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Wladimir I. Lenin 19050914 Was wollen und was fürchten unsere liberalen Bourgeois?

Wladimir I. Lenin: Was wollen und was fürchten unsere liberalen Bourgeois?

[Proletarij", Nr. 16, 1./14. September 1905. Nach Sämtliche Werke, Band 8, 1931, S. 252-258]

Bei uns in Russland ist die politische Erziehung des Volkes und der Intelligenz noch ganz ungenügend. Klare politische Überzeugungen und feste Parteianschauungen sind bei uns noch fast gar nicht herausgearbeitet. Man schenkt bei uns nur allzu leicht jedem Protest gegen den Absolutismus Glauben und betrachtet jede Kritik am Charakter und Wesen eines solchen Protestes mit Feindseligkeit als einen schädlichen Versuch, die Befreiungsbewegung zu spalten. Kein Wunder, dass unter dieser allgemeinen Flagge der Befreiung auch das unter der Redaktion des Herrn Struve herausgegebene „Oswoboschdjenije" in allen Kreisen der freiheitlich denkenden Intelligenz, der eine Analyse des Klasseninhalts des Oswoboschdjenije-Liberalismus verhasst ist, weite Verbreitung findet.

Der Oswoboschdjenije-Liberalismus ist aber nur der systematischere, von der Zensur befreite Ausdruck der Grundzüge des gesamten russischen Liberalismus. Je weiter die Revolution vorschreitet, desto mehr enthüllt sich dieser Liberalismus selbst, desto unverzeihlicher wird die Furcht, der Wahrheit direkt ins Antlitz zu schauen und das wahre Wesen dieses Liberalismus zu begreifen. Überaus bezeichnend sind in dieser Hinsicht die „Politischen Briefe" des bekannten Historikers Herrn Paul Winogradow in dem bekannten liberalen Organ „Russkije Wjedomosti" (vom 5. August). Nicht minder kennzeichnend ist auch die Tatsache, dass andere liberale Blätter, wie z.B. die „Nascha Schisn", Auszüge aus diesem so geschätzten Werk ohne ein Wort der Empörung und Entrüstung nachdrucken. Mit seltener Anschaulichkeit hat Herr Paul Winogradow die Interessen, die Taktik, die Psychologie der eigennützigen Bourgeoisie zum Ausdruck gebracht. Seine Offenheit könnte vielleicht von diesen oder jenen gerisseneren Liberalen als unangebracht empfunden werden, um so wertvoller ist sie jedoch für die klassenbewussten Arbeiter. Hier die Schlussworte aus dem Artikel des Herrn Winogradow, die die ganze Quintessenz des Artikels zum Ausdruck bringen:

Ich weiß nicht, ob es Russland noch gelingen wird, die neue Ordnung auf einem Wege zu erreichen, der jenem nahe liegt, den Deutschland im Jahre 1848 gegangen ist; doch ich zweifle nicht daran, dass man alle Kräfte anwenden muss, um auf diesen und nicht auf den von Frankreich 1789 gewählten Weg zu kommen."

Der unreifen, schlecht zusammengefügten, von innerer Feindschaft völlig erfüllten russischen Gesellschaft drohen auf dem letzteren Wege unerhörte Gefahren, wenn nicht gar der Untergang. Es wäre unerwünscht, einen Anschauungsunterricht über das Thema Macht, Ordnung, nationale Einheit und soziale Organisation zu erleben, um so mehr als diesen Anschauungsunterricht entweder der neu zu Kräften gekommene Urjadnik oder der deutsche Wachtmeister erteilen wird, dem die Anarchie in Russland die Aussicht eröffnet, hier die Rolle der Vorsehung zu spielen."

Also das ist es, woran der russische Bourgeois am meisten denkt: an die unerhörten Gefahren des „Weges" von 1789! Der Bourgeois ist nicht abgeneigt, den Weg Deutschlands von 1848 zu beschreiten, er wird aber „alle Kräfte" anwenden, um den Weg Frankreichs zu vermeiden. Ein lehrreicher Ausspruch, über den nachzudenken sich sehr, sehr verlohnt.

