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Wladimir I. Lenin 19061123 Wie man Geschichte schreibt …

Wladimir I. Lenin: Wie man Geschichte schreibt …

[Proletarij" Nr. 7, 23. (10.) November 1906. Nach Sämtliche Werke, Band 10, Wien-Berlin 1930, S. 171-174]

Es handelt sich um eine alte Geschichte: um den Boykott der Reichsduma. In Nr. 3 des „Sozialdemokrat" sieht diese Geschichte in der Darstellung eines menschewistischen Genossen folgendermaßen aus (siehe den Artikel „Situation oder Position?"1) :

Als die Geschichte uns den Entwurf der Bulyginschen Duma bescherte, empfahlen wir vom Standpunkt unserer allgemeinen grundsätzlichen Stellung die Organisation von parallelen eigenmächtigen Wahlen zu einer Volksduma – als Gegengewicht gegen die Bulyginsche Duma, zu der wir keinen Zutritt hatten. Als wir aber nach dem Dezember-Aufstand …"

Halt, verehrter Geschichtsschreiber, – einen Augenblick! Dass Sie über die Tatsachen hinweg von dem Bulyginschen Entwurf zum Dezemberaufstand springen, das hat noch nichts zu sagen, das ist nur ein chronologischer Sprung. Dass Sie aber über Ihre Taktik und „grundsätzliche Stellung" hinweg springen, das ist schon etwas anderes, das ist zumindest ein… diplomatischer Sprung. Sie haben nur „eigenmächtige Wahlen" empfohlen? Sie verhielten sich zur Bulyginschen Duma nur wie zu einer Duma, zu der Sie „keinen Zutritt hatten"? Sie beabsichtigten also im Namen ihrer eigenen Volksduma die Bulyginsche Duma zu boykottieren? oder sie zu ignorieren? Aber haben Sie nicht damals einen Kampf geführt gegen gewisse Boykottisten? Haben Sie nicht auf eine positive Beteiligung an der bevorstehenden „Bulyginschen" Wahlkampagne bestanden? Haben Sie nicht gefordert, dass die Partei bei den Wahlen die linken Liberalen unterstütze usw.? Wie konnten Sie das alles vergessen?

Als wir nach dem Dezemberaufstand" … Halt, Sie haben noch eine Kleinigkeit vergessen. Russland hat die Bulyginsche Duma boykottiert, aber eine Volksduma gibt es auch bis zum heutigen Tage nicht… Nun, haben Sie etwa Ihre damalige Taktik für falsch erklärt? Nein, Sie haben den Boykottisten geantwortet, dass Ihre Bulygin-Dumataktik gut gewesen sei und dass nur die Revolution sie daran gehindert habe, sich im vollen Glanz zu offenbaren… Jetzt, nachdem Sie sich an all dies erinnert haben, können Sie Ihre Geschichte weiterschreiben.

Als wir aber nach dem Dezember-Aufstand vor der Tatsache der Einberufung der neuen Witteschen Duma standen, schlugen wir Beteiligung an den ersten Stadien der Wahlen vor, da wir mit zwei Möglichkeiten rechneten: entweder wird die Tatsache unserer Beteiligung einen revolutionären Aufschwung hervorrufen, der die Wittesche Duma wegfegt…"

Halt, verehrter Geschichtsschreiber, halt, was geht mit Ihnen vor? „Die Tatsache unserer Beteiligung wird einen revolutionären Aufschwung hervorrufen"… Nein, Sie haben sicherlich nur scherzen wollen! Sie haben stets die Bolschewiki der naiven Überschätzung unserer Kräfte beschuldigt; Sie wollen im Ernst davon reden, dass ein revolutionärer Aufschwung – und dazu noch einer, „der wegfegt"… usw., – hervorgerufen werden könnte „durch die Tatsache unserer Beteiligung"? Nein, das ist natürlich nicht ernst gemeint.

Also: „… Entweder ruft die Tatsache unserer Beteiligung einen revolutionären Aufschwung hervor, der die Wittesche Duma hinwegfegt und eine für uns günstigere Vertretungskörperschaft ins Leben ruft; oder aber ein unmittelbar revolutionärer Aufschwung tritt nicht ein, – und dann werden wir nicht nur die Möglichkeit haben, dann werden wir durch die ganze Sachlage gezwungen sein, in die Duma zu gehen, wie es in dem Lefortower Bezirk in Moskau geschehen ist."

Mit Verlaub, von diesem zweiten „oder" haben Sie, wenn wir uns recht erinnern, damals nichts gesagt?

Ja, davon haben wir nichts gesagt – antwortet unser Geschichtsschreiber.

Wir haben zwar in der Broschüre, die von der vereinigten Redaktion2 herausgegeben wurde, erklärt, dass wir nicht empfehlen, unmittelbar in die Duma zu wählen. Aber wir haben das getan, wir haben uns im vorhinein allein um eines Kompromisses willen die Hände gebunden, weil wir darauf hofften, dass irgendein Abkommen mit den Boykottisten über die Ausarbeitung einer einheitlichen Taktik zustande kommen würde. Das war von unserer Seite „Opportunismus", nämlich bewusste Anpassung an die rückständigen und kurzsichtigen Anschauungen der Genossen Boykottisten, und das bereuen wir aufrichtig."

