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Wladimir I. Lenin 19080325 Marx im Urteil des internationalen Liberalismus

Wladimir I. Lenin: Marx im Urteil des internationalen Liberalismus

[Proletarij Nr. 25 25. (12.) März 1908. Nach Sämtliche Werke, Band 12, Wien-Berlin 1933, S. 202-206]

Der Held eines Turgenjewschen Werkes verändert die Verse des großen deutschen Dichters1 folgendermaßen:

Wer den Feind will versteh'n,

Muss in Feindes Lande geh'n

d. h. muss sich unmittelbar mit seinen Gewohnheiten, seinen Sitten und Methoden, nach denen er urteilt und handelt, bekannt machen.

Auch den Marxisten kann es nicht schaden, wenn sie einen Blick darauf werfen, wie sich einflussreiche politische Organe der verschiedenen Länder, vor allem die liberalen und „demokratischen" bürgerlichen Zeitungen, die die Möglichkeit, die Lesermassen zu beeinflussen, mit dem Recht vereinigen, im Namen der offiziellen, ärarischen, titelgeschmückten Professorenwissenschaft zu sprechen, zu der Feier der fünfundzwanzigsten Wiederkehr des Todestages Marx' äußern.

Wir beginnen unsere Übersicht mit den „Russkije Wjedomosti". Das ruhigste (und langweiligste), gelehrteste (dem wirklichen Leben ganz fern stehende) Professorenblatt. In dem kleinen Artikel anlässlich der fünfundzwanzigsten Wiederkehr des Todestages Karl Marx' (Nr. 51 vom 1. März) ist ein trockener, hölzerner Ton vorherrschend – „Objektivität", wie es in der Sprache der „Ordinarii" und „Extraordinarii" heißt.2 ... Der Verfasser des Artikels sucht sich auf Tatsachen und Tatsächelchen zu beschränken. Und er ist, als unparteiischer Historiker, bereit, Marx Gerechtigkeit widerfahren zu lassen – wenigstens für Vergangenes, das schon dahin ist und über das man wie über einen Toten sprechen kann. Die „Russkije Wjedomosti" erkennen in Marx sowohl „die einzigartige Gestalt" wie den „in der Wissenschaft großen" Menschen, den „hervorragenden Führer des Proletariats" und den Organisator der Massen an. Aber diese Anerkennung gilt nur dem Vergangenen: „Heute – meint die Zeitung – sind neue Wege tatsächlich notwendig", d. h. neue Wege der Arbeiterbewegung und des Sozialismus, die keine Ähnlichkeit mit dem „alten Marxismus" aufweisen. Was das nun für Wege sind, davon spricht die Zeitung nicht direkt – das wäre ein zu wirklichkeitsnahes Thema für Professoren und ein allzu „unvorsichtiger" Gegenstand für die Virtuosen der Kunst, „taktvoll zu schweigen". Aber es werden deutliche Anspielungen gemacht:

Viele von seinen (Marx') Konstruktionen sind durch die wissenschaftliche Analyse und die unerbittliche Kritik der Ereignisse zerstört worden. Unter den Gelehrten fehlen die Anhänger, die seinem System als Ganzem treu sind, fast ganz. Marx' geistiges Kind – die deutsche Sozialdemokratie – hat sich ziemlich stark von dem revolutionären Wege abgewandt, der von den Begründern des deutschen Sozialismus vorgezeichnet war."

Man sieht: nur wenig ist es, was der Verfasser nicht ausspricht: der Wunsch, Marx auf revisionistische Art zu korrigieren.

Eine andere einflussreiche Zeitung, die „Rjetsch", das Organ der politischen Partei, die im Konzert des russischen Liberalismus die erste Geige spielt, tritt mit einer weitaus lebendigeren Würdigung Marx' hervor. Die Tendenz ist selbstverständlich dieselbe wie bei den „Russkije Wjedomosti", aber wenn wir dort die Vorrede zu einem dicken Buch sahen, so finden wir hier politische Losungen, die unmittelbar für eine ganze Reihe von Reden von der Tribüne des Parlaments herab, bei der Einschätzung aller Tagesereignisse, aller Fragen der Gegenwart richtunggebend sind. Der Artikel „Karl Marx und Russland" (Nr. 53 vom 2. März) stammt von dem bekannten Deserteur Herrn Isgojew – einem Muster jener russischen Intellektuellen, die im Alter von 20-30 Jahren in Marxismus machen, im Alter von 35-40 Jahren liberalisieren und später Schwarzhunderter sind.