Worin besteht der Hauptunterschied zwischen den beiden Wegen? Darin, dass die bürgerlich-demokratische Umwälzung, die 1789 von Frankreich, 1848 von Deutschland verwirklicht wurde, dort vollendet wurde, hier aber nicht; im ersten Falle ging die Umwälzung bis zur Republik und zur vollen Freiheit, im zweiten machte sie Halt, ohne die Monarchie und die Reaktion gebrochen zu haben. Im zweiten Falle vollzog sich die Umwälzung hauptsächlich unter der Führung der liberalen Bourgeois, die die nicht genügend gefestigte Arbeiterklasse im Schlepptau führten; im ersten Falle wurde sie, wenn auch nur zu einem gewissen Teil, von der aktiv-revolutionären Volksmasse, den Arbeitern und Bauern durchgeführt, die, wenn auch nur zeitweise, die solide und gemäßigte Bourgeoisie beiseite geschoben hatten. Im zweiten Falle kam es rasch zur „Beruhigung" des Landes, d.h. zur Unterdrückung des revolutionären Volkes und zum Siege des „Urjadniks und des Wachtmeisters"; im ersten Falle kam es für einen gewissen Zeitraum zu einer Herrschaft des revolutionären Volkes, das den Widerstand der „Urjadniks und Wachtmeister" niedertrat.

Und da tritt nun ein gelehrter Lakai der russischen Bourgeoisie in dem „geschätzten" liberalen Organ mit einer Warnung vor dem ersten, dem „französischen" Wege hervor. Der gelehrte Historiker wünscht den „deutschen" Weg und sagt dies offen. Er weiß sehr gut, dass der deutsche Weg um den bewaffneten Volksaufstand nicht herumgekommen ist. In den Jahren 1848 und 1849 gab es in Deutschland eine ganze Reihe Aufstände und sogar provisorischer revolutionärer Regierungen. Keiner dieser Aufstände war jedoch völlig siegreich. Der erfolgreichste Aufstand, der Berliner Aufstand vom 18. März 1848, endete nicht mit dem Sturz der Königsmacht, sondern mit Zugeständnissen des an der Macht gebliebenen Königs, der sich von der Teilniederlage sehr rasch zu erholen und alle diese Zugeständnisse zurückzunehmen vermochte.

Also der gelehrte Historiker der Bourgeoisie fürchtet sich nicht vor Volksaufständen. Er fürchtet den Sieg des Volkes. Er fürchtet sich nicht, wenn das Volk der Reaktion, der Bürokratie, der ihm verhassten Bürokratie eine leichte Lektion erteilt. Er fürchtet den Sturz der reaktionären Macht durch das Volk. Er hasst den Absolutismus und wünscht von ganzem Herzen seinen Sturz, aber den Untergang Russlands erwartet er nicht von der Erhaltung des Absolutismus, nicht von der Vergiftung des Volksorganismus durch das langsame Verfaulen des nicht abgetöteten Parasiten der monarchistischen Regierungsmacht, sondern von dem vollen Siege des Volkes.

Er weiß es, dieser Mann der Dreigroschen-Wissenschaft, dass die Revolutionszeit eine Zeit des Anschauungsunterrichts für das Volk ist; und weil er keinen Anschauungsunterricht über das Thema Vernichtung der Reaktion will, schreckt er uns mit dem Anschauungsunterricht über das Thema Vernichtung der Revolution. Mehr als das Feuer fürchtet er den Weg, auf dem die Revolution, wenn auch nur für kurze Zeit, einen vollen Sieg erringen könnte, und er ersehnt aus vollem Herzen einen Ausgang in der Art des deutschen, wo die Reaktion auf eine lange, lange Periode einen völligen Sieg errang.

