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Wiborger Aufruf

Am 9./22. Juli 1906, am Tage nach dem Erscheinen des Ukas über die Auflösung der Reichsduma, reiste eine Gruppe von insgesamt 200 Abgeordneten, konstitutionellen Demokraten, Trudowiki und Sozialdemokraten, nach der Stadt Wiborg in Finnland, um sich darüber schlüssig zu werden, wie auf die Auflösung der Duma reagiert werden müsste. Den Abgeordneten wurde von den Kadetten der Entwurf eines Aufrufes an das Volk vorgelegt. Bei den Sozialdemokraten fand der Entwurf eine geteilte Aufnahme. Die Bolschewiki schlugen zu dem Entwurf der Konstitutionellen Demokraten Abänderungsanträge vor mit der Forderung, dass erstens der Aufruf von der Duma als Institution, nicht aber von den Volksvertreten ausgehen solle und dass zweitens in ihm die Einberufung der Konstituierenden Versammlung gefordert werde. Aber die Menschewiki lehnten diese Abänderungsanträge mit Stimmenmehrheit ab unter dem Vorwand, dass der Aufruf Forderungen enthalten müsse, die nicht nur für die Sozialdemokraten, sondern für alle in Wiborg versammelten Abgeordneten annehmbar sind. Daraufhin schlug der linke Teil der Konferenz – Sozialdemokraten und Trudowiki – geschlossen eine schärfere Form vor, als die von der kadettischen Mehrheit der Konferenz geplante. Schließlich gelangte der Entwurf der Kadetten mit wenigen Abänderungen zur Annahme.

Der Aufruf schlug in der Hauptsache vor, der Regierung gegenüber „passive Resistenz“ zu üben, vor allem keine Steuern zu zahlen und keine Rekruten zu stellen, solange die Regierung nicht die Neuwahlen zur Reichsduma ausgeschrieben habe. Auf der Wiborger Konferenz selbst bildete sich übrigens aus den Konstitutionellen Demokraten, die die Mehrheit von 120 Mann darstellen, eine ziemlich beträchtliche Gruppe, die sich gegen den Aufruf als Ganzes aussprach. Schon auf ihrem 4. Parteitag (7. Oktober 1906) rückten die Konstitutionellen Demokraten von dem Aufruf ab. [Lenin, Ausgewählte Werke, Band 3, Anm. 109]

Am 22. (9.) Juli 1906, am Tage nach dem Erscheinen des Ukas über die Auflösung der Reichsduma, reiste eine Gruppe von insgesamt 200 Abgeordneten, konstitutionellen Demokraten, Trudowiki und Sozialdemokraten, nach der Stadt Wiborg in Finnland, um sich darüber schlüssig zu werden, wie auf die Auflösung der Duma reagiert werden müsste. Den Abgeordneten wurde der Entwurf eines von P. N. Miljukow (siehe M. M. Winawer, „Die Geschichte des Wiborger Aufrufes", Petrograd 1917, Seite 48) verfassten Aufrufes an das Volk vorgelegt. Der Entwurf wurde einer zweitägigen Besprechung (am 22. [9.] und 23. [10.] Juli) durch die Vertreter der einzelnen Parteien unterzogen.

Bei den Sozialdemokraten fand der Entwurf eine geteilte Aufnahme. Die Bolschewiki schlugen zu dem Entwurf der Konstitutionellen Demokraten Abänderungsanträge vor mit der Forderung, dass erstens der Aufruf von der Duma als Institution, nicht aber von den Volksvertretern ausgehen solle und dass zweitens in ihm die Einberufung der Konstituierenden Versammlung gefordert werde. Aber die Menschewiki lehnten diese Abänderungsanträge mit Stimmenmehrheit ab unter dem Vorwand, dass der Aufruf Forderungen enthalten müsse, die nicht nur für die Sozialdemokraten, sondern für alle in Wiborg versammelten Abgeordneten annehmbar sind. Daraufhin schlug der linke Teil der Konferenz – Sozialdemokraten und Trudowiki – geschlossen eine schärfere Form vor, als die von der kadettischen Mehrheit der Konferenz geplante. Schließlich gelangte der Entwurf in der Fassung zur Annahme, die die Sechserkommission (F. F. Kokoschkin, M. M. Winawer – von den Konstitutionellen Demokraten, N. N. Jordania und S. D. Dschaparidse – von den Sozialdemokraten [beides Menschewiki] und I. W. Schilkin und S. I. Bondarow von den Trudowiki) vorgeschlagen hatte.

