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Wladimir I. Lenin 19060903 Über den Boykott

Wladimir I. Lenin: Über den Boykott

[Proletarij" Nr. 1, 3. September (21. August) 1906. Nach Sämtliche Werke, Band 10, Wien-Berlin 1930, S. 33-42]

Die linken Sozialdemokraten müssen die Frage des Boykotts der Reichsduma von neuem prüfen. Hierbei ist zu bedenken, dass wir diese Frage stets konkret, in Abhängigkeit von der jeweiligen politischen Situation behandelt haben. So hat z. B. schon der (Genfer) „Proletarij" geschrieben, „es wäre lächerlich, ein für allemal auf die Ausnützung sogar einer solchen Duma, wie der Bulyginschen, zu verzichten", wenn sie das Licht der Welt erblicken sollte. Über die Wittesche Duma aber lesen wir in N. Lenins und Th. Dans Broschüre „Die Reichsduma und die Sozialdemokratie" (1906), in N. Lenins Artikel: „Wir müssen unbedingt die Frage der Taktik von neuem und sachlich erörtern … Die Lage ist jetzt anders als zur Zeit der Bulyginschen Duma".

Zwischen der revolutionären und der opportunistischen Sozialdemokratie besteht in der Boykottfrage folgender Hauptunterschied. Die Opportunisten beschränken sich darauf, auf jeden beliebigen Fall ein und dieselbe allgemeine Schablone anzuwenden, die einer besonderen Periode des deutschen Sozialismus entnommen ist. Wir müssen die Volksvertretungen ausnützen, die Duma ist eine solche Körperschaft – folglich ist Boykott Anarchismus, und wir müssen in die Duma gehen. In solch kindlich-einfachen Schlussfolgerungen haben sich stets alle Betrachtungen erschöpft, die unsere Menschewiki und in Sonderheit Plechanow über dieses Thema angestellt haben. Die Resolution der Menschewiki über die Bedeutung von Volksvertretungen in einer revolutionären Epoche (siehe Nr. 2 der „Partinyje Iswestija"1) zeigt ganz besonders deutlich dies schablonenhafte, unhistorische Wesen ihrer Betrachtungen.

Die revolutionären Sozialdemokraten hingegen verlegen das Schwergewicht der Frage ausdrücklich auf das aufmerksame Studium der konkreten politischen Lage. Man kann den Aufgaben der russischen revolutionären Epoche nicht damit gerecht werden, dass man deutsche Schablonen anwendet, die einseitig der neueren Zeit, ohne Berücksichtigung der Lehren der Jahre 1847/48 entnommen sind. Es ist unmöglich, den Gang unserer Revolution zu verstehen, wenn man sich auf eine nackte Gegenüberstellung des „anarchistischen" Boykotts und der sozialdemokratischen Wahlbeteiligung beschränkt. Lernt aus der Geschichte der russischen Revolution, Herrschaften!

Diese Geschichte hat bewiesen, dass der Boykott der Bulyginschen Duma die einzig richtige Taktik war, der die Ereignisse in vollem Umfang recht gegeben haben. Wer das vergisst, wer über den Boykott schwätzt, ohne die Lehren der Bulyginschen Duma zu erwähnen (wie es die Menschewiki stets tun), der stellt sich selbst ein volles Armutszeugnis aus, bezeugt seine Unfähigkeit, eine der wichtigsten und ereignisreichsten Epochen der russischen Revolution zu erklären und auszuwerten. Die Taktik des Boykotts der Bulyginschen Duma hat sowohl der Stimmung des revolutionären Proletariats als auch den objektiven besonderen Eigenschaften des Augenblicks Rechnung getragen, die in kürzester Frist eine allgemeine Massenaktion auslösen mussten.

Gehen wir zur zweiten Lehre der Geschichte über, zur Witteschen Kadettenduma. Heutzutage kann man auf Schritt und Tritt reumütige Reden sozialdemokratischer Intellektueller über den Boykott dieser Duma hören. Die Tatsache, dass diese Duma zusammengetreten ist und mittelbar der Revolution zweifellos einen Dienst erwiesen hat, betrachtet man als ausreichend dafür, den Boykott der Witteschen Duma reumütig für einen Fehler zu erklären.

