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Wladimir I. Lenin 19050600 Über die Verwechslung von Politik und Pädagogik

Wladimir I. Lenin: Über die Verwechslung von Politik und Pädagogik1

[Geschrieben im Juni 1905. Zum ersten Mal veröffentlicht 1926 im „Lenin-Sammelbuch" Nr. 5. Nach Sämtliche Werke, Band 7, 1929, S. 414-418]

Es gibt bei uns nicht wenig Sozialdemokraten, die bei jeder Niederlage der Arbeiter in ihren einzelnen Gefechten mit den Kapitalisten oder der Regierung in Pessimismus verfallen und geringschätzig jede Unterhaltung über die höheren und großen Ziele der Arbeiterbewegung mit dem Hinweis auf den unzureichenden Grad unseres Einflusses auf die Masse beiseite schieben. Wie kommen wir dazu! Das schaffen wir doch nicht! sagen solche Leute. Es ist zwecklos, von der Rolle der Sozialdemokratie als Avantgarde in der Revolution auch nur zu sprechen, wenn wir nicht einmal die Stimmung der Massen richtig kennen, wenn wir es nicht verstehen, uns mit der Masse zu verschmelzen, die Arbeitermasse auf die Beine zu bringen! Die Misserfolge der Sozialdemokraten am 1. Mai dieses Jahres haben solche Stimmungen bedeutend verstärkt. Die Menschewiki oder die Anhänger der neuen „Iskra" beeilten sich selbstverständlich, diese Stimmung aufzugreifen, um wieder einmal als besondere Losung die Losung aufzustellen: Heran an die Massen! Gleichsam irgend jemand zum Trotz, gleichsam als Antwort auf die Gedanken und Gespräche über die provisorische revolutionäre Regierung, über die revolutionär-demokratische Diktatur usw.

Man muss gestehen, dass dieser Pessimismus und die Schlussfolgerungen, die von den voreiligen Publizisten der neuen „Iskra" daraus gezogen werden, einen sehr gefährlichen Zug aufweisen, der geeignet ist, der sozialdemokratischen Bewegung schweren Schaden zuzufügen. Gewiss, für jede lebendige und lebensfähige Partei ist Selbstkritik unbedingt notwendig. Nichts ist abgeschmackter als selbstgefälliger Optimismus. Nichts ist berechtigter als der Hinweis auf die ständige, unbedingte Notwendigkeit der Vertiefung and Erweiterung, der Erweiterung und Vertiefung unseres Einflusses auf die Massen, unserer streng marxistischen Propaganda und Agitation, unserer Annäherung an den ökonomischen Kampf der Arbeiterklasse usw. Aber gerade deshalb, weil solche Hinweise stets und immer, unter allen Umständen und in allen Lagen berechtigt sind, dürfen sie nicht zu besonderen Losungen gemacht werden, können sie nicht die Versuche rechtfertigen, auf ihnen irgendeine besondere Richtung in der Sozialdemokratie aufzubauen. Hier gibt es eine Grenze, bei deren Überschreitung diese unbestreitbaren Hinweise in eine Schmälerung der Aufgaben und eine Hemmung des Schwungs der Bewegung, in ein doktrinäres Vergessen der dringenden vorgeschrittenen politischen Aufgaben der Gegenwart verwandelt werden.

Die Arbeit und den Einfluss auf die Massen vertiefen und erweitern muss man immer. Ohne das ist der Sozialdemokrat eben kein Sozialdemokrat. Keine einzige Organisation, keine Gruppe, kein Zirkel kann als sozialdemokratische Organisation gelten, wenn sie diese Arbeit nicht ständig und regelmäßig betreiben. In hohem Grade besteht der ganze Sinn unserer strengen Absonderung in einer besonderen selbständigen Partei des Proletariats darin, dass wir stets und unbeirrt diese marxistische Arbeit leisten, indem wir möglichst die ganze Arbeiterklasse auf das Niveau des sozialdemokratischen Bewusstseins emporheben und uns durch keinerlei, absolut keinerlei politischen Stürme – und erst recht durch keinerlei politischen Dekorationswechsel – von dieser dringenden Arbeit ablenken lassen. Ohne diese Arbeit würde die politische Tätigkeit unweigerlich in eine Spielerei ausarten, denn ernsthafte Bedeutung gewinnt diese Tätigkeit für das Proletariat nur dann und nur in dem Maße, in welchem sie die Masse einer bestimmten Klasse aufrüttelt, sie interessiert, sie zur aktiven führenden Teilnahme an den Ereignissen in Bewegung setzt. Diese Arbeit ist, wir sagten es schon, immer notwendig: nach jeder Niederlage kann und muss man daran erinnern, muss man es unterstreichen, denn die Schwäche dieser Arbeit ist stets eine der Ursachen der Niederlage des Proletariats. Nach jedem Siege muss man gleichfalls stets daran erinnern und ihre Bedeutung unterstreichen, denn sonst wird der Sieg nur ein scheinbarer, werden seine Früchte nicht gesichert, wird seine reale Bedeutung vom Standpunkt unseres großen Gesamtkampfes für unser Endziel verschwindend gering sein und kann sich sogar als negativ erweisen (nämlich in dem Falle, wenn der teilweise Sieg unsere Wachsamkeit einschläfert, das Misstrauen gegenüber den unverlässlichen Bundesgenossen abschwächt und dazu beiträgt, den Augenblick für einen weiteren und ernsthafteren Ansturm gegen den Feind zu verpassen).

