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Wladimir I. Lenin 19180226 Die Stellung des ZK der SDAPR (B) zur Frage des annexionistischen Separatfriedens

Wladimir I. Lenin: Die Stellung des ZK der SDAPR (B) zur Frage des annexionistischen Separatfriedens1

[„Prawda" Nr. 35, 26. Februar 1918. Nach Sämtliche Werke, Band 22, Zürich 1934, S. 318-321]

Werte Genossen!

Das Organisationsbüro des ZK hält es für notwendig, euch die Motive zu erklären, die das ZK bewogen haben, sich mit den Friedensbedingungen der deutschen Regierung einverstanden zu erklären. Das Organisationsbüro wendet sich damit an euch, Genossen, um alle Mitglieder der Partei über den Standpunkt des ZK ausführlich zu unterrichten, das in der Zeit zwischen den Parteitagen die Gesamtpartei repräsentiert. Das Organisationsbüro hält es für notwendig, darauf hinzuweisen, dass in der Frage der Unterzeichnung der Friedensbedingungen keine Einmütigkeit im ZK bestand. Aber ein Beschluss, der einmal gefasst ist, muss von der ganzen Partei unterstützt werden. In den nächsten Tagen wird der Parteitag zusammentreten, und erst dort wird es möglich sein, die Frage zu entscheiden, inwieweit das ZK die wirkliche Meinung der Gesamtpartei richtig vertreten hat. Bis zum Parteitag führen alle Parteimitglieder im Namen der Parteipflicht, im Namen der Erhaltung der Einheit in unseren eigenen Reihen, die Beschlüsse ihrer zentralen führenden Körperschaft, die Beschlüsse des ZK der Partei durch.

Die unbedingte Notwendigkeit der Unterzeichnung des unerhört schweren Eroberungsfriedens mit Deutschland im gegenwärtigen Augenblick (24. Februar 1918) wird vor allen Dingen dadurch hervorgerufen, dass wir keine Armee haben, dass wir uns nicht verteidigen können.

Alle wissen, warum wir nach dem 7. November (25. Oktober) 1917, nach dem Sieg der Diktatur des Proletariats und der armen Bauernschaft alle Vaterlandsverteidiger geworden sind, warum wir für die Verteidigung des Vaterlandes sind.

Vom Standpunkt der Verteidigung des Vaterlandes ist es unzulässig, sich in einen militärischen Kampf einzulassen, wenn man keine Armee hat und wenn der Feind bis an die Zähne bewaffnet und ausgezeichnet vorbereitet ist.

Die sozialistische Sowjetrepublik kann keinen Krieg führen, wenn die gewaltige Mehrheit der Wähler der Sowjets, der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenmassen, entschieden gegen den Krieg ist. Das wäre ein Abenteuer. Etwas anderes ist es, wenn dieser Krieg durch einen, wenn auch noch so schweren Frieden beendet wird und der deutsche Imperialismus dann abermals einen Angriffskrieg gegen Russland führen will. Dann wird die Mehrheit der Sowjets sicherlich für einen Krieg sein.

Jetzt einen Krieg führen, heißt objektiv, auf die Provokation der russischen Bourgeoisie hereinfallen. Sie weiß sehr gut, dass Russland jetzt wehrlos ist und sogar durch geringfügige Kräfte der Deutschen niedergeschlagen werden kann, die nur die Haupteisenbahnlinien abzuschneiden brauchen, um durch Aushungerung Petrograd und Moskau in ihre Gewalt zu bekommen. Die Bourgeoisie will den Krieg, denn sie will den Sturz der Sowjetmacht und eine Verständigung mit der deutschen Bourgeoisie. Der Triumph der Bourgeoisie in Dünaburg und Reschiza, in Wenden und Hapsal, in Minsk und Drissa beim Einmarsch der Deutschen ist die allerbeste Bestätigung dafür.

Die Verteidigung des revolutionären Krieges im gegenwärtigen Augenblick wird unvermeidlich zu einer revolutionären Phrase. Denn ohne Armee, ohne ernste wirtschaftliche Vorbereitung ist es für ein ruiniertes bäuerliches Land unmöglich, einen modernen Krieg gegen ein fortgeschrittenes imperialistisches Land zu führen. Der Widerstand gegen den deutschen Imperialismus, der uns zertreten wird, wenn er uns gefangen nimmt, ist unbedingt notwendig. Aber eine leere Phrase wäre die Forderung: den Widerstand gerade durch einen bewaffneten Aufstand und gerade im jetzigen Augenblick aufzunehmen, wo ein solcher Widerstand für uns absolut aussichtslos, für die deutsche und die russische Bourgeoisie absolut vorteilhaft ist.