Eine solche Ansicht aber ist äußerst einseitig und kurzsichtig. Sie berücksichtigt nicht eine ganze Reihe von ungeheuer wichtigen Tatsachen, aus der Epoche vor und während der Witteschen Duma und nach ihrer Auflösung. Man erinnere sich daran, dass das Gesetz über die Wahlen zu dieser Duma am 24. (11.) Dezember, während des bewaffneten Kampfes der Aufständischen für die Konstituante erlassen wurde. Man erinnere sich daran, dass sogar das menschewistische Natschalo" damals schrieb: „Das Proletariat wird die Wittesche Duma ebenso wegfegen, wie es die Bulyginsche Duma weggefegt hat." Unter solchen Umständen konnte und durfte das Proletariat die Einberufung der ersten russischen Volksvertretung nicht kampflos in den Händen des Zaren lassen. Das Proletariat musste den Versuch zunichte machen, den Absolutismus durch eine Anleihe zu festigen, für die die Wittesche Duma die Garantie übernehmen sollte. Das Proletariat musste die konstitutionellen Illusionen bekämpfen, auf denen im Frühjahr 1906 die ganze Wahlkampagne der Kadetten und die Wahlen in den bäuerlichen Gebieten aufgebaut waren. Damals, zur Zeit einer maßlosen Überschätzung der Bedeutung der Duma, konnte ein solcher Kampf nicht anders geführt werden als durch den Boykott. In wie hohem Maße die Verbreitung der konstitutionellen Illusionen mit der Beteiligung an der Wahlkampagne und an den Wahlen vom Frühjahr 1906 verbunden war, ist am deutlichsten aus dem Beispiel unserer Menschewiki ersichtlich. Man braucht sich nur daran zu erinnern, dass in der Resolution des 4. (Vereinigungs-) Parteitages der SDAPR die Duma ungeachtet der Warnungen der Bolschewiki als „Macht" bezeichnet wurde!2 Ein anderes Beispiel: Plechanow, von des Gedankens Blässe nicht angekränkelt, schrieb: „Die Regierung wird in den Abgrund fallen, wenn sie die Duma auseinanderjagt."3 Wie rasch haben sich die Worte, die damals gegen ihn gesagt wurden, als richtig erwiesen: Wir müssen uns dazu rüsten, den Feind in den Abgrund zu stürzen, und nicht wie die Kadetten Hoffnungen darauf setzen, dass er von selbst in den Abgrund „fällt".

Das Proletariat musste mit allen Kräften seine selbständige Taktik in unserer Revolution verteidigen: zusammen mit der politisch bewussten Bauernschaft gegen die schwankende und verräterische liberal-monarchistische Bourgeoisie. Diese Taktik aber konnte nicht angewendet werden bei den Wahlen zur Witteschen Duma, kraft einer ganzen Reihe von Bedingungen sowohl objektiver als auch subjektiver Natur, Bedingungen, die die Tatsache zur Folge hatten, dass die Wahlbeteiligung für die überwiegende Mehrzahl der Ortschaften Russlands einer stillschweigenden Unterstützung der Kadetten durch die Arbeiterpartei gleichgekommen wäre. Das Proletariat konnte und durfte nicht eine Taktik der Halbheiten, eine künstlich ausgeklügelte, auf „Schlauheit" und Hilflosigkeit aufgebaute Taktik bei den Wahlen anwenden, deren Zweck niemand kannte, bei diesen Wahlen zur Duma, nicht aber für die Duma, eine Taktik von Dumawahlen, die nicht auf dem Kampf um die Duma aufgebaut war. Es ist aber bekanntlich eine geschichtliche Tatsache, die kein Totschweigen, keine Ausflüchte und Winkelzüge der Menschewiki aus der Welt zu schaffen vermögen, – es ist eine Tatsache, dass niemand von ihnen, und nicht einmal Plechanow, in der Presse dazu aufrufen konnte, in die Duma zu gehen. Es ist eine Tatsache, dass in der Presse nicht eine einzige Stimme laut wurde, die aufgefordert hätte, in die Duma zu gehen. Es ist eine Tatsache, dass die Menschewiki selbst sich in einem Flugblatt des vereinigten ZK der SDAPR offiziell zum Boykott bekannten und nur darüber stritten, in welchem Stadium der Boykott in Kraft treten soll.4 Es ist eine Tatsache, dass die Menschewiki das Schwergewicht nicht auf die Wahlen zur Duma, sondern auf die Wahlen an sich, ja sogar auf den Prozess der Wahlen als auf eine Organisation für den Aufstand, für die Beseitigung der Duma verlegten. Die Ereignisse jedoch haben gerade gezeigt, dass eine Massenagitation bei den Wahlen unmöglich war und dass nur eine gewisse Möglichkeit bestand, eine Massenagitation aus der Duma selbst zu entfalten.

