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Wladimir I. Lenin 19060911 Taktische Schwankungen

Wladimir I. Lenin: Taktische Schwankungen

[Proletarij" Nr. 2, 11. September (29. August) 1906. Nach Sämtliche Werke, Band 10, Wien-Berlin 1930, S. 76-81]

Wir haben Nr. 6 des Plechanowschen „Dnjewnik" erhalten – zwölf kleine Seiten, die in Genf gedruckt sind. Angenehm überrascht hat uns, dass die russische liberale bürgerliche Presse sich diesmal ausnahmsweise einer Lobhudelei Plechanows enthalten hat. Die gewaltsame Auflösung der Duma muss wohl den Optimismus Plechanows zerstört haben – dachten wir, als wir in den liberalen Zeitungen Nachrichten über das Erscheinen der Nr. 6 des „Dnjewnik" ohne die üblichen beipflichtenden Zitate lasen.

Genosse Plechanow verlässt in Nr. 6 des „Dnjewnik" faktisch die Stellung des äußersten rechten Flügels des Menschewismus, die er (zusammen mit Genossen Rachmetjew) während der Duma eingenommen hat. Von dem Bestreben der Menschewiki, die revolutionäre Losung „für die Konstituante" durch den Zusatz: „durch die Duma" und „für die Duma" usw. abzuschwächen, hat er sich vollkommen ferngehalten. Plechanow beweist1 mit Recht, dass die Losung nur die Einberufung der Konstituante sein kann, und kritisiert am Wiborger Manifest mit Recht das Fehlen dieser Losung. Plechanow blieb auch das menschewistische Bestreben vollkommen fremd, die „Aktion" unbedingt mit der Duma zu verbinden, selbst wenn es eine Teilaktion an Stelle einer allgemeinen Aktion, eine sofortige und unvorbereitete an Stelle einer späteren und reiferen Aktion sein sollte. Schließlich passt Plechanow diesmal die Losungen der Sozialdemokratie nicht nur nicht den Kadettenlosungen an, setzt nicht nur nicht die Kadetten der bürgerlichen Demokratie überhaupt gleich, sondern kritisiert im Gegenteil direkt und offen die Halbheiten der Kadetten (deshalb also schweigen die Kadettenzeitungen über Plechanow!), stellt ihnen aufs entschiedenste die „werktätige" Bauernschaft gegenüber.

Das alles freut uns im höchsten Grade. Betrüblich aber ist, dass eine ganze Reihe von taktischen Unklarheiten und taktischen Schwankungen bei Plechanow bestehen bleibt.

Plechanow macht den Verfassern des Wiborger Aufrufes mit Recht den Vorwurf, dass sie sich auf die Aufforderung „beschränkt" haben, die Steuerzahlung zu verweigern und der Einberufung zum Heeresdienst keine Folge zu leisten, dass sie bestrebt sind, den Boden des Gesetzes nicht zu verlassen. Es wäre nötig gewesen, erklärt Plechanow, zu sagen: „Macht euch bereit, denn die Zeit naht". Es wäre nötig gewesen, die Losung der Konstituante aufzustellen.

Steuerstreik usw. aber sind Mittel des Kampfes. Einberufung der Konstituante ist das nächste Ziel des Kampfes. Wenn man den Kadetten ihre Bestrebungen vorwirft, sich nur auf ein Mittel zu beschränken, muss man andere Mittel zeigen und die Voraussetzungen für ihre Anwendung, ihre Bedeutung usw. untersuchen. Diese Frage zu umgehen, wie es Plechanow mit der Bemerkung tut, „jeder Tag hat seine Plage", ist verkehrt. Die Sozialdemokratie ist verpflichtet, das Proletariat nicht nur durch richtige Losungen zu führen, sondern auch durch die Wahl der entschiedensten und zweckmäßigsten Kampfmittel. Die russische Revolution hat uns viele wertvolle Lehren darüber erteilt, dass mit der Erweiterung der Aufgaben des Kampfes, mit dem Wachsen der Masse, die am Kampf teilnimmt, sich auch die Mittel, Verfahren, Methoden des Kampfes ändern und immer entschiedener, immer mehr offensiv werden. Gerade in einem solchen Augenblick wie dem jetzigen gilt es, die Frage der verschiedenen Kampfmittel: des politischen Streiks, des bewaffneten Aufstandes usw., nicht mit Stillschweigen zu übergehen, sondern ganz besonders sorgfältig zu studieren. Diese Fragen stehen auf der Tagesordnung, und mit Recht verlangen die vorgeschrittenen Arbeiter von uns eine Antwort auf sie.