Der Aufruf der Abgeordneten der Reichsduma: „Die Volksvertreter an das Volk" – ist unter dem Namen „Wiborger Aufruf" bekannt. Nachdem der Aufruf betont hatte, dass dem Konflikt der Reichsduma mit dem Absolutismus die durch die Duma erfolgte Aufrollung des Gesetzes über die Bodenzuteilung an die Bauern zugrunde lag, verwies er darauf, dass das Land in einem so kritischen Moment sieben Monate lang ohne jede Vertretung bleiben solle, wobei die Regierung, wenn es ihr gelingt, die Volksbewegung niederzuschlagen, überhaupt nicht mehr daran denken würde, die Duma wieder einzuberufen. Um das zu verhindern, schlugen die Abgeordneten der Reichsduma dem Volk vor:

Jetzt, wo die Regierung die Reichsduma aufgelöst hat, seid ihr berechtigt, ihr sowohl Soldaten wie Geld zu verweigern. Sollte aber die Regierung, um sich Geld zu verschaffen, Anleihen machen, so sind diese, ohne das Einverständnis der Volksvertreter abgeschlossenen Anleihen von jetzt an nicht mehr gültig. Das russische Volk erkennt sie nicht an und wird sie niemals bezahlen.

Gebt also bis zur Einberufung der Volksvertreter der Staatskasse keine Kopeke und der Armee keinen einzigen Soldaten. Bleibt fest bei eurer Weigerung! Tretet wie ein Mann für euer Recht ein! Vor dem geschlossenen und unbeugsamen Willen des Volkes vermag keine Kraft zu bestehen.

Bürger! In diesem uns aufgezwungenen, aber unvermeidlichen Kampf werden eure Gewählten an eurer Seite stehen!"

Der Wiborger Aufruf schlug also vor, der Regierung gegenüber „passive Resistenz" zu üben. Aber auch diese Maßnahme trug einen sehr bedingten Charakter: den Bürgern wurde vorgeschlagen, keine Steuern zu zahlen und keine Rekruten zu stellen, solange die Regierung nicht die Neuwahlen zur Reichsduma ausgeschrieben habe. Mehr noch: Auf der Wiborger Konferenz selbst bildete sich aus den Konstitutionellen Demokraten, die die Mehrheit von 120 Mann darstellten, eine ziemlich beträchtliche Gruppe, die sich gegen den Aufruf als Ganzes aussprach. Dieser wurde nur unter dem Druck der Trudowiki und der Sozialdemokraten angenommen. Aber schon auf ihrem 4. Parteitag, (7. Oktober [24. September] bis 11. Oktober [28. September] 1906) rückten die Konstitutionellen Demokraten von dem durch sie unterschriebenen Aufruf ab – und nahmen mit 84 gegen 44 Stimmen eine Resolution an, deren Paragraph 4 wie folgt lautet: „Der Parteitag erachtet, dass im gegenwärtigen Moment die Voraussetzungen für eine entsprechend umfassende und organisierte Verwirklichung der passiven Resistenz sowohl im Allgemeinen wie insbesondere in der Form der Verweigerung der Militärpflicht bei der Einberufung des Jahrgangs 1906 nicht gegeben sind."

Derselbe Parteitag sprach sich faktisch gegen die Verbreitung des Aufrufes aus und fasste folgende Resolution: „Der Parteitag hat nichts einzuwenden gegen die Verbreitung des Aufrufs mit dem Ziel der Bekanntmachung der Bevölkerung mit der Idee der passiven Resistenz, nicht aber um die Bevölkerung zu ihrer sofortigen teilweisen Durchführung aufzurufen."

Am 29. (16.) Juli des gleichen Jahres wurde gegen die Unterzeichner des Aufrufes die strafrechtliche Verfolgung eingeleitet. Vom 25. (12.) bis 31. (18.) Dezember 1907 tagte eine Sondersession des St. Petersburger Kammergerichts und verurteilte sämtliche Unterzeichner des Aufrufs (mit Ausnahme von zweien) zu drei Monaten Gefängnis.

Die konstitutionellen Elemente“ – schrieb später, im Jahre 1921, P. N. Miljukow in einer Beurteilung des Wiborger Aufrufs – „die sich zusammen mit dem linken Flügel der Duma zu der gemeinsamen verfassungsmäßigen Aktion in Wiborg bereit erklärt hatten, lehnten sofort nach Wiborg, auf der Konferenz in Terjoki, die revolutionären Aktionen ebenso wie die im Anschluss daran erfolgten Aufstände in Kronstadt, Sveaborg usw. ab . . . Im Grunde genommen blieb der Wiborger Aufruf eine politische Kundgebung und eine Maßnahme für den äußersten Fall, der nicht eintrat, da die Wahlen zur zweiten Duma ausgeschrieben wurden" („Drei Versuche“, Paris 1921, S. 73 u. 74).

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