Er begrüßt nicht die Revolution in Russland, sondern er bemüht sich nur, ihre Schuld zu mildern. Er wünscht keine siegreiche, sondern eine misslungene Revolution. Er betrachtet die Reaktion als eine gesetz- und rechtmäßige, natürliche und dauerhafte, zuverlässige und vernünftige Erscheinung. Er betrachtet die Revolution als eine ungesetzmäßige, phantastische, unrechtmäßige Erscheinung, die bestenfalls durch die Unbeständigkeit, die „Schwäche" und das „Unvermögen" der absolutistischen Regierung bis zu einem gewissen Grade gerechtfertigt werden kann. Dieser „objektive" Historiker betrachtet die Revolution nicht als das allergesetzmäßigste Recht des Volkes, sondern als eine sündhafte und gefährliche Methode, die Ausschreitungen der Reaktion zu korrigieren. Für ihn ist eine Revolution, die den vollen Sieg errungen hat, „Anarchie", die Reaktion, die den vollen Sieg errungen hat, aber keine Anarchie, sondern nur eine kleine Übertreibung gewisser notwendiger Staatsfunktionen. Er kennt keine andere „Macht" als die monarchistische, keine andere „Ordnung" und keine andere „Gesellschaftliche Organisation" als die bürgerliche. Von jenen europäischen Kräften, denen die Revolution in Russland „die Aussicht eröffnet, die Rolle der Vorsehung zu spielen", kennt er nur den „deutschen Wachtmeister", den deutschen sozialdemokratischen Arbeiter dagegen kennt er nicht und will er nicht kennen. Am meisten zuwider ist ihm der „Hochmut" jener, die die „westliche Bourgeoisie zu überholen suchen". (Der Herr Professor schreibt das Wort Bourgeoisie in ironischen Anführungszeichen: haben die aber einen blöden Ausdruck aufgebracht zur Bezeichnung der europäischen, der eu-ro-pä-i-schen Kultur!) Gutmütig verschließt dieser „objektive Historiker" die Augen vor der Tatsache, dass gerade infolge des uralten absolutistischen Scheusals in Russland Europa schon seit vielen Jahrzehnten in politischer Hinsicht stillsteht oder sich rückwärts bewegt. Er fürchtet den Anschauungsunterricht des „neu zu Kräften gekommenen Urjadniks" und daher warnt er – welch ein Volksführer! Welch ein führender Politiker! – am meisten vor einer entschlossenen Zertrümmerung aller „Kräfte" des modernen Polizisten. Welch verächtliche, knechtselige Figur! Welch ein abscheulicher Verrat an der Revolution unter dem Vorwand einer angeblich gelehrten und angeblich objektiven Untersuchung der Frage! Man kratze den Russen und zum Vorschein kommt der Tatar, pflegte Napoleon zu sagen. Man kratze einen russischen liberalen Bourgeois, sagen wir, und zum Vorschein kommt ein Polizist in nagelneuer Uniform, dem man aus der scharfsinnigen, „gelehrten" und „objektiven" Erwägung heraus, dass ihm sonst am Ende der Wunsch kommen könnte, „neu zu Kräften zu kommen", neun Zehntel seiner alten Kräfte belassen hat. Jeder Ideologe der Bourgeoisie ist durch und durch eine Krämerseele; er denkt nicht an die Vernichtung der Kräfte der Reaktion und des „Polizisten", sondern daran, diesen Polizisten durch einen möglichst schnellen Schacher zu bestechen, zu schmieren und zu erweichen.

Wie unübertrefflich bestätigt dieser überaus gelehrte Ideologe der Bourgeoisie alles das, was wir schon mehr als einmal im „Proletarij" über das Wesen und den Charakter des russischen Liberalismus gesagt haben! Im Gegensatz zur europäischen Bourgeoisie, die zu ihrer Zeit revolutionär war und erst nach Jahrzehnten auf die Seite der Reaktion überging, überspringen unsere einheimischen Weisen oder wollen sie die Revolution überspringen und zu einer gemäßigten und akkuraten Herrschaft der reaktionären Bourgeoisie gelangen. Die Bourgeoisie will und kann aus ihrer Klassenlage heraus die Revolution nicht herbeiwünschen. Sie will nur einen Schacher mit der Monarchie gegen das revolutionäre Volk, sie will sich nur hinter dem Rücken dieses Volkes die Macht erschleichen.