Wer versucht, alle diese komplizierten Tatsachen sowohl objektiver als auch subjektiver Natur wirklich in Betracht zu ziehen und auszuwerten, der sieht, dass der Kaukasus nur eine Ausnahme bildet, die die allgemeine Regel bestätigt. Der sieht, dass die reumütigen Reden und der Versuch, den Boykott mit „jugendlichem Übermut" zu erklären, die allerengstirnigste, oberflächlichste und kurzsichtigste Bewertung der Ereignisse ist.

Die Auflösung der Duma hat jetzt anschaulich gezeigt, dass der Boykott in den Verhältnissen vom Frühjahr 1906 im Allgemeinen zweifellos taktisch richtig und von Nutzen war. Nur durch den Boykott konnte die Sozialdemokratie unter den damaligen Verhältnissen ihre Pflicht erfüllen: die notwendige Warnung des Volkes vor der Konstitution des Zaren, die notwendige Kritik an den großmäuligen Wahllügen der Kadetten, – beides (Warnung und Kritik) wurde durch die Auflösung der Duma glänzend gerechtfertigt.

Hier ein kleines Beispiel zur Veranschaulichung des Gesagten. Herr Wodowosow, zur Hälfte Kadett, zur Hälfte Menschewik, stand im Frühjahr 1906 wie ein Fels für die Wahlen und für die Unterstützung der Kadetten. Gestern (24. [11.] August) schrieb er im „Towarischtsch", die Kadetten „wünschten eine parlamentarische Partei in einem Lande zu sein, das kein Parlament hat, und eine konstitutionelle Partei in einem Lande, das keine Konstitution hat", „den ganzen Charakter der Kadettenpartei bestimmte der grundlegende Widerspruch zwischen ihrem radikalen Programm und ihrer durchaus nicht radikalen Taktik".

Einen größeren Triumph als dies Eingeständnis des linken Kadetten oder rechten Plechanow-Mannes könnten sich die Bolschewiki gar nicht wünschen.

Wenn wir aber die kleinmütigen und kurzsichtigen Reuebekenntnisse unbedingt ablehnen, wenn wir den etwas dummen Versuch ablehnen, den Boykott „mit jugendlichem Übermut" zu erklären, so liegt uns doch der Gedanke fern, die neuen Lehren der Kadettenduma zu leugnen. Es wäre Pedanterie, sich davor zu fürchten, diese neuen Lehren offen anzuerkennen und ihnen Rechnung zu tragen. Die Geschichte hat gezeigt, dass die Einberufung der Duma die Möglichkeit mit sich bringt, eine nützliche Agitation aus der Duma heraus und um das Problem der Duma zu entfalten; dass wir innerhalb der Duma eine Taktik der Verständigung mit der revolutionären Bauernschaft gegen die Kadetten anwenden können. So paradox es scheinen mag, aber es ist dies zweifellos die Ironie der Geschichte: gerade die Kadettenduma hat den Massen ganz besonders anschaulich gezeigt, dass diese „anti-kadettische" – wie wir der Kürze halber sagen wollen – Taktik richtig war. Die Geschichte hat alle konstitutionellen Illusionen und allen „Glauben an die Duma" rücksichtslos zerstört, aber die Geschichte hat zweifellos bewiesen, dass eine solche Einrichtung der Revolution einen gewissen, wenn auch bescheidenen Nutzen bringt als Tribüne zur Agitation, zur Entlarvung des wahren „Innern" der politischen Parteien usw.

