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Zentralkomitee der SDAPR 19051031 An das russische Volk

ZK der SDAPR: An das russische Volk

Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands

[Nach Lenin, Sämtliche Werke, Band 8, Wien-Berlin 1931, S. 595-598]

Proletarier aller Länder, vereinigt euch!

Bürger!

Das kämpfende Proletariat Russlands hat gesiegt. Ein in der Geschichte noch nie dagewesener Streik von Millionen Arbeitern hat das ganze öffentliche Leben des Landes zum Stillstand gebracht und der durch den neun Monate währenden verzweifelten Kampf des revolutionären Volkes erschütterte Absolutismus hat sich für besiegt erklärt. Der Zar der Kugeln und der Knute, der Zar der Kerker und der Galgen, der Zar der Spitzel und Henker hat das Manifest über die Verfassung, über die Volksrechte unterschrieben.

Dieser Sieg ist um einen hohen Preis, ist mit dem Blute und dem Hunger des revolutionären Volkes erkauft worden. Möge nun das Volk, wenn es seinen Sieg feiert, ihn auch richtig einschätzen, um ihn vernünftig auszunützen.

Der Zar spricht von Freiheit, von Bürgerrechten, von der Teilnahme des Volkes an der Verwaltung des Landes. Darf man dem Zaren glauben?

Nein! Der Erbfeind des Volkes, der durch die Kraft des Volkes besiegt worden ist, kann nicht sein Freund geworden sein. Voller Lüge und Heuchelei, voller Winkelzüge und Fallen sind die Versprechen des Zaren und seines Lenkers – des Ministers Witte.

Das Volk braucht eine Volksregierung. Sie muss vom Volke selbst und von seiner auf Grund des allgemeinen, direkten und gleichen Wahlrechts bei geheimer Stimmenabgabe gewählten konstituierenden Versammlung festgelegt werden. Was aber gibt der Zar?

In seine Reichsduma – die Duma der Grundherren, Kapitalisten und Kulaken – verspricht er, „nach Möglichkeit" die Gewählten auch des übrigen Volkes zuzulassen. Ist es das, was uns nottut? Nein! Es ist klar, was das bedeutet. Der Zar will seinen Freunden in der Duma die Mehrheit verschaffen, er will, dass das Volk in der Duma eine ohnmächtige Minderheit bilde.

Der Zar beruft sich auf die Kürze der Frist bis zur Einberufung der Duma; er tut so, als wenn ihm keine Zeit geblieben wäre, sie besser umzugestalten. Eine offenkundige Lüge! Viel rascher und leichter ist es, Wahlen auf Grund der allgemeinen Volksabstimmung durchzuführen, als auf Grund sinnloser Umfragen und Überprüfungen, wer Land und Geld und wie viel er davon zur Erreichung des Wahlzensus hat, und auf Grund umständlicher Wahlen von Bevollmächtigten durch die Wähler, von Wahlmännern durch die Bevollmächtigten und von Abgeordneten durch die Wahlmänner. Der Zar will in der Duma einfach „nach Möglichkeit" wenig Vertreter des Volkes haben.

Dieser Duma übergibt der Zar einen Teil seiner gesetzgebenden Gewalt, ihr vertraut er die Aufsicht über die Beamten an, sie soll ein neues Wahlrecht ausarbeiten. Kann denn das Volk glauben, dass diese Duma, in der die oberen Klassen die Mehrheit haben und das Volk in der Minderheit ist, solche Gesetze schaffen, eine solche Aufsicht über die Beamten ausüben und ein solches Wahlrecht geben wird, wie es das Volk braucht? Die Antwort ist klar: Nein, eine solche Duma wird alles tun, um den oberen Klassen möglichst viel und dem Volke möglichst wenig Macht und Recht zu geben.

Der Zar verspricht den Bürgern Rede-, Gewissens-, Versammlungs-, Koalitionsfreiheit und die Unverletzlichkeit der Person … Aber schon fügt der Minister in seinem Referat hinzu, dass es notwendig sei, diese bürgerliche Freiheit so weit einzuschränken, als dies für die Ordnung und Ruhe erforderlich sei, und sie allmählich einzuführen, weil das Volk sie angeblich „nicht gewöhnt" ist. Aber „zum Zwecke der Ruhe und Ordnung" haben der Zar und seine Diener ja auch bisher „die Freiheit" durch ihre Bajonette und Knuten „eingeschränkt", an die sich das Volk, wie sie offenbar meinen, vollkommen „gewöhnt" hat. Wie weit werden sie denn jetzt die „Freiheit einschränken"? Die Antwort ist klar: So weit wie möglich, so weit die Macht es erlauben wird.

In Russland herrscht noch die Ständeordnung, die dem Adel das erste Recht, den Kaufleuten das zweite Recht verleiht und den Arbeitern und Bauern erst in dritter Linie ein, oder besser gesagt, gar kein Recht gibt. Dieses System ist für die vom Volke gehassten Grundherren und Kapitalisten von Vorteil. Weder der Zar noch der Minister sprechen auch nur ein Wort über die Abschaffung der Ständeordnung. Warum? Die Antwort ist klar: Sie wollen sie aufrechterhalten.

