Lenin‎ > ‎1908‎ > ‎

Wladimir I. Lenin 19080325 Wie die Liberalen das Volk betrügen

Wladimir I. Lenin: Wie die Liberalen das Volk betrügen

[Proletarij" Nr. 25, 25. (12.) März 1908. Nach Sämtliche Werke, Band 12, Wien-Berlin 1933, S. 193-197]

Auf dem jüngsten, dem Londoner Parteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands wurde die Stellung zu den bürgerlichen Parteien besprochen und eine entsprechende Resolution angenommen. Besonders heftige Diskussionen rief dabei jene Stelle der Resolution hervor, in der von dem Betrug der Liberalen am Volke die Rede ist. Dem rechten Flügel unserer Partei schien diese Stelle äußerst unrichtig. Sie erklärten sogar, es sei unmarxistisch, in einer Resolution von einem „Betrug" der Liberalen am Volke zu sprechen, d. h. den Anschluss gewisser Bevölkerungsschichten an eine gegebene Partei (im vorliegenden Fall die der Kadetten) nicht mit den Klasseninteressen dieser Schichten, sondern mit den „unmoralischen" Methoden der Politik dieser oder jener Gruppe von Parlamentariern, Advokaten, Journalisten usw. zu erklären.

In Wirklichkeit aber verbarg sich hinter diesen schönen, in ein schönes scheinmarxistisches Gewand gesteckten Argumenten eine Politik, die darauf abzielte, die Selbständigkeit des Proletariats als Klasse zu schwächen und es (faktisch) der liberalen Bourgeoisie unterzuordnen. Denn die Interessen des demokratischen Kleinbürgertums, das den Kadetten Gefolgschaft leistet, werden von diesen Herrschaften nicht einigermaßen ernstlich gewahrt, sondern vielmehr durch ihre Politik des Kokettierens und der Abmachungen mit der Regierung, mit den Oktobristen sowie mit der „historischen Macht" des zarischen Absolutismus verraten.

Außerordentlich interessantes Material für eine auf neuen Tatsachen beruhende Beleuchtung dieser Frage – einer der grundlegenden Fragen der sozialdemokratischen Taktik in allen kapitalistischen Ländern – liefert uns der gegenwärtige Kampf für das allgemeine Wahlrecht zum preußischen Landtag. Die deutsche Sozialdemokratie hat das Banner dieses Kampfes entrollt. Das Proletariat Berlins und nach ihm auch das aller anderen Großstädte Deutschlands ging auf die Straße, organisierte grandiose Demonstrationen von Tausenden und aber Tausenden und legte den Grundstein zu einer breiten Massenbewegung, die bereits jetzt, gleich an ihrem Anfang, zu Gewalttaten der verfassungsmäßigen Behörden, zur Einsetzung des Militärs, zur Misshandlung wehrloser Massen geführt hat. „Kampf erzeugt Kampf" – antworteten stolz und mutig die Führer des revolutionären Proletariats auf diese Gewalttaten. Doch jetzt tauchte die Frage auf nach der Stellung zu der demokratischen (und liberalen) Bourgeoisie im Kampfe um das Wahlrecht. Und die Debatten, die dabei zwischen den deutschen revolutionären Sozialdemokraten und den Opportunisten (Revisionisten, wie man sie in Deutschland nennt) geführt wurden, ähneln merkwürdig stark unserem Streit über das Thema: der Betrug der Liberalen am Volke.