Hieraus ergibt sich die Schlussfolgerung. Lächerlich wäre es, die Augen vor der Wirklichkeit zu schließen. Gerade jetzt ist eine Zeit gekommen, wo die revolutionären Sozialdemokraten aufhören müssen, Boykottisten zu sein. Wir werden es nicht ablehnen, in die zweite Duma zu gehen, sobald (oder: „falls") sie einberufen werden wird. Wir werden es nicht ablehnen, diese Kampfarena auszunützen, wobei wir gar nicht daran denken, ihre bescheidene Bedeutung zu überschätzen, sondern sie im Gegenteil, auf Grund der geschichtlichen Erfahrung, ganz einem anderen Kampfe unterordnen werden – dem Kampf, der mit Streiks, Aufständen und dergleichen mehr geführt wird. Wir werden den 5. Parteitag einberufen; wir werden auf ihm beschließen, dass im Falle von Wahlen für einige Wochen ein Wahlabkommen mit den Trudowiki erforderlich ist (ohne Einberufung des 5. Parteitages ist eine geschlossene Wahlkampagne unmöglich, alle „Blocks mit anderen Parteien" aber sind durch einen Beschluss des 4. Parteitages unbedingt verboten). Und wir werden dann die Kadetten aufs Haupt schlagen.

Diese Schlussfolgerung aber erschöpft bei weitem noch nicht die ganze Kompliziertheit der Aufgabe, vor der wir stehen. Wir haben absichtlich die Worte: „Im Falle von Wahlen" unterstrichen. Wir wissen noch nicht, ob eine zweite Duma einberufen wird, wann die Wahlen stattfinden werden, wie das Wahlrecht aussehen wird, wie sich dann die Verhältnisse gestalten werden. Unsere Schlussfolgerung weist daher einen außerordentlichen Mangel auf, sie ist viel zu allgemein, aber wir müssen diese Schlussfolgerung ziehen, um das Fazit aus der Vergangenheit zu ziehen, um die Lehren dieser Vergangenheit auszuwerten, um die künftigen Fragen der Taktik richtig zu stellen, aber unsere Schlussfolgerung genügt durchaus noch nicht für die Lösung der konkreten Aufgaben der nächsten Taktik.

Nur Kadetten und alle möglichen „kadettenähnliche" Leute können sich gegenwärtig mit einer solchen Schlussfolgerung begnügen, können sich aus ihren sehnsüchtigen Seufzern nach einer neuen Duma eine „Losung" schaffen, können ihre Aufgabe darin sehen, der Regierung die Notwendigkeit der schleunigsten Einberufung der Duma und dergleichen mehr zu beweisen. Nur bewusste oder unbewusste Verräter der Revolution können jetzt alle ihre Anstrengungen darauf richten, den unvermeidlichen neuen Aufschwung der Stimmung und der Erregung in die Wahlen ausmünden zu lassen, und nicht in den Kampf mit Hilfe des Generalstreiks und des Aufstands.

Wir sind zum Kern der Frage über die gegenwärtige Taktik der Sozialdemokratie gelangt. Durchaus nicht darum handelt es sich jetzt, ob wir uns überhaupt an den Wahlen beteiligen sollen. Hier „ja" oder „nein" sagen, heißt noch gar nichts über die Grundaufgabe des gegenwärtigen Augenblicks sagen. Die politische Lage vom August 1906 ist äußerlich der Lage vom August 1905 ähnlich, seit dieser Zeit aber haben wir einen gewaltigen Schritt vorwärts getan: viel genauer sind sowohl die Kräfte, die auf der einen und auf der anderen Seite kämpfen, als auch die Formen des Kampfes und gewisse Fristen bestimmt, die für diese oder jene strategische Bewegung, wenn man sich so ausdrücken darf, benötigt werden.

