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Wladimir I. Lenin 19060903 Zu den Ereignissen des Tages

Wladimir I. Lenin: Zu den Ereignissen des Tages

[Proletarij" Nr. 1, 3. September (21. August) 1906. Nach Sämtliche Werke, Band 10, Wien-Berlin 1930, S. 62-65]

Der „Bluttag" in Warschau und anderen Städten Polens, das Attentat1 auf Stolypin, die Ermordung Mins2, alle diese Ereignisse haben allgemeines Interesse für die Frage der „Partisanenaktionen" geweckt – wir gebrauchen den Ausdruck, der jetzt in der Partei üblich und in der Resolution des Vereinigungsparteitages festgelegt ist.

Die Redaktion beabsichtigt, in der nächsten Zeit einen oder mehrere Artikel zu veröffentlichen, die diese ungeheuer wichtige Frage ausführlich und möglichst eingehend behandeln sollen. Da wir jedoch unsere Leser über unsere Ansichten nicht im Ungewissen lassen wollen, machen wir einstweilen folgende kurze Bemerkungen, die in den weiteren Artikeln ausführlich behandelt werden und eine genauere Fassung erhalten sollen.

Erste Bemerkung. Übertreibungen sind niemals gut. Für keinen Sozialisten unterliegt es einem Zweifel, dass der Stimmung der breiten Massen bei der Organisierung von Partisanenaktionen Rechnung getragen werden muss. Wir halten daher die Ansicht des „Bund", der mit den Arbeitsbedingungen in Warschau und der Stimmung der dortigen Massen vertraut ist (und anscheinend auch mit den polnischen Sozialdemokraten solidarisch ist), nämlich die Ansicht, dass die PPS „zu weit gegangen ist", für unbedingt beachtenswert. Es bleibt zu prüfen, ob die PPS wirklich zu weit gegangen ist, und wir sind nicht kompetent, diese Frage zu entscheiden. Zu übertreiben ist niemals angebracht, aber es wäre unrichtig, aus einzelnen Fällen „von Übertreibungen" abzuleiten, dass eine gewisse Kampfform untauglich sei.

Im Großen und Ganzen halten wir die Verschärfung des Partisanenkampfes in Russland nach der Auflösung der Duma für einen Fortschritt. Ein vernichtender und rücksichtsloser Partisanenkampf gegen die Vertreter des Gewaltregimes scheint uns zeitgemäß und zweckmäßig.

Zweite Bemerkung. Das ZK unserer Partei begeht zweifellos einen Fehler, und zwar einen ernsten Fehler, wenn es in einer Anmerkung zum vierten „Brief" (an die Parteiorganisationen) erklärt: „Es versteht sich von selbst, dass die sogenannten ,Partisanen'-Kampfaktionen nach wie vor von der Partei abgelehnt werden."

Das ist unrichtig. Wir unterordnen uns den Parteitagsbeschlüssen, werden uns aber keinesfalls Beschlüssen des ZK unterordnen, die diese Parteitagsbeschlüsse verletzen. Jeder, der sich die Mühe nimmt, die Resolution des Vereinigungsparteitages „Über die Partisanenaktionen"3 aufmerksam durchzulesen, wird leicht erkennen, dass unsere Partei eine Form von Partisanenaktionen ablehnt, eine andere anerkennt und eine dritte anempfiehlt.

Sie lehnt gänzlich die Expropriation von Privatbesitz ab. Sie lehnt nicht ab die Expropriation von staatlichen Mitteln, sieht aber besonders strenge Bedingungen vor („im Falle der Bildung von Organen der revolutionären Macht in der betreffenden Gegend" usw.).