Plechanow untersucht die Frage, inwieweit die Losung Konstituante den Interessen der verschiedenen Klassen entspricht, und unterscheidet dabei drei Klassen. 1. Hinsichtlich des Proletariats steht er fest, dass seine Klasseninteressen völlig mit den allgemeinen Volksinteressen zusammenfallen. 2. Hinsichtlich der „werktätigen Bauernschaft" verzeichnet er die Möglichkeit, dass ihre Interessen unter gewissen Bedingungen nicht mit den allgemeinen Volksinteressen zusammenfallen, betont aber, dass „ihr Klasseninteresse" die Einberufung der Konstituante verlangt. 3. Hinsichtlich „der Schichten, die durch die Partei der Kadetten vertreten werden", stellt Plechanow fest, dass sie durch ihre „Klasseninteressen" gezwungen werden, der Losung der Einberufung der Konstituante mit Misstrauen zu begegnen, wie das ihre „Versöhnung" mit der Handlungsweise der Herren Stolypin, ihre Furcht beweisen wird, ihre Ländereien ohne jede Entschädigung zu verlieren usw. Und Plechanow erklärt, dass „er sich nicht mit Prophezeiungen darüber befassen will", ob bei den Kadetten das Klasseninteresse das allgemeine Volksinteresse überwiegen wird oder umgekehrt.

Man prophezeit die Zukunft, der Verzicht der Kadetten auf die Losung der Konstituante und den revolutionären Kampf für sie ist aber die Gegenwart. Das zu verschweigen, ist nicht nur nutzlos, sondern auch schädlich. Wenn man es aber nicht verschweigt, so muss man offenbar anerkennen: „Das Proletariat muss sich im Verein mit der bewussten werktätigen Bauernschaft gegen die unzuverlässigen und schwankenden Kadetten wenden". Diese taktische Anweisung ergab sich für Plechanow unvermeidlich aus seiner jetzigen Fragestellung.

Er schreibt: „Alle Parteien, die an dieser Bewegung teilnehmen (an dem Kampf für die Konstituante), sollten sich unverzüglich über die gegenseitige Unterstützung in dieser Sache verständigen." Richtig! Welches sind nun diese Parteien? Diejenigen, die weiter links als die Kadetten stehen und als Parteien der revolutionären Bourgeoisie und der kleinbürgerlichen Demokratie bezeichnet werden müssen (denn die Losung der Konstituante ist eine revolutionäre Losung zum Unterschied von der oppositionellen und „loyalen" Losung der Kadetten: „So schnell als möglich eine neue Duma"). Also: Ein Kampfabkommen der Partei des Proletariats mit den Parteien der revolutionären Demokratie.

Das ist es gerade, worauf wir stets bestanden haben. Es bleibt nur zu wünschen übrig, dass Plechanow von nun an diesen Standpunkt folgerichtig vertritt. Ein folgerichtiges Eintreten für diesen Standpunkt aber bedingt als Voraussetzung eines solchen Kampfabkommens nicht nur die Anerkennung der revolutionär-demokratischen Losung (Konstituante), sondern auch die Anerkennung des revolutionären Kampfmittels, für das unsere Bewegung schon reif ist und das sie im Kampf für die Konstituante unweigerlich anwenden muss, d. h. Anerkennung des allgemeinen Volksaufstandes. Wenn man die Losung der Konstituante wirklich erläutern und nicht nur wiederholen will, dann muss man ferner auch die Frage der provisorischen revolutionären Regierung aufwerfen. Plechanow wirft diese Frage nicht auf und zieht somit nicht den richtigen Trennungsstrich zwischen den Interessen der „werktätigen" Bauernschaft und den Klasseninteressen der „Schichten, die durch die Partei der Kadetten vertreten werden". Plechanow wirft diese Frage nicht auf und lässt somit eine klaffende Lücke in unserer Propaganda und Agitation, denn man wird jeden Agitator fragen: wer soll nun nach der Meinung der Arbeiterpartei die Konstituante einberufen?