Der Plan der Regierung ist klar. Ihre Berechnung ist durchaus richtig: sie setzt den Zeitpunkt der Einberufung der Duma fest, ohne – entgegen dem Gesetz – den Zeitpunkt der Wahlen festzusetzen. Die Regierung will sich nicht die Hände binden, will nicht ihre Karten aufdecken. Erstens gewinnt sie Zeit, sich zu überlegen, wie sie das Wahlgesetz ändern soll. Zweitens – und das ist die Hauptsache – behält sie noch den Trumpf zurück, die Wahlen für einen solchen Zeitpunkt anzusetzen, in dem der Charakter des neuen Aufschwungs und seine Kraft genau bestimmt werden können. Die Regierung will die Neuwahlen gerade für einen solchen Zeitpunkt (vielleicht auch in einer solchen Form, d. h. solche oder andere Wahlen) ansetzen, dass der Aufstand gleich zu Beginn zersplittert und zur Ohnmacht verurteilt wird. Die Regierung überlegte richtig: wenn alles ruhig bleibt, werden wir vielleicht die Duma überhaupt nicht einberufen oder zu den Bulyginschen Gesetzen zurückkehren. Im Falle einer starken Bewegung aber könnte man versuchen, sie dadurch zu zersplittern, dass man vorübergehend Wahlen ausschreibt, durch die diese oder jene Feiglinge oder Einfaltspinsel vom offenen revolutionären Kampf fort gelockt werden.

Die liberalen Dummköpfe (siehe „Towarischtsch" und „Rjetsch") verstehen die Lage so wenig, dass sie selbst der Regierung in die Netze gehen. Im Schweiße ihres Angesichtes „beweisen" sie, dass die Duma notwendig und dass es wünschenswert sei, den Aufschwung in die Wahlen ausmünden zu lassen. Aber auch selbst sie können nicht leugnen, dass die Frage der Form des nächsten Kampfes noch offen bleibt. Die heutige „Rjetsch" (vom 25. [12.] August) gibt zu: „Was die Bauern im Herbst sagen werden ist einstweilen ungewiss." „Bis zum September-Oktober, bis sich endgültig herausstellen wird, wie die Stimmung der Bauern ist, ist es schwer, irgendwelche allgemeinen Voraussagen zu geben."5

Die liberalen Bourgeois bleiben sich treu. Sie wollen und können sich nicht aktiv daran beteiligen, die Kampfformen zu bestimmen und die Stimmung der Bauern in der einen oder der anderen Richtung zu beeinflussen. Die Interessen der Bourgeoisie erfordern nicht den Sturz der alten Regierung, sondern nur ihre Schwächung und die Ernennung eines liberalen Kabinetts.

Die Interessen des Proletariats erfordern den völligen Sturz der alten Zarenregierung und die Einberufung einer souveränen Konstituante. Die Interessen des Proletariats erfordern es, dass es aufs Aktivste die Stimmung der Bauernschaft beeinflusse, sich aufs Aktivste an der Wahl der schärfsten Formen des Kampfes und des geeignetsten Augenblicks für den Kampfbeginn beteilige. Wir dürfen keinesfalls die Losung: Einberufung der Konstituante auf revolutionärem Wege, d. h. durch die provisorische revolutionäre Regierung, zurückziehen oder vertuschen. Wir müssen alle unsere Anstrengungen darauf richten, die Vorbedingungen des Aufstandes klarzustellen, - seine Verbindung mit dem Streikkampf den Zusammenschluss und die Vorbereitung aller revolutionären Kräfte für dies Ziel usw. Wir müssen mit voller Entschlossenheit den Weg betreten, der vorgezeichnet ist in den bekannten Aufrufen: „An die Armee und Flotte" und „An die gesamte Bauernschaft, in den Aufrufen, die vom „Block" aller revolutionären Organisationen einschließlich der Trudowikigruppe unterzeichnet sind. Wir müssen schließlich insbesondere dafür sorgen, dass es der Regierung keineswegs gelinge, den beginnenden Aufstand durch die Anberaumung der Wahlen zu zersplittern, zum Stillstand zu bringen oder zu schwächen. In dieser Hinsicht müssen die Lehren der Kadettenduma für uns unbedingt verbindlich sein: die Wahlkampagne ist eine untergeordnete Kampfform, eine Kampfform zweiten Ranges, Hauptkampfform bleiben – kraft objektiver Bedingungen des Augenblicks – die unmittelbar revolutionären Bewegungen der breiten Volksmassen.