Eine genau solche Phrase ist die Verteidigung des sofortigen revolutionären Krieges mit den Argumenten von der Unterstützung der internationalen sozialistischen Bewegung. Wenn wir dem deutschen Imperialismus dadurch, dass wir den Kampf gegen ihn in einem ungeeigneten Zeitpunkt aufnehmen, die Zertrümmerung der Sowjetrepublik erleichtern, so werden wir der deutschen und der internationalen Arbeiterbewegung und der Sache des Sozialismus nicht helfen, sondern schaden. Man muss durch allseitige, hartnäckige, planmäßige Arbeit nur den revolutionären Internationalisten in allen Ländern helfen, aber sich auf das Abenteuer eines bewaffneten Aufstandes einlassen, wenn er ein ausgesprochenes Abenteuer ist, ist eines Marxisten unwürdig.

Wenn Liebknecht in zwei bis drei Wochen siegt (das ist möglich), so wird er uns natürlich aus allen Schwierigkeiten befreien. Aber es wäre einfach eine Dummheit und eine Verhöhnung der großen Losung der Solidarität der Werktätigen aller Länder, wenn wir vor dem Volke die Bürgschaft übernehmen wollten, dass Liebknecht unvermeidlich und unbedingt in den nächsten Wochen siegen werde. Gerade wenn man so denkt, verwandelt man die große Losung: „Wir haben auf die Weltrevolution gesetzt" in eine leere Phrase.

Die Lage der Dinge ist objektiv dem Sommer 1907 ähnlich. Damals hatte der russische Monarchist Stolypin uns an die Wand gedrückt und gefangen, jetzt der deutsche Imperialist. Damals erwies sich die Losung des sofortigen Aufstandes als eine leere Phrase, die leider die ganze Partei der Sozialrevolutionäre ergriffen hatte. Jetzt, im gegenwärtigen Augenblick, ist die Losung des revolutionären Krieges offenbar eine Phrase, von der sich die linken Sozialrevolutionäre hinreißen ließen, die die Argumente der rechten Sozialrevolutionäre wiederholen. Wir sind Gefangene des deutschen Imperialismus. Uns steht ein schwerer und langwieriger Kampf bevor zum Sturz dieses Preisfechters des Weltimperialismus. Dieser Kampf ist unbedingt der letzte entscheidende Kampf für den Sozialismus, aber diesen Kampf im gegenwärtigen Augenblick mit dem bewaffneten Aufstand gegen den Preisfechter des Imperialismus zu beginnen, ist ein Abenteuer, auf das sich Marxisten niemals einlassen werden.

Systematische, unaufhörliche, allseitige Vorbereitung der Wehrhaftigkeit des Landes, der Selbstdisziplin allüberall, Ausnutzung der schweren Niederlage zur Hebung der Disziplin auf allen Lebensgebieten, um den wirtschaftlichen Aufschwung des Landes zu ermöglichen und die Sowjetmacht zu stärken – das ist die Aufgabe des Tages, das ist die Vorbereitung des revolutionären Krieges mit Taten, nicht mit Worten.

Zum Schluss hält das Organisationsbüro es für notwendig, darauf hinzuweisen, dass der Vormarsch des deutschen Imperialismus bisher noch nicht eingestellt ist und dass alle Parteimitglieder eine einmütige Abwehr organisieren müssen. Wenn man nicht durch Unterzeichnung eines Friedens, wenn auch eines außerordentlich schweren Friedens, Zeit zur Vorbereitung neuer Kämpfe erlangen kann, so muss unsere Partei darauf hinweisen, dass alle Kräfte angespannt werden müssen, um einen ganz offenen Widerstand zu organisieren.

Wenn man Zeit gewinnen, wenigstens eine kurze Atempause für die Organisationsarbeit bekommen kann, so müssen wir das zu erreichen versuchen. Wird uns kein Aufschub gewährt, so muss unsere Partei die Massen zum Kampf, zur energischsten Selbstverteidigung auffordern. Wir sind überzeugt, dass alle Parteimitglieder ihre Pflicht gegenüber der Partei, gegenüber der Arbeiterklasse ihres Landes, gegenüber dem Volk und dem Proletariat erfüllen werden. Indem wir die Sowjetmacht erhalten, erweisen wir dem Proletariat aller Länder in seinem ungeheuer schweren Kampfe gegen seine Bourgeoisie die beste, die wirksamste Unterstützung. Ein größerer Schlag für die Sache des Sozialismus in diesem Moment als der Zusammenbruch der Sowjetmacht in Russland wäre nicht denkbar.

Mit Parteigruß

Organisationsbüro des ZK der SDAPR (B)

1 „Die Stellung des ZK der SDAPR (B) zur Frage des annexionistischen Separatfriedens“ ist nicht von Lenin allein verfasst worden. Die Einleitung und zwei Absätze am Schluss gehören der Feder J. Swerdlows.

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