischen und politischen Fragen, deren Lösung das in seinem revolutionären Kampfe sich praktisch vereinigende gesamtrussische Proletariat jetzt in Angriff nimmt, auf das religiöse Gebiet abzulenken Diese reaktionäre Politik der Zersplitterung der proletarischen Kräfte, die sich heute hauptsächlich in den Pogromen der Schwarzen Hunderte äußert, wird morgen vielleicht auch irgendwelche feinere Formen ersinnen. Wir werden ihr in jedem Fall die ruhige, beharrliche und geduldige, jeder Aufbauschung untergeordneter Meinungsverschiedenheiten fern stehende Propaganda der proletarischen Solidarität und der wissenschaftlichen Weltanschauung entgegensetzen.

Das revolutionäre Proletariat wird es durchsetzen, dass die Religion für den Staat wirklich Privatsache wird. Und unter diesem, vom mittelalterlichen Moder gesäuberten politischen Regime wird das Proletariat einen großzügigen, offenen Kampf für die Beseitigung der wirtschaftlichen Sklaverei, dieser wahren Quelle der religiösen Verdummung der Menschheit, aufnehmen.

1 Die Forderung nach Erklärung der Religion zur Privatsache wurde auf dem Parteitag zu Gotha im Jahre 1875 in das Programm der deutschen Sozialdemokratie aufgenommen und ist auch im Erfurter Programm von 1891 enthalten.

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