Natürlich kann man eine solche Taktik, die die Duma-Kampagne dem Hauptkampf unterordnet, dieser Kampagne den zweiten Platz zuweist, für den Fall, dass die Schlacht einen verhängnisvollen Verlauf nimmt oder sich so lange verzögert, bis die Lehren aus der zweiten Duma gezogen sind, wenn man will, als alte Boykottaktik bezeichnen. Formell lässt sich eine solche Bezeichnung verteidigen, denn die „Vorbereitung zu Wahlen" – abgesehen von der stets notwendigen Arbeit der Agitation und Propaganda – läuft auf die allerkleinsten technischen Vorbereitungen hinaus, die sehr selten lange vor den Wahlen getroffen werden können. Wir wollen nicht über Worte streiten, aber im wesentlichen ist es die folgerichtige Entwicklung der alten Taktik und nicht ihre Wiederholung, die Schlussfolgerung aus dem früheren Boykott und nicht der frühere Boykott selbst.

Fassen wir zusammen. Wir müssen die Erfahrung der Kadettenduma berücksichtigen und ihre Lehren in die Massen tragen. Wir müssen beweisen, dass die Duma ein „unbrauchbares" Werkzeug ist, dass die Konstituante erforderlich ist, wir müssen die schwankende Haltung der Kadetten aufzeigen, müssen fordern, dass die Trudowiki das Joch der Kadetten abwerfen, müssen die Trudowiki gegen die Kadetten unterstützen. Wir müssen von vornherein feststellen, dass im Falle von Neuwahlen ein Wahlabkommen zwischen Sozialdemokraten und Trudowiki notwendig ist. Wir müssen mit aller Kraft dem Plan der Regierung, den Aufstand durch Anberaumung der Wahlen zu zersplittern, entgegenwirken. Die Sozialdemokratie muss mit noch größerer Kraft ihre erprobten revolutionären Losungen vertreten und alle Anstrengungen darauf richten, alle revolutionären Elemente und Klassen noch fester zusammenzuschweißen, den Aufschwung, der wahrscheinlich schon in nächster Zukunft erfolgt, zu einem allgemeinen bewaffneten Volksaufstand gegen die Zarenregierung zu machen.

1 Lenin meint den In der zweiten Nummer der „Partijnyje Iswestija" (.,Parteinachrichten") erschienenen menschewistischen Entwurf der Resolution „Über die Bedeutung der Repräsentativkörperschaften in der revolutionären Epoche". Der Entwurf schlug vor, „alle jene Übergangs- und unvollkommenen politischen Körperschaften, die im Laufe der Revolution entstehen, auszunützen", d. h. in die Duma zu gehen, mit der Begründung, dass in jeder Revolution „parallel mit den gewaltsamen Zusammenstößen eine Zerschlagung und ein Umbau der politischen und öffentlichen Institutionen erfolgt, wobei diese beiden Prozesse (Aufstand und Verfassungsaufbau) einander nicht ausschließen, sondern, im Gegenteil, einander bedingen", dass anderseits, „solange die Macht sich in der Hand der reaktionären Regierung befindet, als Punkte … der Organisierung der öffentlichen Kräfte notwendigerweise stets die verschiedenen, vom Standpunkte der Demokratie unvollkommenen öffentlichen Körperschaften und Organisationen dienten und dienen…" In den Protokollen des Vereinigungsparteitages, in denen alle menschewistischen Resolutionsentwürfe enthalten sind, fehlt dieser Abschnitt; an seiner Stelle steht ein Punkt „Über das Verhältnis zur Reichsduma" („Protokolle des Stockholmer Vereinigungsparteitages 1906", Kommission für Parteigeschichte, Slaatsverlag 1926, S. 360).

