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Wladimir I. Lenin 19061206 Der Kampf gegen die kadettisierenden Sozialdemokraten und die Parteidisziplin

Wladimir I. Lenin: Der Kampf gegen die kadettisierenden Sozialdemokraten und die Parteidisziplin

[Proletarij" Nr. 8, 6. Dezember (23. November) 1906. Nach Sämtliche Werke, Band 10, Wien-Berlin 1930, S. 229-233]

Die Zulassung von Blocks mit den Kadetten hat die Menschewiki als den opportunistischen Flügel der Arbeiterpartei entlarvt. Gegen die Blocks mit den Kadetten entfalten wir und müssen wir den rücksichtslosesten ideologischen Kampf auf breitester Grundlage entfalten. Dieser Kampf wird die Massen des revolutionären Proletariats, die in unserer selbständigen Wahlkampagne (nicht nur in Worten, sondern auch in der Tat, d. h. ohne Blocks mit den Kadetten) neues Material für die Entwicklung ihres Klassenbewusstseins erhalten, aufs Beste erziehen und zusammenschweißen.

Es entsteht die Frage, wie dieser rücksichtslose ideologische Kampf mit der Parteidisziplin des Proletariats zu vereinbaren ist. Diese Frage muss offen gestellt werden, und dabei muss sofort volle Klarheit über sie geschaffen werden, damit es in der praktischen Politik der revolutionären Sozialdemokratie keine Missverständnisse und keine Schwankungen gebe.

Untersuchen wir zunächst die grundsätzliche und dann die praktische Seite dieser Frage, die jedermann unmittelbar interessiert.

Grundsätzlich haben wir schon mehr als einmal unsere Ansicht über die Bedeutung der Disziplin und den Begriff Disziplin in der Arbeiterpartei festgelegt. Einheit der Aktion, Freiheit der Erörterung und der Kritik, – so lautet unsere Definition. Nur eine solche Disziplin ist der demokratischen Partei der vorgeschrittenen Klasse würdig. Die Kraft der Arbeiterklasse ist die Organisation. Ohne Organisation der Massen ist das Proletariat nichts. Organisiert ist es alles. Organisiertheit ist Einheit der Aktion, ist Einheit des praktischen Auftretens. Selbstverständlich sind aber alle Aktionen und alles öffentliche Auftreten nur deshalb und nur insoweit von Wert, als sie das Proletariat vorwärts bringen und nicht zurückwerfen, als sie es ideologisch zusammenschweißen, es heben und nicht herabdrücken, nicht korrumpieren, nicht schwächen. Organisation ohne ideologischen Inhalt ist ein Unsinn, der die Arbeiter in der Wirklichkeit in traurige Nachläufer der machthabenden Bourgeoisie verwandelt. Deshalb erkennt das Proletariat keine Einheit der Aktion ohne Freiheit der Erörterung und der Kritik an. Deshalb dürfen klassenbewusste Arbeiter niemals vergessen, dass es solche ernste Verletzungen der Grundsätze gibt, die den Bruch aller organisatorischen Beziehungen zur Pflicht machen.

Damit nicht irgendein Revolverjournalist meine Worte entstelle, werde ich sofort von der allgemeinen zur konkreten Behandlung der Frage übergehen. Wenn Sozialdemokraten Blocks mit den Kadetten zulassen, – erfordert das nicht den völligen Bruch der organisatorischen Beziehungen, d. h. die Spaltung? Wir glauben, dass das nicht der Fall ist, und alle Bolschewiki denken so. Erstens betreten die Menschewiki den Weg des praktischen Opportunismus en grand1 einstweilen unentschlossen und unsicher. Die Tinte ist noch nicht trocken geworden, mit der Martow schrieb, dass er von Tscherewanin abrücke, der sich für die Zulassung von Blocks mit den Kadetten erklärt hatte. Martow schrieb das zu einer Zeit, als die Kadettenparole noch nicht aus Genf eingetroffen war.2 Zweitens, und das ist noch viel wichtiger, ist die objektive Situation des proletarischen Kampfes in Russland gegenwärtig eine solche, dass sie mit unwiderstehlicher Kraft zu bestimmten entscheidenden Schritten treibt. Ob die Revolution zu einem großen Aufschwung (wie wir annahmen) oder zu völligem Zusammenbruch (was gewisse Sozialdemokraten annehmen, obwohl sie fürchten, es zu sagen) schreitet, – in beiden Fällen wird die Taktik der Blocks mit den Kadetten unvermeidlich, und zwar in sehr kurzer Zeit, zusammenbrechen. Ohne nervös zu werden, wie die Intellektuellen, sind wir deshalb verpflichtet, jetzt die Einheit der Partei aufrechtzuerhalten, wobei wir uns auf die Festigkeit des revolutionären Proletariats, auf seinen gesunden Klasseninstinkt verlassen. Drittens verpflichtet schließlich in der gegenwärtigen Wahlkampagne der Beschluss der Menschewiki und des ZK zugunsten von Blocks die örtlichen Organisationen praktisch zu nichts und zwingt unserer Partei als Ganzes diese schmähliche Taktik der Blocks mit den Kadetten nicht auf.

Jetzt zur konkreten Behandlung der Frage. Inwieweit sind die Beschlüsse der allrussischen Konferenz der SDAPR und die Anweisungen des ZK verbindlich? Und inwieweit sind die örtlichen Organisationen der Partei autonom?