Das Zentralorgan der deutschen sozialdemokratischen Arbeiterpartei, der „Vorwärts", hat einen Leitartikel gebracht, dessen Inhalt und Grundgedanke klar in dem Titel ausgedrückt sind: „Wahlrechtskampf – Klassenkampf!" Obgleich dieser Artikel nur allgemein bekannte sozialdemokratische Grundsätze in positiver Form darlegte, wurde er doch – wie auch zu erwarten war – von den Opportunisten als Herausforderung aufgefasst. Der Fehdehandschuh wurde aufgehoben. Genosse Südekum, eine bekannte Persönlichkeit auf dem Gebiet des Kommunalsozialismus, unternahm einen energischen Feldzug gegen diese „Sektentaktik", gegen die „Absonderung des Proletariats", gegen die „Unterstützung der Schwarzhunderter durch Sozialdemokraten" (Unterstützung der Rückwärtser – sagen die Deutschen ein wenig milder).1 Denn auch der deutsche Opportunist betrachtet es als Unterstützung der Schwarzhunderter, wenn man in eine dem Proletariat und den Liberalen gemeinsame Sache den Klassenkampf hinein trägt! „Die Einführung des Reichstagswahlrechts2 an Stelle der Dreiklassenschande ist keine Angelegenheit einer einzigen Klasse", – schrieb Südekum. Und verwies darauf, dass sie eine Angelegenheit „der städtischen Bevölkerung gegen die Agrarier, der Demokratie gegen die Bürokratie, der Bauernschaft gegen die Gutsbesitzer, Westelbiens gegen Ostelbien" sei (d. h. des industriell und kapitalistisch starken, überhaupt des fortgeschrittenen Teils des Landes gegen den wirtschaftlich rückständigen).

Es kommt jetzt darauf an, die Freunde der Umgestaltung, was sonst immer sie auch trennen mag, in diesem Punkte zusammenzuführen."

Der Leser sieht, dass das alles ganz bekannte Argumente sind, dass auch hier die Kostümierung streng orthodox-„marxistisch" und auch der Hinweis auf die wirtschaftliche Lage und die Interessen bestimmter Elemente der bürgerlichen Demokratie städtische Demokratie", Bauernschaft usw.) nicht vergessen ist. Es dürfte kaum notwendig sein hinzuzufügen, dass die deutsche liberal-bürgerliche Presse jahrzehntelang diesen Ton systematisch durchhält, indem sie die Sozialdemokratie der Sektiererei, der Unterstützung der Schwarzhunderter und der Unfähigkeit, die Reaktion zu isolieren, beschuldigt.

Mit welchen Argumenten pflegten nun die deutschen revolutionären Sozialdemokraten diese Gedankengänge zu widerlegen? Wir wollen ihre Hauptargumente aufzählen, damit die Leser – die über die deutschen Angelegenheiten „von weitem", „sine ira et studio" urteilen – sehen können, ob hier Hinweise auf besondere örtliche und zeitliche Bedingungen oder solche auf die allgemeinen Prinzipien des Marxismus überwiegen.

Ja, unsere Freisinnigen „fordern" in ihrem Programm das allgemeine Wahlrecht, sagte der „Vorwärts". Ja, besonders große Reden schwingen sie darüber jetzt. Aber kämpfen sie auch für die Reform? Sehen wir nicht das Gegenteil? Ruft die wirkliche Volksbewegung, die Straßendemonstrationen, die breite Massenagitation, die Erregung der Massen, in ihnen nicht ein schlecht verhehltes Gefühl der Angst, Abscheu und in den besten und seltenen Fällen ein Gefühl der Gleichgültigkeit hervor?

Man muss verstehen, die Programme der bürgerlichen Parteien, die Bankett- und Parlamentsreden der liberalen Karrieremacher von ihrer wirklichen Teilnahme am wirklichen Kampf des Volkes zu unterscheiden. Mit dem Mund waren alle bürgerlichen Politikaster in allen parlamentarischen Ländern stets Feuer und Flamme für die Demokratie, gleichzeitig aber verrieten sie die Demokratie.

Nun gibt es allerdings innerhalb des Zentrums und Freisinns Elemente, die am allgemeinen und gleichen Wahlrecht interessiert sind", sagte der „Vorwärts". Aber nicht diese Elemente, nicht die kleinen Handwerker, nicht die Halbproletarier, nicht die halb ruinierten Bauern sind die Führer der bürgerlichen Parteien. Sie sind die Gefolgsmannschaften der liberalen Bourgeois, welch letztere sie vom Kampf abzulenken versuchen, hinter ihrem Rücken ihre eigenen Kompromisse mit der Reaktion schließen, ihr Klassenbewusstsein korrumpieren und für ihre Interessen sich in der Tat nicht einsetzen.

Um solche Elemente in den Kampf für das allgemeine Wahlrecht hineinzuziehen, muss man das Klassenbewusstsein in ihnen wecken und sie von den schwankenden bürgerlichen Parteien loslösen.

