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Wladimir I. Lenin 19050300 Vorwort zur Broschüre „Die Denkschrift des Direktors des Polizeidepartements Lopuchin"

Wladimir I. Lenin: Vorwort zur Broschüre „Die Denkschrift

des Direktors des Polizeidepartements Lopuchin"1

[Geschrieben Februar–März 1905 Veröffentlicht in der erwähnten Broschüre. Nach Sämtliche Werke, Band 7, 1929, S. 215-219]

Des Guten nicht zu viel! – will gleichsam Herr Lopuchin mit seiner Denkschrift sagen. Gut für die Polizei – das war die „Notverordnung" über den verstärkten Schutz, die seit dem Jahre 1881 eines der stabilsten, der grundlegenden Gesetze des Russischen Reiches geworden ist. Die Polizei erhält alle möglichen Rechte und Vollmachten, „die Einwohnerschaft im Zaume zu halten", nach dem treffenden Ausdruck der Denkschrift, der um so mehr in die Augen springt, je häufiger man bei der Lektüre über den unglaublich schwerfälligen, plumpen Kanzleistil stolpert. Ja, die Polizei hatte es gut unter dieser „Verordnung", aber deren „gute" Eigenschaften verwöhnten die Polizei selbst. Dies einerseits. Und anderseits wurden die außerordentlichen Unterdrückungsmaßnahmen, die vor fünfundzwanzig Jahren als außerordentlich erscheinen konnten, derart zur Gewohnheit, dass auch die Bevölkerung, wenn man so sagen darf, sich ihnen angepasst hat. Die repressive Bedeutung der außerordentlichen Maßnahmen ließ nach, wie eine neue Sprungfeder durch langen und übermäßigen Gebrauch nachlässt. Das Geschäft lohnt sich nicht – will der Direktor des Polizeidepartements, Herr Lopuchin, mit seiner ganzen Denkschrift sagen, die in einem eigenartig wehmütigen und traurigen Ton gehalten ist.

Auf den Sozialdemokraten macht dieser traurige Ton, diese sachliche, trockene, aber nichtsdestoweniger schonungslose Kritik eines Polizisten, die gegen das russische Polizeigrundgesetz gerichtet ist, einen wunderbar wohltuenden Eindruck. Vorbei sind die schönen Tage des Polizeiglücks! Vorbei sind die sechziger Jahre, wo nicht einmal der Gedanke an die Existenz einer revolutionären Partei auftauchte. Vorbei sind die siebziger Jahre, wo die Kräfte einer solchen zweifellos vorhandenen und furchterregenden Partei „nur für einzelne Attentate ausreichten, nicht aber für einen politischen Umsturz". In jenen Zeiten, wo „die unterirdische Agitation eine Stütze in einzelnen Personen und Zirkeln fand", konnte die neu erfundene Sprungfeder noch eine gewisse Wirkung üben. Doch wie sehr hat diese Sprungfeder jetzt nachgelassen, „unter dem heutigen Zustand der Gesellschaft, wo in Russland die Unzufriedenheit mit der bestehenden Ordnung der Dinge und eine starke oppositionelle Bewegung sich breit entwickelt"! Wie sehr haben sich die außerordentlichen Maßnahmen des verstärkten Schutzes als albern und sinnlos erwiesen, wo man genötigt, eben genötigt war, sie tausendfach anzuwenden „gegen Arbeiter wegen Streiks, die friedlichen Charakter trugen und ausschließlich ökonomische Beweggründe hatten", wo man selbst Steine als eine, in politischer Beziehung nicht ungefährliche, Waffe qualifizieren musste!

Der arme Lopuchin setzt in Verzweiflung zwei Ausrufungszeichen und ladet die Herren Minister ein, mit ihm mitzulachen über jene widersinnigen Wirkungen, zu denen die Verordnung über den verstärkten Schutz geführt hat. Alles erwies sich in dieser Verordnung untauglich, seitdem die revolutionäre Bewegung wirklich ins Volk gedrungen ist und sich unlöslich mit der Klassenbewegung der Arbeitermassen verbunden hat – alles, von dem Passzwang und der Meldepflicht bis zu den Kriegsgerichten. Sogar das „Institut der Dworniki", das alles seligmachende, allgütige Institut der Dworniki wird vom Polizeiminister einer vernichtenden Kritik unterzogen, der dieses Institut beschuldigt, die vorbeugende Tätigkeit der Polizei geschwächt zu haben.

