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Wladimir I. Lenin 19061123 Nachschrift zu dem Artikel: „Die Sozialdemokratie und die Wahlkampagne"

Wladimir I. Lenin: Nachschrift zu dem Artikel: „Die Sozialdemokratie und die Wahlkampagne"1

[Proletarij" Nr. 7, 23. (10.) November 1906. Nach Sämtliche Werke, Band 10, Wien-Berlin 1930, S. 202-204]

Dieser Artikel war bereits geschrieben, als in der Zeitung „Towarischtsch" G. V. Plechanows „Offener Brief an die klassenbewussten Arbeiter" erschien. In diesem Brief „manövriert" Plechanow zwischen dem linken Flügel der Bourgeoisie und dem rechten Flügel der Sozialdemokratie und bricht endgültig sowohl mit den Grundsätzen der internationalen revolutionären Sozialdemokratie als auch mit den Beschlüssen des Vereinigungs-Parteitages. Der Parteitag hat formell alle Blocks mit bürgerlichen Parteien verboten. Der klassenbewusste, organisierte Proletarier bezeichnet in seinen Parteiversammlungen alle Blocks mit der Bourgeoisie als „Verrat an der Sache des Proletariats"; L. Martow nimmt in seinem Artikel im „Towarischtsch" und in seinem Brief an die Parteiorganisationen einen bolschewistischen, d. h. einen konsequent revolutionären Standpunkt ein und spricht sich entschieden gegen alle Blocks auf der ersten Stufe der Wahlen aus. „In der ersten Frage („Blocks" oder Abkommen im Verlauf der Wahlen) – schreibt Martow – würde ich empfehlen, gestützt auf die Resolution des Parteitages auf der ersten Stufe der Wahlen, d. h. dort, wo wir vor den Massen auftreten, in unserer Wahlkampagne völlige Selbständigkeit zu wahren." Diesen Standpunkt hält Plechanow für den Ausdruck einer „falsch verstandenen Unversöhnlichkeit". „Dort, wo wir nicht vom Siege unseres Kandidaten überzeugt sein können – sagt Plechanow –, sind wir verpflichtet, Abkommen mit anderen Parteien zu treffen, die gegen unsere alte Ordnung zu kämpfen wünschen."* Plechanow hält also entgegen dem Beschluss des Parteitages Vereinbarungen mit bürgerlichen Parteien für zulässig, sieht jedoch in seiner „politischen Weisheit" Fälle voraus, in denen wir solche Vereinbarungen nicht zu treffen brauchen. „Dort – schreibt er –, wo es keinem Zweifel unterliegt, dass es uns gelingen wird, unsern eigenen Kandidaten durchzubringen*, können und müssen wir unabhängig von anderen Parteien handeln." Eine erstaunliche „politische Weisheit"! Wo wir überzeugt sind, dass wir selbst unsern eigenen Kandidaten durchbringen, dort werden wir ihn selbst durchbringen. Wo wir nicht davon überzeugt sind, dort wenden wir uns um Hilfe an „diejenigen, die gegen die alte Ordnung zu kämpfen wünschen", oder dort helfen wir diesen „Wünschenden", ihren Kandidaten durchzubringen. Werden aber diejenigen, „die zu kämpfen wünschen", dort, wo sie überzeugt sind, dass sie selbst ihre Kandidaten durchbringen – was glauben Sie, o Mitarbeiter der Kadettenzeitungen, Plechanow –, Vereinbarungen mit uns treffen wollen? Wenn jedoch schon von Abkommen die Rede ist, so ist es jedem politischen Säugling klar, dass man Abkommen nur in solchen Fällen braucht, wo eine Partei nicht davon überzeugt ist, dass sie ihre Kandidaten mit eigenen Kräften durchbringt. Wir sind jedoch auch in solchen Fällen gegen jegliche Abkommen. G. V. Plechanow aber, als wahrer Ritter der Freiheit, schlägt im Kadetten-„Towarischtsch" Alarm und ruft alle, „die zu kämpfen wünschen" … Bitte schön, alle, „die ihr wünscht"! Das Proletariat kämpft, ihr „wünscht" zu kämpfen! Ausgezeichnet… und wenn das dem Proletarier nicht genügt, dann ist er natürlich ein „Feind der Freiheit".

So sinkt allmählich Stufe um Stufe der von den Kadetten geliebte Führer der Menschewiki zu … Tscherewanin herab, wobei er vergisst, was er nach der Auflösung der Duma gesagt hat Plechanow wendet sich mit der „Schnelligkeit, Wucht und dem Augenmaß", die ihm eigen sind, den Rechtesten von unserm rechten Flügel zu. Weit zurück bleibt Martow; kaum Schritt zu halten vermag mit seinem geistigen Führer der „Sozialdemokrat". Weiter schlägt uns das Organ des Zentralkomitees nach langen Erörterungen über den Klassencharakter unserer Wahlkampagne ein verwickeltes System von Abkommen vor und baut eine Leiter, auf der die Sozialdemokratie zu den Kadetten herabsteigen soll. Zuerst schlägt der „Sozialdemokrat"2 eine selbständige, d. h. eine Klassenaktion dort vor, wo wir Aussichten auf Erfolg haben! Wenn wir keine Aussichten auf Erfolg haben, vereinigen wir uns mit bürgerlichen Parteien, „die zusammen mit uns die Einberufung der Konstituante erstreben"; wenn diese Parteien nicht die Konstituante wollen, um so schlimmer – (das ist die letzte, dritte, gegen die Klasse und gegen die Demokratie gerichtete Stufe) – dann werden wir uns trotzdem mit ihnen vereinigen. Wie es das Zentralkomitee, das vom Parteitag zur Durchführung der Beschlüsse des Parteitages gewählt wurde, fertig bringt, diese Beschlüsse zu verletzen, das ist sein Geheimnis. Tatsache bleibt, dass sich gegenwärtig vor uns das für die Sozialdemokratie schmachvollste Schauspiel abspielt, dass in der Redaktion ein und desselben führenden Zentralorgans „der Krebs zurück kriecht" … „der Schwan aber zu den Wolken strebt"3, dass in einer für uns so wichtigen Frage, wie der Frage der Wahltaktik, nicht nur in der Partei, sondern sogar auch in der „führenden" Fraktion weder Einheit des Gedankens noch Einheit des Handelns herrscht. Könnte man sich in irgendeinem Lande außer den alleropportunistischsten Parteien irgendeine sozialistische Partei vorstellen, die eine solche politische Unzucht geduldet hätte? Und das Merkwürdige an der Sache ist, dass gerade diese Krebse, Hechte und Schwäne, diese sich gegenseitig verprügelnden Martow und Plechanow, dass gerade sie die allerverzweifeltste Kampagne gegen die Einberufung des außerordentlichen Parteitags führen, der uns jetzt mehr denn jemals Not tut.

1 Der Verfasser des Artikels „Die Sozialdemokratie und die Wahlkampagne" konnte nicht festgestellt werden.

* Von Plechanow gesperrt.

2 Lenin meint den Leitartikel: „Über die Wahlabkommen" im „Sozialdemokrat" Nr. 5 vom 9. November (27. Oktober) 1906.

3 Aus einer Fabel des Dichters Krylew. Die Red.

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