Herr Isgojew ist (wie er selbst erklärt und wie es ihm der Großmeister des Renegatentums, Herr Struve, bestätigt hat) von den Sozialdemokraten zu den Liberalen hinüber gewechselt, gerade damals, als nach den ersten verblüffenden Erfolgen der Revolution die schwere Zeit des langen und hartnäckigen Kampfes mit der sich konsolidierenden Konterrevolution begann. Und Herr Isgojew ist in dieser Beziehung außerordentlich typisch. Er erklärt und zeigt ausgezeichnet, wessen Vorteil die professorenhaften Geziertheiten bei der Würdigung Marx' verfolgen, wessen Arbeit die mit Titeln geschmückte „Wissenschaft" besorgt.

Dieser politikasternde Taktiker – donnert Isgojew über Marx – ist dem großen Gelehrten recht hinderlich gewesen und ist für ihn zur Ursache nicht weniger Irrtümer geworden."

Der Grundirrtum ist selbstverständlich, dass neben dem richtigen, vernünftigen, von der „Mehrheit" (der Mehrheit der Philister?) gebilligten „evolutionären Marxismus" der verderbliche, unwissenschaftliche, phantastische und „durch das Dünnbier der Narodniki verfälschte" revolutionäre Marxismus ans liebe Sonnenlicht getreten ist. Die Rolle dieses Marxismus in der russischen Revolution empört unsern Liberalen besonders. Man denke doch nur: man ist so weit gegangen, von der Diktatur des Proletariats zur Durchführung dieser „bürgerlichen Revolution" oder gar von der „im Munde von Marxisten ganz phantastisch klingenden Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft" zu sprechen.

Kein Wunder, dass der revolutionäre Marxismus in der Form, in der er in Russland von den Bolschewiki verschiedener Färbungen vertreten wird, Bankrott machte ... Man muss an die Behauptung einer gewöhnlichen ,bourgeoisen' (ironische Gänsefüßchen des Herrn Isgojew) Verfassung denken."

Da haben wir einen ideell ganz fertigen und politisch reifen Oktobristen, der völlig überzeugt ist, dass der Marxismus und die revolutionäre Taktik und nicht die Kadettentaktik der Kompromisse und des Verrats Bankrott gemacht hat.

Gehen wir weiter. Von der russischen Presse gehen wir zur deutschen über, die in freier Atmosphäre wirkt, angesichts einer in Dutzenden von Tageszeitungen ihre Meinung zum Ausdruck bringenden legalen sozialistischen Partei. Eine der reichsten, verbreitetsten und „demokratischsten" bürgerlichen Zeitungen Deutschlands, die „Frankfurter Zeitung", widmet der fünfundzwanzigsten Wiederkehr des Todestages Marx' einen großen Leitartikel (Nr. 76, vom 16. März neuen Stils, Abendblatt). Die deutschen „Demokraten" packen den Stier sogleich bei den Hörnern.

Es versteht sich – erzählen sie uns –, dass die sozialdemokratische Presse an diesem Tage in zahlreichen Artikeln ihres Meisters gedachte. Aber sogar in einem angesehenen nationalliberalen Blatte wurde Marx, wenn auch mit den üblichen Verwahrungen, als ein Großer gefeiert. Nun, ein Großer gewiss, aber ein großer Verderber."