Wahrlich, ein vollkommener Bankrott der Polizeiordnung! Und dieser Bankrott wird, auch abgesehen von den Erklärungen einer so hoch kompetenten Person, wie der ehrenwerte Herr Lopuchin, durch den ganzen Entwicklungsgang der zaristischen Politik bestätigt. Als es keine wirklich revolutionäre Volksbewegung gab, als der politische Kampf noch nicht mit dem Klassenkampf zu einem Ganzen verbunden war, da genügten gegen die Personen und Zirkel bloße Polizeimaßnahmen. Gegen die Klassen erwiesen sich diese Maßnahmen wirkungslos bis zur Lächerlichkeit, ihr Überfluss begann zum Hindernis für die Polizeiarbeit zu werden. Die einst drohenden Paragraphen der Verordnung über den verstärkten Schutz erwiesen sich als dürftige, kleinliche, ränkesüchtige Schikanen, die mehr die Unzufriedenheit der nicht zu den Revolutionären gehörenden „Einwohnerschaft" schüren, als dass sie ernsthaft die Revolutionäre treffen. Gegen die Volksrevolution, gegen den Klassenkampf kann man sich nicht auf die Polizei stützen, man muss sich auch auf das Volk, auch auf Klassen stützen. Das ist die Moral der Denkschrift des Herrn Lopuchin. Und das ist auch die Moral, zu der die absolutistische Regierung in der Praxis gelangt. Die Sprungfedern der Polizeimaschine haben nachgelassen, militärische Kräfte allein genügen nicht. Man muss den nationalen Hass, den Rassenhass schüren, man muss aus den Reihen der am wenigsten aufgeklärten Schichten des städtischen (und später selbstverständlich auch des ländlichen) Kleinbürgertums „Schwarze Hundertschaften" organisieren, man muss versuchen, zur Verteidigung des Thrones alle reaktionären Elemente in der Bevölkerung selbst zusammenzuschließen, man muss den Kampf der Polizei gegen Zirkel verwandeln in einen Kampf des einen Teils des Volkes gegen den anderen Teil des Volkes.

Gerade so verfährt jetzt die Regierung, indem sie in Baku die Tataren gegen die Armenier hetzt, indem sie neue Judenpogrome hervorzurufen versucht, Schwarze Hundertschaften gegen die Semstwoleute, die Studenten und rebellischen Gymnasiasten organisiert, an die Untertanentreue des Adels und an die konservativen Elemente der Bauernschaft appelliert. Sei es drum! Wir Sozialdemokraten sind über diese Taktik des Absolutismus nicht erstaunt und werden uns durch sie auch nicht abschrecken lassen. Wir wissen, dass die Regierung jetzt, wo die Arbeiter begonnen haben, den bewaffneten Widerstand gegen die Pogromisten zu organisieren, mit der Schürung des Rassenhasses kein großes Glück haben wird; indem die Regierung sich auf die ausbeutenden Schichten des Kleinbürgertums stützt, wird sie die breiten, wirklich proletarischen Massen noch mehr gegen sich aufbringen. Wir haben niemals erwartet und erwarten auch jetzt nicht politische und soziale Umwälzungen von der „Einsicht" der Machthaber oder von dem Übertritt der Gebildeten auf die Seite der „Tugend". Wir haben immer gelehrt und lehren auch jetzt, dass den politischen Umgestaltungen der Klassenkampf, der Kampf des ausgebeuteten Volksteiles gegen den ausbeutenden zugrunde liegt und letzten Endes über das Schicksal aller solcher Umgestaltungen entscheidet. Indem die Regierung den vollkommenen Bankrott der polizeilichen Kleinkrämerei zugibt und zur direkten Organisation des Bürgerkrieges übergeht, beweist sie damit, dass die letzte Abrechnung naht. Um so besser. Sie beginnt den Bürgerkrieg. Um so besser. Wir sind auch für den Bürgerkrieg. Wenn wir irgendwo uns besonders sicher fühlen, so gerade auf diesem Gebiet, im Kriege der ungeheuren Masse des unterdrückten und rechtlosen, des werktätigen und die ganze Gesellschaft erhaltenden vielmillionenköpfigen Volkes gegen das Häuflein privilegierter Schmarotzer. Natürlich, die Regierung kann durch Entfachung der Rassenfeindschaft und des nationalen Hasses eine Zeitlang die Entwicklung des Klassenkampfes hemmen, aber nur auf kurze Zeit, und zwar um den Preis einer noch größeren Erweiterung des neuen Kampffeldes, um den Preis einer noch größeren Erbitterung des Volkes gegen den Absolutismus. Beweis: die Wirkungen des Pogroms in Baku, der die revolutionäre Stimmung aller Schichten gegen den Zarismus verzehnfacht hat. Die Regierung glaubte, das Volk durch den Anblick des Blutes und der Massenopfer der Straßenkämpfe abschrecken zu können – in Wirklichkeit gewöhnt sie dem Volke ab, sich vor Blutvergießen, vor direkten bewaffneten Zusammenstößen zu fürchten. In Wirklichkeit tritt sie mit einer so großzügigen und eindringlichen Agitation für uns auf, wie wir sie uns nie hätten träumen lassen. Vive le son du canon! sagen wir mit den Worten eines französischen revolutionären Liedes – „Es lebe der Donner der Kanonen!" – es lebe die Revolution, es lebe der offene Volkskrieg gegen die zaristische Regierung und ihre Anhänger!

1 Die Denkschrift des Direktors des Polizeidepartements Lopuchin erschien im Verlag des „Wperjod" mit einem Vorwort von Lenin Ende Februar oder Anfang März als Broschüre in Genf. Die Denkschrift trägt das Datum: 28. Dezember 1904 (alten Stils).

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