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Wladimir I. Lenin 19180312 Rede im Moskauer Sowjet

Wladimir I. Lenin: Rede im Moskauer Sowjet

12. März 1918, Stenographischer Bericht

[„Iswestija" Nr. 47 14. März 1918. Nach Sämtliche Werke, Band 22, Zürich 1934, S. 418-424]

Genossen! Wir feiern den Jahrestag der russischen Revolution in einem Augenblick, wo die Revolution schwere Tage durchmacht, wo viele von Kleinmut und Enttäuschung erfasst werden. Wenn wir aber um uns blicken, wenn wir uns an das erinnern, was die Revolution in diesem Jahre getan hat und wie die internationale Lage sich gestaltet, so bleibt bei niemand von uns – ich bin überzeugt davon – Platz für Verzweiflung und Kleinmut. Es kann gar nicht daran gezweifelt werden, dass die Sache der internationalen sozialistischen Revolution, die im Oktober begonnen worden ist, trotz der Schwierigkeiten und Hindernisse, trotz aller Anstrengungen ihrer Feinde siegen wird.

Genossen, erinnert euch daran, welche Wege die russische Revolution gegangen ist wie im Februar, dank des Zusammengehens des Proletariats mit der Bourgeoisie, die erkannt hatte, dass unter dem Zarismus sogar die Existenz der bürgerlichen Gesellschaft unmöglich war, wie im Laufe von wenigen Tagen, infolge des Zusammenwirkens der Arbeiter und des aufgeklärtesten Teils der Bauernschaft, d. h. der Soldaten, die alle Schrecken des Krieges erlebt hatten, – wie es ihnen im Laufe von wenigen Tagen gelang, die Monarchie zu stürzen, die in den Jahren 1905, 1906, 1907 sich gegen unvergleichlich schwerere Schläge zur Wehr setzte und das revolutionäre Russland in Blut ertränkte. Und als nach dem Februarsieg die Bourgeoisie an die Macht kam, begann die Revolution sich mit ungeheurer Schnelligkeit zu entwickeln.