2 Als „Macht" wurde die Reichsduma bezeichnet in Punkt 5 des von den Menschewiki vorgeschlagenen Entwurfs der Resolution des Vereinigungsparteitages der SDAPR über das Verhältnis zur Reichsduma: „In der augenblicklichen revolutionären Atmosphäre werden die Zusammenstöße der Reichsduma mit der Regierung ihren zersetzenden und revolutionierenden Einfluss unter anderem auch auf die Armee ausüben, die in ihrer Ergebenheit gegenüber dem Throne schwankend werden wird, wenn sie zum ersten Male auf russischer Erde die neue, aus dem Schoß der Nation hervorgegangene Macht erblickt, die in ihrem Namen spricht und durch den Zarismus willkürlich mit Füßen getreten wird" („Protokolle des Vereinigungsparteitages", Kommission für Parteigeschichte, Staatsverlag 1926, S. 334). Der 4. (Vereinigungs-)Parteitag bestätigte die menschewistische Resolution trotz des Protestes der Bolschewiki, die insbesondere den erwähnten Punkt sowohl in der vom Parteitag zur Ausarbeitung der Resolution eingesetzten Vorkommission als auch in den Sitzungen des Parteitages selbst kritisiert hatten.

3 Der von Lenin zitierte Satz G. V. Plechanows ist dem ersten „Brief über Taktik und Taktlosigkeit" entnommen, veröffentlicht in den Nummern 4 und 5 vom 2. Juni (20. Mai) und 3. Juni (21. Mai) der menschewistischen Tageszeitung „Kurjer", die in Petersburg vom 30. (17.) Mai bis 26. (13.) Juli 1906 erschien. Die „Briefe" sind der Klärung der proletarischen Taktik gegenüber der Reichsduma gewidmet, wobei sich ihr ganzer Inhalt auf einen Gedanken aus dem Vorwort Plechanows zu diesen Briefen reduzieren lässt, dessen rücksichtslose Gradlinigkeit sogar die Menschewiki von ihm abstieß: „Nicht gegen die Bourgeoisie richtet sich die Weigerung des Herrn Goremykin – schrieb Plechanow in dem Vorwort zu den Briefen –, sondern gegen das gesamte Volk. Und das gesamte Volk muss Herrn Goremykin zwingen, diese Ablehnung (der Amnestie und der Lösung der Agrarfrage. Die Red.) zu bedauern: das gesamte Volk muss einmütig die Duma unterstützen" (Unterstreichungen von Plechanow).

4 Zum Zweck der Einberufung des 4. (Vereinigungs-)Parteitages wurde das aus einer gleichen Anzahl von Vertretern der Zentralen beider Fraktionen zusammengesetzte Vereinigte Zentralkomitee einberufen. Das Vereinigte Zentralkomitee gab Anfang 1906 ein Flugblatt „An die Partei" heraus, in dem es mitteilte, dass außer den von den früheren Zentralen übernommenen Aufgaben seine Hauptaufgabe die Einberufung des Vereinigungsparteitages zwecks Aufstellung allgemein bindender Direktiven in allen taktischen Streitfragen sei. „Zu diesen Fragen – betonte das Flugblatt – gehört vor allem die Stellung zur Reichsduma … Die Behandlung dieser Frage in der gemeinsamen Sitzung des Vereinigten Zentralkomitees und der Redaktion des Zentralorgans hat gezeigt, dass die Vertreter beider Fraktionen sich in der Grundauffassung über die Duma einig sind… Entsprechend dieser Auffassung wird die Beteiligung der Partei an der Wahlkampagne in ihrem letzten Stadium, d. h. an den Wahlen der Duma-Abgeordneten selbst, unter den gegenwärtigen Umständen als unzulässig erachtet. Die Meinungen gingen lediglich hinsichtlich der Beteiligung der Partei in den ersten Wahlstadien, d. h. hinsichtlich der Beteiligung an den Wahlen der Bevollmächtigten und der Wahlmänner auseinander."

5 Lenin bezieht sich auf den Leitartikel der Zeitung „Rjetsch" Nr. 136 vom 25. (12.) August 1906.

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