Die Zeitung, in der die Blüte jener Spielart des geistigen Schwarzhundertertums vertreten ist, die sich europäischer Liberalismus nennt, fügt erläuternd hinzu, dass sie die persönliche Ehrenhaftigkeit Marx' in keiner Weise anzweifelt. Aber seine Theorien brachten unabsehbaren Schaden. Dadurch, dass er den Begriff der Notwendigkeit und Gesetzmäßigkeit in das Gebiet der gesellschaftlichen Erscheinungen einführte, dadurch, dass er die Bedeutung der Moral und die Relativität und Bedingtheit unserer Kenntnisse leugnete, schuf Marx eine antiwissenschaftliche Utopie und geradezu eine „Kirche" seiner sektiererischen Anhänger. Die schädlichste unter seinen Ideen ist aber die Idee des Klassenkampfes. Das ist das Böse an sich! Marx nahm den alten Ausspruch von den „two nations" ernst, den zwei Nationen, die innerhalb jeder zivilisierten Nation bestehen, der Nation der „Ausbeuter" und der Nation der „Ausgebeuteten" (diese beiden unwissenschaftlichen Ausdrücke setzt die Zeitung in mörderisch-ironische Gänsefüßchen). Marx vergaß die selbstverständliche, klare, allen gesunden Menschen verständliche Wahrheit, dass im sozialen Leben „nicht Kampf, sondern Vertragen der Zweck ist". Marx „hat das Volk auseinandergerissen, denn er hat seinen Leuten in die Köpfe gehämmert, dass zwischen ihnen und den andern keine Gemeinschaft bestehe und dass sie Todfeinde seien".

Was wäre natürlicher – fragt das Blatt –, als dass die Sozialdemokratie, die in ihren praktischen Forderungen mit vielen Bürgerlichen übereinstimmt, eine Annäherung an sie suchte? Dazu ist es aber nie gekommen, dank der marxistischen Theorie. Die Sozialdemokratie hat sich selber zur Isolation verurteilt. Eine Zeitlang konnte man meinen, dass da ein grundsätzlicher Wandel vor sich gehen werde. Das war damals, als die Revisionisten ihre Kampagne begannen. Aber es war ein Irrtum, und der Unterschied zwischen den Revisionisten und uns besteht unter anderem darin, dass wir diesen Irrtum eingesehen haben und sie nicht. Die Revisionisten glaubten und glauben noch, dass es möglich sei, an Marx einigermaßen festzuhalten und doch eine andere Partei zu werden. Das ist aber eine vergebliche Hoffnung. Man schluckt Marx ganz oder gar nicht, aus einem Mittelding kann nichts werden ... "

Sehr richtig, ihr Herren Liberalen! Mitunter passiert es tatsächlich, dass ihr eine unverhoffte Wahrheit aussprecht!

... Solange die Sozialdemokratie Marx verehrt, solange auch kommt sie von der Idee des Klassenkampfes und all den anderen Dingen nicht los, die das Leben mit ihr schwer machen. Die gelehrte Welt ist darüber einig, dass von den nationalökonomischen Lehren des Marxismus keine einzige sich als stichhaltig erwiesen hat ... "

So, so. Ihr Herren habt das Wesen der bürgerlichen Wissenschaft, des bürgerlichen Liberalismus und seiner gesamten Politik ausgezeichnet zum Ausdruck gebracht. Ihr habt begriffen, dass man Marx nicht in Teilen schlucken kann. Die Isgojew und die russischen Liberalen haben das noch nicht begriffen. Bald werden auch sie es begreifen.

Und zum Schluss das konservative Organ der bürgerlichen Republik: „Journal des Debats". In seiner Nummer vom 15. März schreibt das Blatt anlässlich des Jubiläums, dass die Sozialisten, diese „rohen Gleichmacher", den Kult ihrer großen Männer predigen, dass das Hauptübel an der Lehre des „die Bourgeoisie hassenden Marx", „die Theorie des Klassenkampfes sei".

Er predigte den Arbeiterklassen nicht vorübergehende Konflikte, die Verständigungen nach sich ziehen, sondern den heiligen Krieg, den Vernichtungskrieg, den Krieg der Expropriation, den Krieg um das gelobte Land des Kollektivismus ... eine ungeheuerliche Utopie."

Die bürgerlichen Zeitungen schreiben gut, wenn irgend etwas sie wirklich empfindlich trifft. Und es lässt sich leichter leben, wenn man sieht, wie die ideelle Einheit der liberalen Feinde des Proletariats in der ganzen Welt sich bildet und sich konsolidiert, denn diese Einheit ist eines der Unterpfänder für die Einigung der Millionen des internationalen Proletariats, das sich, koste es. was es wolle, sein gelobtes Land erobern wird.

1 Goethe. Die Red.

2 Lenin zitiert den Artikel aus den „Russkije Wjedomosti" Nr. 51 vom 14. (1.) März 1908: „Karl Marx", von L. N.

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