Innerhalb des Freisinns bilden sie eine ohnmächtige, immer wieder vertröstete und dann stets von neuem düpierte Minorität, deren politische Energie völlig brach gelegt ist. Soll aber der Freisinn, und sollte das Zentrum wirklich durch Stimmenverluste zu Konzessionen an die Demokratie zu zwingen sein, so wäre gerade das Mittel des Klassenkampfes und der durch ihn verursachten Schwächung dieser Parteien das einzige Mittel, das widerstrebende Bürgertum nach links zu drängen."

Denn die politischen Tatsachen haben längst erwiesen, dass den Freisinnigen die Reaktion weniger verhasst ist als die Sozialdemokratie.

Es gilt nicht nur mit schonungsloser Schärfe die Sünden aller bürgerlichen Parteien zu geißeln, sondern es gilt auch vor allen Dingen, die Wahlrechlsverrätereien des Freisinns und des Zentrums als notwendige Konsequenz des Klassencharakters dieser Parteien darzustellen."

Ob unsere Kadetten fähig sind, für die in ihrem Programm aufgestellten demokratischen Forderungen zu „kämpfen", oder ob sie diese nur aufstellen, um die den Liberalen Gefolgschaft leistenden Kleinbürger und Bauern an die Oktobristen zu verraten, – früher oder später wird diese Frage immer wieder an die russischen Sozialdemokraten herantreten, wie sie schon im Verlauf der Revolution mehr als einmal aufgetaucht ist. Darum wird es so manchem aus unserer Partei nicht schaden, sich in Argumente des „Vorwärts" zu vertiefen.

P. S. Der vorliegende Artikel war bereits in Satz gegeben, als wir in Nummer 52 der Zeitung „Rjetsch" (vom 1. März) einen Artikel, „Die Krise des deutschen Liberalismus" von Herrn K. D„ dem Berliner Korrespondenten dieser Zeitung, lasen. Die Polemik des „Vorwärts" mit Südekum streift der Verfasser im üblichen Ton und mit den üblichen Manieren unserer liberalen Fälscher. Die Argumente der einen wie der anderen Partei darzulegen, genaue Zitate anzuführen, – daran denkt der Verfasser gar nicht. Er erklärt einfach:

Der offizielle ,Vorwärts' überschüttet den Ketzer sofort mit Spülwasser und beschuldigt ihn in einem des leichtfertigen, provozierenden Tones wegen äußerst unappetitlichen Leitartikel der Unwissenheit und der unerlaubten Vergesslichkeit gegenüber den Parteidogmen."

Wir überlassen es dem Leser zu beurteilen, ob Südekum selber eine ähnliche Inschutznahme durch die Kadetten „appetitlich" finden wird. Aber so ist schon das Schicksal der Revisionisten eines jeden Landes: verstärkte Unterstützung und gefühlvolle „Anerkennung" ihrer Bemühungen bei der Bourgeoisie zu finden. Ein Bündnis der Südekums mit den Herren Struve – man kann wohl kaum etwas „Appetitlicheres" erdenken, um die Richtigkeit unserer Position zu bekräftigen.

1 Die Polemik zwischen dem „Vorwärts" und Südekum spielte sich folgendermaßen ab. In Nr. 44 vom 21. XI. 1908 des „Vorwärts" erschien ein Artikel „Wahlrechtskampf – Klassenkampf", dessen Grundgedanken den Revisionisten Südekum zu einer Kritik in Form einer Korrespondenz aus Berlin unter dem bezeichnenden Titel „Die Taktik der Reaktionäre" veranlassten. Die Korrespondenz erschien in der „Sächsischen Arbeiterzeitung". Der „Vorwärts" antwortete mit dem Artikel „Eine Verleugnung des Klassenkampfes" (in Nr 48 vom 26. Februar), wo die Auffassungen von Südekum ausführlich dargelegt und scharf kritisiert werden, sowie mit dem Artikel „Klassenkampf oder Illusionspolitik" in Nr. 53 vom 3 März.

2 d. h. des allgemeinen Wahlrechts. Die Red.

Kommentare