Tausende Kämpfer für die Freiheit, für die Volkssache schmachten in den Kerkern und in der Verbannung. Der Zar spricht mit keinem Wort von ihrer Befreiung. Und der Minister spricht nur davon, dass er denen, die für die Ordnung gefährlich sind, „entgegenwirken" werde. Aber als gefährlich für die Ordnung betrachten der Zar und seine Diener alle, die für die Freiheit kämpfen, alle aufgeklärten Arbeiter und Bauern, alle Sozialdemokraten und anderen Revolutionäre. Was bedeuten das Schweigen des Zaren und die Drohung des Ministers? Die Antwort ist klar: Sie wollen auch in Zukunft alle, die für die Sache des Volkes wirken, alle Kämpfer für die Volksinteressen im Kerker und in der Verbannung festhalten.

Der Zar und der Minister lügen und heucheln, und man darf ihnen nicht glauben. Sie wollen das Volk durch eine papierne Verfassung beruhigen und ihm stillschweigend alles nehmen, was sie ihm versprochen haben. Sie wollen sich mit den oberen Klassen verständigen und die militärische Macht bereithalten, um gemeinschaftlich das Volk zu unterdrücken.

Ein Sieg ist errungen. Aber das ist noch wenig. Um dem Volke die erkämpften Rechte zu sichern und neue zu erkämpfen, genügen nicht papierne Versprechungen, sondern nur wirkliche Sicherungen und verlässliche Garantien.

Die erste Garantie ist die sofortige Bewaffnung des Volkes, die sofortige Aufhebung des Belagerungszustandes und der verstärkten Schutzmaßnahmen in allen Städten und Orten, wo sie verhängt wurden; sofortige Entfernung des Militärs aus diesen Orten, Entlassung und gerichtliche Verfolgung aller Beamten, die sich dem Volke gegenüber Gewalttaten, Räuberei und Blutvergießen zuschulden kommen ließen. Das ist eine Garantie dafür, dass die Volksfreiheit und die Volksrechte nicht mit Gewalt wieder weggenommen werden.

Die zweite Garantie ist die sofortige Einberufung einer konstituierenden Versammlung, einer auf Grund des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts gewählten Volksvertretung, die mit der ganzen Fülle der Macht zur Aufrichtung der neuen Ordnung ausgestattet werden muss. Das ist eine Garantie dafür, dass die neue Ordnung im Interesse des Volkes durch das Volk selbst geschaffen werden wird.

Die dritte Garantie ist die Abschaffung der Ständeordnung. Das ist die Garantie einer wirklichen Gleichberechtigung der Bürger und einer wirklichen Wahlfreiheit.

Die vierte Garantie ist der Achtstundentag für alle Arbeiter. Das ist die Garantie dafür, dass die Arbeiterklasse, die durch ihren aufopferungsvollen Kampf den alten Absolutismus gestürzt und den Grund zur Freiheit gelegt hat, Zeit und Möglichkeit haben wird, am politischen Kampfe und an der politischen Arbeit im Lande wirklich teilzunehmen.

Die fünfte Garantie ist die sofortige und volle Amnestie für alle politischen Verbannten und Gefangenen. Das ist die Garantie dafür, dass der Kampf für die Volksfreiheit künftighin nicht mehr als Verbrechen betrachtet werden kann.

Genossen! Diese Garantien müssen unbedingt erkämpft werden. Und so lange sie nicht errungen sind, muss der Kampf fortgesetzt werden.

Genossen! Der Streik ist noch notwendig, er ist notwendig, um den Feinden zu zeigen, dass man uns nicht mit einem Stück Papier beruhigen kann, dass ihr wirkliche Rechte und wirkliche Macht verlangt. Der Streik ist auch deshalb notwendig, damit ihr jetzt, wo ihr die Freiheit habt, in Versammlungen und Meetings über eure Lage und eure Forderungen, über eure Kräfte und eure Kampfmittel, über die Dauer des Streiks und seine Beendigung beraten könnt. Ihr müsst euch verständigen, um einmütig zu kämpfen, um gemeinsam zu streiken und den Streik gemeinsam zu beenden. In der Einheit des Handelns liegt unsere Kraft!

Arbeiter! Genossen! Um eine politische Macht zu sein, muss sich die Arbeiterklasse in einer Arbeiterpartei organisieren. Diese Partei ist die Sozialdemokratie.

Die Sozialdemokratie führt den Kampf für die Freiheit und für eine bessere Zukunft der Arbeiterklasse und der ganzen Menschheit. Sie fordert euch auf, der zaristischen Regierung nicht zu glauben und euch zu bewaffnen, um die Freiheit mit Gewalt zu verteidigen, weil eine zaristische Regierung keine wirkliche Freiheit geben kann. Die Sozialdemokratie stellt als das erste Ziel der russischen Revolution die wirkliche Volksregierung, die demokratische Republik und den achtstündigen Arbeitstag auf. Sie ruft die Arbeiterklasse auf, alles dies zu erkämpfen, um den weiteren Kampf für ihr höheres Ziel führen zu können. Dieses Ziel ist die Beseitigung jeder Unterdrückung und jeder Ausbeutung und die Übergabe des gesamten Bodens, aller Fabriken und Betriebe, aller Produktionsmittel in den öffentlichen Besitz des werktätigen Volkes. Das ist das Ideal der Arbeiterpartei, das sozialistische Ideal.

Genossen! Bisher gehörten die am meisten Aufgeklärten unter euch der Sozialdemokratischen Partei im Geheimen an. Jetzt müsst ihr euch auf die erkämpfte Freiheit stützen und offen in ihre Reihen eintreten, und möge ihr rotes Banner euch von Sieg zu Sieg führen!

Es lebe die demokratische Republik und der Kampf für den Sozialismus!

Es lebe die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands!

Es lebe die große russische Revolution!

18./31. Oktober 1905

Zentralkomitee der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands

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