Die russische Revolution schuf etwas, wodurch sie sich sehr scharf von der Revolution in Europa unterscheidet. Sie schuf eine revolutionäre Masse, die durch die Revolution von 1905 zur selbständigen Aktion geschult worden war. Sie hat die Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte gebracht, die unendlich demokratischere Organe sind als die früheren und die Möglichkeit geben, die rechtlose Masse der Arbeiter, Soldaten und Bauern zu erziehen, zu heben, zu führen. Und dank diesen Umständen hat die russische Revolution im Laufe von einigen Monaten jene Etappe der Kompromisspolitik mit der Bourgeoisie zurückgelegt, die in Westeuropa lange Jahrzehnte in Anspruch nahm. Die Bourgeoisie erklärt jetzt, die Arbeiterklasse und ihre Vertreter, die Bolschewiki, seien schuld daran, dass die Armee sich ihren Aufgaben nicht gewachsen gezeigt habe. Aber wir sehen jetzt: wenn damals im März, im April, nicht die Kompromisspolitiker, nicht die Bourgeoisie am Ruder gewesen wäre, die sich ihre Posten erschacherte, die Kapitalisten an die Macht brachte und gleichzeitig die Armee ohne Kleidung und ohne Nahrung ließ, als solche Herrschaften an der Macht standen, wie Kerenski, die sich Sozialisten nannten, in Wirklichkeit aber in allen Taschen die Geheimverträge versteckt hielten, die das russische Volk dazu verpflichteten, bis 1918 zu kämpfen, dann wäre es vielleicht möglich gewesen, die russische Armee und die Revolution vor jenen ungeheuer schweren Prüfungen und Erniedrigungen zu bewahren, die wir durchmachen mussten. Wenn damals die Macht an die Räte übergegangen wäre, wenn die Kompromissler damals, anstatt Kerenski dabei zu helfen, die Armee ins Feuer zu treiben, einen demokratischen Frieden angeboten hätten, dann wäre die Armee nicht so zerschlagen worden. Sie hätten ihr sagen müssen: Gewehr bei Fuß! In der einen Hand hätte sie den zerrissenen Geheimvertrag mit den Imperialisten und das Angebot eines demokratischen Friedens an alle Völker und in der anderen Hand das Gewehr, das Geschütz halten müssen. Die Front aber hätte ganz unversehrt bleiben müssen. Dann hätte man die Armee und die Revolution retten können. Eine solche Geste, sogar vor einem solchen Feinde wie dem deutschen Imperialismus, wenn sogar die gesamte Bourgeoisie, alle Kapitalisten der ganzen Welt, alle Vertreter der bürgerlichen Parteien ihn unterstützt hätten, – hätte dennoch stets der Sache von Nutzen sein können. Sie hätte den Feind dadurch in eine Lage bringen können, in der er einerseits den ihm angebotenen demokratischen Frieden und die entlarvten Verträge, andererseits das Gewehr gesehen hätte. Jetzt haben wir keine solche starke Front. Sie wiederherzustellen, ist allzu schwer, das geht allzu langsam vor sich, denn wir haben dort mit dem Feind noch keinen Kampf geführt. Etwas ganz anderes war der Kampf gegen den Idioten Romanow oder den Prahlhans Kerenski, hier aber haben wir es mit einem Feind zu tun, der alle seine Kräfte und das ganze wirtschaftliche Leben des Landes organisiert hat, um sich vor der Revolution zu schützen. Wir wussten, dass die Kerenskiregierung, anstatt die imperialistischen Verträge zu zerreißen, im Juni 1917 die Soldaten zur Offensive trieb und dass ihre Kräfte nach dieser Offensive endgültig geschwächt wurden. Und wenn man jetzt, im Lager der Bourgeoisie, über unerhörten Zerfall und nationale Schmach schreit, – glauben sie etwa, dass die Revolution, die durch den Krieg, durch die unerhörte Zerstörung hervorgerufen worden ist, so ruhig, so glatt, so friedlich, ohne Qualen, ohne Peinigungen, ohne Schrecken vor sich gehen kann? Wenn irgend jemand sich die Entstehung der Revolution so vorgestellt hat, – nun, so waren das entweder leere Worte oder so konnten nur schwächliche Intellektuelle denken, die die Bedeutung dieses Krieges und der Revolution nicht verstehen. Ja, so denken sie. Aber wir sehen klar, wie in diesem ganzen Prozess ein gewaltiger Aufschwung des Volkes vor sich geht, was die Leute nicht sehen, die über nationale Schmach schreien. Wie dem auch sei, wir haben uns aus dem Krieg herausgerissen. Wir sagen nicht, dass wir das getan haben, ohne etwas abzutreten, ohne einen Tribut zu zahlen. Aber wir haben dem Volke eine Atempause gegeben. Wir wissen nicht, ob diese Atempause von längerer Dauer sein wird. Vielleicht wird sie von sehr kurzer Dauer sein, weil sowohl vom Westen als auch vom Osten imperialistische Räuber die Hand gegen uns ausstrecken und ein neuer Krieg unvermeidlich beginnen wird. Ja, wir schließen die Augen nicht vor der Tatsache, dass bei uns alles zerstört ist. Aber das Volk hat es verstanden, sich von der zaristischen Regierung, von der bürgerlichen Regierung zu befreien und Sowjetorganisationen zu schaffen, die erst jetzt, wo die Soldaten von der Front zurückgekehrt sind, bis in das letzte fernste Dorf hinein gedrungen sind. Und ihre Notwendigkeit und Bedeutung hat die unterste, geknechtetste Schicht, die unterdrückte Masse begriffen, die von den Zaren, den Gutsbesitzern, den Kapitalisten gepeinigt worden ist, die selten imstande war, ihren Geist, ihre schöpferische Kraft in ein Werk hineinzulegen. Sie erreichte es, dass die Sowjetmacht nicht nur in den großen Städten und Fabrikorten sich ausbreitete, sondern auch in alle abgelegenen Winkel hinein drang. Jeder Bauer, der von der Regierung bisher nur Unterdrückung und Raub gesehen hat, sieht jetzt eine Regierung der Armen am Ruder, eine Regierung, die von ihm selbst gewählt wird, die ihn von der Unterdrückung befreit hat und trotz aller unerhörten Hindernisse und Schwierigkeiten ihn auch weiter bringen wird.