Welch eine lehrreiche Lektion erteilt dieser Weise der liberalen Bourgeoisie jenen Doktrinären der Sozialdemokratie, die sich bis zu der folgenden Resolution verstiegen haben, die von den kaukasischen Neu-Iskristen angenommen und von der „Iskra"-Redaktion in einem Extrablatt besonders gebilligt wurde. Diese Resolution ist (zusammen mit der Billigung durch die „Iskra") vollständig in der Broschüre von N. Lenin: „Zwei Taktiken" (S. 68–69), abgedruckt. Da sie aber den Genossen in Russland wenig bekannt ist, weil die Redaktion der „Iskra" selbst nicht das Verlangen verspürte, in ihrer Zeitung diese nach ihrer Ansicht „überaus geglückte" Resolution nachzudrucken, so geben wir sie hier zur Belehrung aller Sozialdemokraten und zur Beschämung der „Iskra" vollständig wieder:

Da die Konferenz (die kaukasische Konferenz der Neu-Iskristen) es für ihre Aufgabe hält, den revolutionären Moment zur Vertiefung des sozialdemokratischen Bewusstseins des Proletariats auszunutzen, und da sie das Ziel verfolgt, der Partei die absolute Freiheit der Kritik an dem entscheidenden bürgerlich-staatlichen Regime zu sichern, spricht sie sich gegen die Bildung einer sozialdemokratischen provisorischen Regierung und gegen den Eintritt in eine solche Regierung aus und hält es für das Zweckmäßigste, auf die bürgerliche provisorische Regierung einen Druck von außen auszuüben zwecks einer ihren Kräften angemessenen Demokratisierung des staatlichen Regimes. Die Konferenz glaubt, dass die Bildung einer provisorischen Regierung durch die Sozialdemokraten oder der Eintritt in dieselbe einerseits zum Abfall breiter Massen des Proletariats von der sozialdemokratischen Partei führen würde, die von ihr enttäuscht wären, da die Sozialdemokratie, ungeachtet der Machteroberung, vor der Verwirklichung des Sozialismus nicht imstande sein wird, die dringenden Bedürfnisse der Arbeiterklasse zu befriedigen, anderseits aber die bürgerlichen Klassen veranlassen würde, von der Revolution abzuschwenken, wodurch ihr Schwung vermindert würde."

Das ist eine schmachvolle Resolution, denn sie drückt (gegen den Willen und die Erkenntnis ihrer Verfasser, die die schiefe Ebene des Opportunismus betreten haben) den Verrat der Interessen der Arbeiterklasse an die Bourgeoisie aus. Diese Resolution gibt ihren Segen zu der Umwandlung des Proletariats in ein Anhängsel der Bourgeoisie für die Zeit der demokratischen Revolution. Es genügt, diese Resolution neben das oben angeführte Zitat aus dem Artikel des Herrn Winogradow zu setzen (und ähnliche Zitate findet jeder zu Hunderten und Tausenden in der liberalen Publizistik), um zu erkennen, in welchen Sumpf die Neu-Iskristen geraten sind. Herr Winogradow, dieser typischste Ideologe der Bourgeoisie, ist ja von der Sache der Revolution bereits abgeschwenkt. Hat er dadurch nicht den „Schwung der Revolution" geschwächt, ihr Herren Neu-Iskristen? Müsstet ihr nicht mit einem Schuldbekenntnis zu den Herren Winogradow gehen und sie um den Preis eures Verzichts auf die Führung in der Revolution anflehen, „von der Sache der Revolution nicht abzuschwenken"?

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