Das also ist des Pudels Kern! Sie haben etwas gesagt und etwas anderes gedacht. Und haben es im Angesicht des Proletariats und des gesamten revolutionären Volkes gesagt … Sie „bereuen" es! Kennen Sie aber das Sprichwort: „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht!"? Was aber, wenn Ihre „Reue" ebenfalls durch die „Anpassung" an irgend jemandes „rückständige" oder „kurzsichtige" Anschauungen hervorgerufen ist? Gibt es irgendwelche Grenzen für einen solchen „Opportunismus", für solche „Kompromisse"? Wie soll man sich zu einer beliebigen Ihrer Losungen verhalten, wenn Sie selbst erklären, dass Ihre Losung in einer der wichtigsten taktischen Fragen unaufrichtig gemeint war? Ja, könnte da nicht der eine oder der andere jetzt glauben, dass Sie sich auch nur zwecks „Anpassung an rückständige und kurzsichtige Anschauungen" des revolutionären Proletariats als Sozialdemokraten bezeichnen?

Nein, ich muss für Sie eintreten. In der Hitze des Gefechts haben Sie sich selbst grausam verleumdet. Sie waren aufrichtige Boykottisten im dritten Stadium der Wahlen, wie wir aufrichtige Boykottisten in allen Stadien waren. Aber wir waren doch zusammen Boykottisten. Mitgefangen, mitgehangen. Jetzt möchten Sie uns „hängen", weil wir Boykottisten waren. Dann müssen Sie aber, werte Genossen, auch sich selbst hängen: Sie sind mit gefangen. „Aber wir haben es bereut!" – erklären Sie. Nun wohl, das mildert wirklich Ihre Schuld. Aber das rechtfertigt Sie nicht und befreit Sie nicht von der Strafe. Nun, man wird Sie nicht hängen, aber man wird Sie vielleicht verprügeln. Darauf wollen Sie hinaus?

Wir aber bekunden noch immer keine Reue. Wir haben gesagt und wir sagen: Boykott, Nicht-Boykott – das ist eine Frage nicht des Prinzips, sondern der Zweckmäßigkeit. Der Boykott der ersten Duma war zweckmäßig. Er zeigte den Volksmassen in lebendiger, konkreter Form, dass das Proletariat die Duma als eine Institution bewertet, die nicht die Kraft hat, die Grundfragen der Revolution zu lösen. Jetzt wird durch die Dumauflösung und die Ereignisse, die ihr gefolgt sind, die Richtigkeit dieser Bewertung bestätigt. Die Volksmassen sehen klar, dass sich das Proletariat auch hier als der natürliche Führer in der Revolution erwies, der sie von vornherein vor der Unfruchtbarkeit der konstitutionellen Illusionen warnte. Der Boykott lenkte die Aufmerksamkeit und die Kräfte der Regierung auf sich ab und half damit zum Siege der bürgerlichen Opposition bei den Wahlen beitragen. Der Boykott schweißte breite proletarische Massen zu einem einzigen Akt des revolutionären Protestes zusammen. Seine agitatorische und organisatorische Bedeutung war ungeheuer groß.

Der Boykott hat ein großes Werk vollbracht, – aber er hat es bereits vollbracht. Die Bewertung der Duma ist erfolgt, den Duma-Illusionen ist ein entscheidender Schlag versetzt worden. Es liegt kein Grund vor, das noch einmal zu tun. Die Kräfte der Regierung würde der Boykott jetzt nicht ablenken, – die Regierung hat natürlich aus den vergangenen Wahlen eine Lehre zu ziehen verstanden. Die agitatorische und organisatorische Arbeit kann auf der Grundlage der Beteiligung an den Wahlen nicht schlechter vollbracht werden als auf der Grundlage des Boykotts – vorausgesetzt, dass das Wahlgesetz nicht noch bedeutend verschlechtert wird. In diesem Falle wird man vielleicht von neuem zum Boykott greifen müssen. Ebenso besteht auch die Möglichkeit, dass wir andere Sorgen haben werden als die Dumawahlen, – wenn nämlich von neuem große revolutionäre Kämpfe beginnen.

Der Boykott bleibt also auch künftig für uns eine Frage der Zweckmäßigkeit. Einstweilen sehen wir noch keine ausreichenden Gründe für den Boykott.

Wer sich schuldig fühlt, der mag büßen. Dann aber soll er Asche auf sein Haupt streuen und sein Gewand – und nicht das Gewand eines andern – zerreißen. Die Geschichte zu fälschen und im Taumel der Buße zu verleumden – und dabei sich selbst zu verleumden – geziemt sich durchaus nicht.

1 Der Artikel: „Was ist schuld: die Situation oder die Position?" („Sozialdemokrat" Nr. 3 vom 26. [13.] Oktober 1906) ist als Antwort auf den Artikel Lenins „Über den Boykott" („Proletarij" Nr. 1 vom 3. September [21. August] 1906) verfasst worden (siehe S. 33 des vorliegenden Bandes).

2 Der Verfasser des Artikels bezieht sich auf die Broschüre: „Die Reichsduma und die Sozialdemokratie" (1906) mit den Artikeln Lenins: „Die Reichsduma und die sozialdemokratische Taktik" und Th. Dans: „Die Reichsduma und das Proletariat".

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