Die Parteitagsresolution erkennt ferner Partisanenaktionen ohne Expropriation von Eigentum an, d. h. erkennt den „Terror" an, erkennt Partisanenaktionen an, die die Tötung des Gegners zum Ziel haben. Diese Anerkennung ist unzweideutig gleich in den ersten Worten des Schlussteiles der Resolution enthalten:

Der Parteitag beschließt: 1. In Anbetracht der Notwendigkeit, neben (überall von uns gesperrt) der Vorbereitung der revolutionären Kräfte für den herannahenden Aufstand, der die Organisation der Arbeitermassen zugrunde liegt, einen aktiven Kampf gegen den Regierungsterror und die Gewalttaten der Schwarzhunderter zu führen, ist es erforderlich" … (dann folgt ein Verbot des Diebstahls, der Beschlagnahme privater Mittel usw.).

Der von uns angeführte Parteitagsbeschluss ist ganz klar. „Neben" der Arbeit in den Massen wird der „aktive Kampf" gegen die Vertreter des Gewaltregimes, d. h. zweifellos ihre Tötung, die in „Partisanenaktionen" durchgeführt wird, anerkannt.

Für diese zweite Art der Partisanenaktionen (Tötung von Vertretern des Gewaltregimes) werden in der Resolution nur folgende Grenzen gezogen: „Zu vermeiden ist die Zerstörung von persönlichem Eigentum friedlicher Bürger mit Ausnahme (hört!) der Fälle, in denen es ein unvermeidliches Ergebnis des Kampfes gegen die Regierung ist oder wenn es, wie z. B. beim Bau von Barrikaden, die unmittelbaren Notwendigkeiten des Kampfes erfordern".

Wenn es also der unmittelbare Kampf erfordert, ist auch Verletzung privaten Eigentums, z.B. die Beschlagnahme von Equipagen usw. für den Barrikadenbau zulässig. Falls kein unmittelbarer Kampf stattfindet, sind nach Vorschrift des Parteitages Verletzungen der persönlichen Sicherheit „friedlicher" Bürger zu vermeiden, aber der Parteitag verweist auch hier auf eine Ausnahme: eine „unvermeidliche Verletzung" der persönlichen Sicherheit als Ergebnis des Kampfes gegen die Regierung rechnet der Parteitag den Teilnehmern an Partisanenaktionen nicht als Schuld an.

Schließlich empfiehlt der Parteitag der Partei geradezu eine Form von Partisanenaktionen und beschließt ohne Vorbehalte und Einschränkungen: „Waffen und Kampfmunition, die der Regierung gehören, sind zu beschlagnahmen, wo immer sich nur eine Möglichkeit bietet".

Z.B.: Die Schutzleute haben Waffen, die der Regierung gehören: „Es bietet sich eine Möglichkeit"…

Dritte Bemerkung. Wir raten sämtlichen zahlreichen Kampfgruppen unserer Partei, mit ihrer Untätigkeit aufzuhören und eine Reihe von Partisanenaktionen zu unternehmen, ganz im Einklang mit den Parteitagsbeschlüssen, d. h. ohne irgendeine Expropriation von Privateigentum, mit möglichst geringer „Verletzung der persönlichen Sicherheit" friedlicher Bürger und mit größtmöglicher Verletzung der persönlichen Sicherheit von Spionen, aktiven Schwarzhundertern, höheren Offizieren der Polizei, des Heeres, der Flotte und so weiter und dergleichen mehr. „Waffen" aber „und Kampfmunition, die der Regierung gehören, sind zu beschlagnahmen, wo immer sich eine Möglichkeit bietet".

1 Das Attentat auf P. Stolypin erfolgte seitens der Maximalisten am 25. (12.) August. Es wurde sein Landhaus auf der Apotheker-Insel in Petersburg in die Luft gesprengt. P. Stolypin selbst jedoch kam unbeschädigt davon.

2 Der Unterdrücker des Dezemberaufstandes in Moskau, der Kommandeur des Semjonow-Regiments, General Min, wurde am 26. (13.) August 1906 durch das Mitglied der Kampforganisation der Partei der Sozialrevolutionäre S. W. Konopljannikowa ermordet.

3 Die Resolution des 4. (Vereinigungs-) Parteitages über die Partisanenaktionen ist in den Beilagen zum 9. Band der [Sämtlichen] Werke Lenins abgedruckt. [Der 9. Band ist nicht auf Deutsch erschienen.]

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