Die Frage des Aufstandes wie auch die Frage der Kampfmethoden überhaupt übergeht Plechanow, wie wir schon bemerkt haben, ganz mit Unrecht. Er schreibt:

Im gegenwärtigen Augenblick könnte der Aufstand nur eine Explosion der Volksempörung, nur eine Revolte sein, die die Behörden mühelos unterdrücken würden; wir brauchen aber keine Revolten, keine Explosionen, wir brauchen eine siegreiche Revolution."

Ebenso gut hätte Nogi im August 1905 sagen können: „Wir brauchen keine Attacken auf Port Arthur, sondern die Einnahme von Port Arthur." Man kann unzeitgemäße Attacken zeitgemäßen, unvorbereitete vorbereiteten entgegenstellen, aber man kann nicht Attacken überhaupt „der Einnahme" einer Festung entgegenstellen. Das ist ein Fehler. Das heißt die Frage der Methoden der Einnahme der Festung umgehen. Und das ist gerade der Fehler, den Genosse Plechanow begeht.

Entweder spricht er nicht alles aus, was er sagen will, oder die Frage ist ihm selbst nicht klar.

Der Unterschied zwischen einem Demonstrationsstreik und einem Streik, der in den Aufstand übergeht, ist klar. Der Unterschied zwischen „partiellen Massenprotestkundgebungen" und einer allgemeinen Aktion im ganzen Reiche ist klar. Der Unterschied zwischen partiellen und örtlichen Aufständen und einem allgemeinen Aufstand im ganzen Reich, der von allen revolutionären Parteien und Elementen unterstützt wird, ist ebenfalls klar. Wenn ihr Demonstrationen, partielle Protestkundgebungen, partielle Aufstände als „Explosionen" bezeichnet, dann wird euer Gedanke auch klar sein und euer Protest gegen das „Schüren solcher Explosionen" wird durchaus gerechtfertigt sein.

Sagen: „Wir brauchen keine Explosionen, sondern eine siegreiche Revolution", heißt nichts sagen. Ja noch schlimmer: es heißt einer hohlen Phrase den Schein von Bedeutsamkeit verleihen. Es heißt den Leser mit dem Klang einer effektvollen, aber hohlen Phrase betäuben. Es dürfte sehr schwer halten, zwei Revolutionäre zu finden, die nicht damit einverstanden wären – es müsste denn sein, dass sie ihren Verstand verloren haben –, dass wir „keine Explosionen, sondern eine siegreiche Revolution" brauchen. Es dürfte aber gleichzeitig nicht sehr leicht fallen, zwei Revolutionäre, beide bei gesundem Menschenverstand, zu finden, die sich darüber einig wären, welches Kampfmittel in welchem Augenblick keine „Explosion", sondern ein sicherer Schritt zur siegreichen Revolution ist. Plechanow, der mit wichtiger Miene etwas wiederholt, was niemand anzweifelt, und dabei die eigentliche Schwierigkeit der Frage umgeht, kommt nicht sehr weit.

Zum Schluss müssen wir feststellen, dass sich Plechanow selbstverständlich bemüht, im Vorübergehen den Bolschewiki eins „auszuwischen": „Blanquisten sind sie, denn sie haben die Duma boykottiert, ,leichtfertig' sind sie, denn sie haben angeblich" (bis zu der Belehrung, die ihnen Genosse Plechanow in Nr. 6 des „Dnjewnik" erteilt hat) „nicht die Notwendigkeit einer intensiven Arbeit unter den Soldaten erkannt." Es genügt, diese kleinen Sticheleien festzunageln, – eine Antwort auf sie erübrigt sich. Wenn Genosse Plechanow denkt, dass er durch seine jetzige taktische Linie die Menschewiki in unserer Partei stärkt und die Bolschewiki schwächt, so haben wir nichts dagegen, ihn in diesem angenehmen Irrtum zu belassen.

1 Lenin meint den in Nummer 6 des „Tagebuch" erschienenen Artikel von G. V. Plechanow „Gemeinsamer Kummer".

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