Genossen! Wenn wir jetzt Tage schwerer Niederlagen und schwerer Unterdrückung durchmachen, wo die preußischen Junker und Imperialisten der russischen Revolution den Stiefel auf die Brust gesetzt haben, so bin ich doch überzeugt – wie groß auch in einzelnen Kreisen die Empörung und der Unwille sein mag –, dass in der Tiefe der Volksmassen ein Prozess des Schaffens, des Sammelns der Energie, der Disziplin vor sich geht, der uns die Festigkeit geben wird, alle diese Schläge auszuhalten, und der beweist, dass wir die Revolution nicht verraten haben und nicht verraten werden. Wenn wir diese Prüfungen und Niederlagen durchmachen mussten, so ist das geschehen, weil die Geschichte es nicht so glatt, so nett eingerichtet hat, dass alle Werktätigen sich gleichzeitig mit uns in allen Ländern erheben. Wir dürfen nicht vergessen, mit was für einem Feind wir zu tun haben. Bedeuten etwa all die Feinde, mit denen wir bisher zu tun hatten – sowohl Romanow als auch Kerenski, als auch die russische Bourgeoisie, eine stupide, unorganisierte, kulturlose Bourgeoisie, die gestern noch die Stiefel Romanows leckte und dann mit den Geheimverträgen in der Tasche herumlief –, irgend etwas im Vergleich mit jener internationalen Bourgeoisie, die alles, was der menschliche Geist errungen, in ein Werkzeug zur Unterdrückung des Willens der Werktätigen verwandelt und ihre ganze Organisation auf die Ausrottung der Menschen eingestellt hat?

Dieser Feind ist in einem Augenblick über uns hergefallen, wo wir endgültig abgerüstet haben, wo wir rundheraus sagen müssen: wir haben keine Armee, ein Land aber, das seine Armee verloren hat, muss eben einen unerhörten Schandfrieden annehmen.

Wir verraten niemand, wir lassen unsere Brüder nicht im Stich. Aber wir müssen den unerhört schweren Frieden annehmen, müssen die entsetzlichen Bedingungen annehmen, müssen den Rückzug antreten, um Zeit zu gewinnen, damit die Bundesgenossen herankommen können, denn Bundesgenossen haben wir. Wie groß auch der Hass gegen den Imperialismus, wie stark auch das Gefühl, das berechtigte Gefühl des Unwillens und der Empörung gegen ihn sein mag, wir müssen begreifen, dass wir jetzt Vaterlandsverteidiger sind. Wir verteidigen keine Geheimverträge, wir verteidigen den Sozialismus, wir verteidigen das sozialistische Vaterland. Um aber die Möglichkeit zu bekommen, es zu verteidigen, mussten wir die schwersten Erniedrigungen in Kauf nehmen. Wir wissen, dass es in der Geschichte eines jeden Volkes Zeiten gibt, wo man vor dem Ansturm eines Feindes mit stärkeren Nerven zurückweichen muss. Wir haben einen Aufschub erhalten und müssen ihn ausnützen, damit die Armee sich etwas erhole, damit sie in ihrer Masse begreife – nicht nur Zehntausende, die in den großen Städten die Versammlungen besuchen, sondern auch die vielen Millionen, die in die Dörfer zurückgekehrt sind –, dass der alte Krieg zu Ende ist, dass ein neuer Krieg beginnt, ein Krieg, auf den wir mit einem Friedensangebot geantwortet haben, ein Krieg, in dem wir Zugeständnisse gemacht haben, um unsern Mangel an Disziplin, unsere Faulheit, unsere Schlappheit zu überwinden, mit der wir den Zarismus und die russische Bourgeoisie besiegen konnten, aber nicht die europäische, nicht die internationale Bourgeoisie. Wenn wir es verstehen, diese Mängel zu überwinden, so werden wir gewonnenes Spiel haben, denn wir haben Verbündete. Davon sind wir fest überzeugt.

Was sich auch die internationalen Imperialisten jetzt herausnehmen mögen, die unsere Niederlage sehen, in ihren Ländern reifen ihre Feinde und unsere Verbündete heran. Wir wussten und wissen mit Bestimmtheit, dass in der deutschen Arbeiterklasse dieser Prozess vielleicht langsamer vor sich geht, als wir es erwartet haben, als wir es vielleicht wünschen, aber es besteht kein Zweifel, dass die Empörung gegen die Imperialisten wächst, dass die Zahl der Bundesgenossen für unser Werk wächst – und dass sie uns zu Hilfe eilen werden.

Ihr müsst es verstehen, Kräfte zu schaffen, eine Losung auszugeben. Stellt die Disziplin her. Das ist unsere Pflicht gegenüber der sozialistischen Revolution. Unter solchen Umständen werden wir imstande sein, uns zu behaupten, bis das verbündete Proletariat uns zu Hilfe eilt, und zusammen mit ihm werden wir alle Imperialisten und alle Kapitalisten besiegen.

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