Aber gerade deshalb, weil diese Arbeit der Vertiefung und Erweiterung des Einflusses auf die Massen stets gleichermaßen notwendig ist, sowohl nach jedem Siege als auch nach jeder Niederlage, sowohl in der Zeit der politischen Stagnation als auch in der stürmischsten revolutionären Zeit, gerade deshalb kann man aus dem Hinweis darauf keine besondere Losung machen, kann man darauf keine besondere Richtung bauen, ohne Gefahr zu laufen, in Demagogie zu verfallen und die Aufgaben der vorgeschrittenen und einzigen wirklich revolutionären Klasse herabzuwürdigen. In der politischen Tätigkeit der sozialdemokratischen Partei gibt es immer ein gewisses Element der Pädagogik und wird es immer geben: man muss die ganze Klasse der Lohnarbeiter zu der Rolle von Kämpfern für die Befreiung der ganzen Menschheit von jeder Unterdrückung erziehen, man muss stets neue und immer neue Schichten dieser Klasse ausbilden, man muss verstehen, an die rückständigsten, unentwickeltsten, am wenigsten von unserer Wissenschaft und der Wissenschaft des Lebens berührten Vertreter dieser Klasse heranzukommen, man muss verstehen, zu ihnen zu sprechen, sich ihnen anzunähern, es verstehen, sie konsequent und geduldig zum sozialdemokratischen Bewusstsein emporzuheben, ohne unsere Lehre in ein trockenes Dogma zu verwandeln, indem man sie nicht allein durch das Buch erzieht, sondern auch durch die Beteiligung an dem tagtäglichen Lebenskampfe dieser rückständigsten und unentwickeltsten Schichten des Proletariats. In dieser tagtäglichen Tätigkeit gibt es, wir wiederholen, ein gewisses Element der Pädagogik. Ein Sozialdemokrat, der diese Tätigkeit vergäße, würde aufhören, Sozialdemokrat zu sein. Das ist richtig. Aber bei uns vergisst man jetzt oft, dass der Sozialdemokrat, der die Aufgaben der Politik auf Pädagogik reduzieren wollte, ebenfalls – wenn auch aus einem anderen Grunde – aufhören würde, Sozialdemokrat zu sein. Wer auf den Gedanken käme, aus dieser „Pädagogik" eine besondere Losung zu machen, sie der „Politik" entgegenzustellen, auf dieser Entgegenstellung eine besondere Richtung zu bauen, an die Masse im Namen dieser Losung gegen die „Politiker" der Sozialdemokratie zu appellieren, der würde sofort und unvermeidlich zur Demagogie herabsinken.

Jeder Vergleich hinkt, das ist längst bekannt. Jeder Vergleich vergleicht nur eine Seite oder nur einige Seiten der zu vergleichenden Gegenstände oder Begriffe, von den andern Seiten vorübergehend und bedingt abstrahierend. Erinnern wir den Leser an diese allgemein bekannte, aber oft vergessene Wahrheit und vergleichen wir die sozialdemokratische Partei mit einer großen Schule, die gleichzeitig eine niedere, mittlere und höhere Schule ist. Nie und unter keinen Umständen wird diese große Schule den Unterricht des Abc, die Unterweisung in den Anfangsgründen des Wissens und den Anfangsgründen des selbständigen Denkens vergessen dürfen. Wenn jedoch jemand die Fragen des höheren Wissens durch den Hinweis auf das Abc abtun wollte, wenn jemand anfangen wollte, die unsicheren, zweifelhaften, „engen" Resultate dieses höheren Wissens (das einem um Vieles kleineren Personenkreis zugänglich ist, verglichen mit dem Kreise, der das Abc durchmacht) den festen, tiefen, breiten und soliden Resultaten der Elementarschule entgegenzustellen, so würde er eine unglaubliche Kurzsichtigkeit an den Tag legen. Er könnte sogar dazu beitragen, den ganzen Sinn der großen Schule zu entstellen, denn das Ignorieren der Fragen des höheren Wissens würde es nur den Scharlatanen, den Demagogen und Reaktionären erleichtern, diejenigen zu verwirren, die nur das Abc durchgemacht haben. Oder noch ein anderes Beispiel, vergleichen wir die Partei mit der Armee. Weder in Friedens- noch in Kriegszeiten darf man die Ausbildung der Rekruten, das Schießenlernen, die Verbreitung des Abc des Kriegswesens in den Massen in die Breite und in die Tiefe vergessen. Wenn jedoch die Leiter von Manövern oder von wirklichen Schlachten …2

1 Das Manuskript dieses nicht vollendeten Artikels trägt keine Überschrift und kein Datum. Die Überschrift stammt von der Redaktion. In dem erhaltenen Plan dieses Artikels (veröffentlicht im „Lenin-Sammelbuch" Nr. 5) befindet sich am Schluss der Vermerk: „Akimow in den ,Pоslednije Iswestija'". Es handelt sich um den Artikel W. Akimows in Nr. 235 der bundistischen „Pоslednije Iswestija" vom 30. Mai/12. Juni 1905. Der Artikel Lenins dürfte also im Juni geschrieben sein. Den Anlass dazu gab (neben dem Artikel Akimows) ein Artikel Martows: „Erfolge und Misserfolge des 1. Mai" in Nr. 100 der „Iskra" vom 15./28. Mai. Sowohl Martow wie Akimow beurteilten die Maidemonstrationen 1905 in Russland sehr pessimistisch.

2 Hier bricht das Manuskript ab. Die Red.

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