Diese Fragen hätten unzweifelhaft endlose Streitereien in unserer Partei hervorgerufen, wenn die Konferenz selbst sie nicht entschieden hätte. Alle Konferenzteilnehmer waren sich darüber einig, dass die Beschlüsse der Konferenz nicht bindend sind und niemand eine Verpflichtung auferlegen, weil die Konferenz eine beratende und nicht eine beschließende Körperschaft ist. Die Delegierten wurden nicht auf demokratischem Wege gewählt, sondern vom Zentralkomitee nach seinem Ermessen und in einer von ihm festgesetzten Anzahl bestimmten Organisationen entnommen. Deshalb haben die Bolschewiki, die Letten und die Polen auf der Konferenz keine Zeit damit verloren, die menschewistische Resolution über die Blocks umzuarbeiten, Kompromisse auszuarbeiten (wie die Anerkennung der Richtigkeit des Boykotts neben der Zulassung von Blocks mit der monarchistischen Bourgeoisie!), sondern haben ihre eigene Plattform, ihre eigenen Losungen, ihre eigene Wahltaktik der menschewistischen Resolution direkt entgegengestellt. Gerade ein solches Verhalten der Bolschewiki war auf der beratenden Konferenz unbedingt notwendig, die den Parteitag nicht ersetzen, sondern vorbereiten, die Frage nicht entscheiden, sondern sie klarer und deutlicher formulieren und den innerparteilichen Kampf nicht abschließen, nicht verwischen, sondern in eine bestimmte Richtung leiten, ihn in höherem Maße zu einem einheitlichen und ideologischen Kampf machen sollte.

Gehen wir weiter. Die Beschlüsse der Konferenz werden (mit diesen oder jenen Änderungen) zu Direktiven des ZK. Direktiven des ZK sind für die ganze Partei verbindlich. In welchen Grenzen sind sie in der gegebenen Frage verbindlich?

Selbstverständlich in den Grenzen der Parteitagsbeschlüsse und in den Grenzen der vom Parteitag anerkannten Autonomie der örtlichen Parteiorganisationen. Über diese Grenzen könnte es wiederum endlose und nicht zu schlichtende Streitereien geben (denn die Resolution des Vereinigungsparteitages verbietet alle Wahlblocks mit bürgerlichen Parteien), wenn die Konferenz mit Einverständnis sowohl der Menschewiki als auch der Bolschewiki und der Mitglieder des ZK nicht eine ihrer am wenigsten kautschukartigen Resolutionen angenommen hätte. Das Fehlen von fraktionsmäßigen Trennungen bei der Abstimmung über diese Resolution ist ein wichtiges Unterpfand für die Einheit und Kampffähigkeit der Arbeiterpartei.

Hier der Text dieser Resolution:

Die Konferenz spricht ihre Überzeugung aus, dass im Rahmen ein und derselben Organisation alle ihre Mitglieder verpflichtet sind, alle die Wahlkampagne betreffenden Beschlüsse, die von den kompetenten Körperschaften der örtlichen Organisation angenommen sind, im Rahmen der allgemeinen Direktiven des ZK durchzuführen, wobei das ZK den örtlichen Organisationen verbieten kann, nicht rein sozialdemokratische Listen aufzustellen, aber sie nicht verpflichten soll, nicht rein sozialdemokratische Listen aufzustellen."

Die von uns unterstrichenen Stellen räumen endlose Streitereien aus dem Wege und hoffentlich auch unerwünschte und gefährliche Reibungen. Die allgemeinen Direktiven des ZK können nicht über die Anerkennung der Zulässigkeit von Blocks mit den Kadetten hinausgehen. Alle Sozialdemokraten ohne Unterschied der Fraktion haben hierbei erklärt, dass Blocks mit den Kadetten trotz alledem nicht sehr anständig sind, denn wir alle haben es dem ZK freigestellt, Blocks zu verbieten, nicht aber sie vorzuschreiben.

Der Schluss, der sich hieraus ergibt, ist klar. Der Partei liegen zwei Plattformen vor. Die eine ist die Plattform von 18 Delegierten der Konferenz (Menschewiki und Bundisten). Die andere ist die Plattform von 14 Delegierten (Bolschewiki, Polen und Letten). Die kompetenten Körperschaften der örtlichen Organisationen können nach freiem Ermessen diese Plattformen wählen, ändern, ergänzen oder durch neue Plattformen ersetzen. Nach einem Beschluss der kompetenten Körperschaften werden wir alle, die wir Parteimitglieder sind, wie ein Mann handeln. Der Bolschewik in Odessa muss einen Zettel mit dem Namen der Kadetten in die Urne legen, wenngleich ihm dabei auch übel werden mag. Der Menschewik in Moskau muss einen Zettel, der nur Namen von Sozialdemokraten trägt, in die Urne legen, wenn seine Seele sich auch nach den Kadetten sehnen mag.

Aber die Wahlen werden noch nicht morgen stattfinden. Mögen sich also alle revolutionären Sozialdemokraten fester zusammenschließen und den breitesten, rücksichtslosesten ideologischen Kampf gegen die Blocks mit den Kadetten entfalten, die die Revolution hemmen, den proletarischen Klassenkampf schwächen, das staatsbürgerliche Bewusstsein der Massen korrumpieren!

1 Im Großen. Die Red.

2 Lenin bezieht sich auf den Brief G. Plechanows in Nr. 101 des „Towarischtsch" vom 13. November (31. Oktober) 1906, nach welchem das menschewistische Zentralkomitee sich für die Zulassung von Blocks mit den bürgerlichen Parteien im ersten Stadium der Wahlen zur Duma ausgesprochen hat.

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