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Wladimir I. Lenin 19180124 Reden über Krieg und Frieden

Wladimir I. Lenin: Reden über Krieg und Frieden

in der Sitzung des ZK der (SDAPR (B) am 24. (11.) Januar 1918. Protokollarische Aufzeichnungen

[Zum ersten Mal veröffentlicht in N. Lenin, Gesammelte Werke, Bd. XV, 1922. Nach Sämtliche Werke, Band 22, Zürich 1934, S. 200-204]

Als erster ergreift Lenin das Wort. Er weist darauf hin, dass in der Sitzung vom 21. (8.) Januar in dieser Frage drei Auffassungen zutage getreten sind. Er stellt die Frage, ob man nach den einzelnen Punkten der von ihm dargelegten Thesen diskutieren oder eine allgemeine Diskussion eröffnen solle. Es wird der letzte Vorschlag angenommen und Lenin das Wort erteilt.

Er beginnt mit der Darlegung der drei Auffassungen, die in der vorigen Sitzung zutage getreten sind: 1. annexionistischer Separatfrieden, 2. revolutionärer Krieg und 3. Proklamierung der Einstellung des Krieges, Demobilisierung der Armee, aber keine Unterzeichnung des Friedens. In der vorigen Sitzung wurden für die erste Auffassung 15, für die zweite 32 und für die dritte 16 Stimmen abgegeben.

Lenin weist darauf hin, dass die Bolschewiki niemals die Verteidigung abgelehnt haben, aber diese Verteidigung des Vaterlandes bedurfte einer bestimmten, konkreten Situation, die gegenwärtig vorhanden ist, nämlich: die Verteidigung der sozialistischen Republik gegen den ungeheuer starken internationalen Imperialismus. Die Frage besteht lediglich darin, wie wir das Vaterland, die sozialistische Republik, verteidigen müssen. Die Armee ist durch den Krieg außerordentlich erschöpft; mit dem Pferdematerial steht es so, dass wir bei einer Offensive nicht imstande sein werden, die Artillerie wegzuschaffen. Die Lage der Deutschen auf den Inseln der Ostsee ist so günstig, dass sie bei einer Offensive Reval und Petrograd mit bloßen Händen nehmen können. Wenn wir unter diesen Bedingungen den Krieg fortsetzen, so werden wir den deutschen Imperialismus ungeheuer stärken. Frieden werden wir sowieso schließen müssen, aber dann wird der Frieden schlechter ausfallen, denn nicht wir werden diesen Frieden schließen. Zweifelsohne ist der Frieden, den wir jetzt zu schließen gezwungen sind, ein Schandfrieden, aber wenn wir den Krieg aufnehmen, dann wird unsere Regierung fortgefegt und der Frieden von einer anderen Regierung geschlossen werden. Jetzt stützen wir uns nicht nur auf das Proletariat, sondern auch auf die arme Bauernschaft, die uns verlassen wird, wenn wir den Krieg fortsetzen. Den Krieg in die Länge zu ziehen, liegt im Interesse des französischen, englischen und amerikanischen Imperialismus. Das beweist z. B. das Angebot der Engländer an Krylenko im Hauptquartier, für jeden russischen Soldaten 100 Rubel zu zahlen. Die Anhänger des revolutionären Krieges weisen darauf bin, dass wir uns eben damit im Zustande des Bürgerkrieges mit dem deutschen Imperialismus befinden und auf diese Weise in Deutschland die Revolution entfachen werden. Aber Deutschland geht erst mit der Revolution schwanger, während bei uns bereits ein vollkommen gesundes Kind das Licht der Welt erblickt hat, – die sozialistische Republik, ein Kind, das wir töten können, wenn wir dem Krieg beginnen. In unseren Händen ist ein Rundschreiben der deutschen Sozialdemokraten. Wir besitzen Nachrichten über die Stellung der zwei Richtungen der Zentristen zu uns, von denen die eine der Auffassung ist, dass wir bestochen seien, und dass jetzt in Brest-Litowsk eine Komödie mit vorher verteilten Rollen vor sich gehe. Dieser Teil greift uns wegen des Waffenstillstandes an. Der andere Teil der Kautskyaner erklärt, dass die persönliche Ehrenhaftigkeit der Führer der Bolschewiki über jeden Zweifel erhaben sei, dass aber das Verhalten der Bolschewiki ein psychologisches Rätsel darstelle.1 Die Meinung der linken Sozialdemokraten kennen wir nicht. Die englischen Arbeiter unterstützen unsere Friedensbestrebungen. Gewiss, der Frieden, den wir schließen werden, wird ein Schandfrieden sein, aber wir brauchen eine Pause zur Durchführung der sozialen Reformen (man denke nur an das Transportwesen); wir müssen erstarken, dazu aber brauchen wir Zeit. Wir müssen die Bourgeoisie vollständig vernichten. Dazu aber ist notwendig, dass wir beide Hände frei haben. Tun wir das, so bekommen wir beide Hände frei und können dann einen revolutionären Krieg gegen den internationalen Imperialismus führen. Die jetzt geschaffenen Abteilungen der revolutionären Freiwilligenarmee sind die Offiziere unserer künftigen Armee.

Was Genosse Trotzki vorschlägt, – Einstellung des Krieges, Ablehnung der Unterzeichnung des Friedens und Demobilisierung der Armee – ist eine internationale politische Demonstration. Dadurch, dass wir die Truppen zurückziehen, liefern wir den Deutschen die sozialistische Republik Estland aus. Man behauptet, dass wir durch den Friedensschluss den Japanern und Amerikanern die Hände frei machen, die sofort Wladiwostok besetzen werden. Aber bis sie Irkutsk erreichen, werden wir imstande sein, unsere sozialistische Republik zu stärken. Indem wir den Frieden unterzeichnen, „verraten" wir natürlich die Selbstbestimmung Polens, aber wir erhalten die sozialistische Republik Estland und bekommen die Möglichkeit, unsere Errungenschaften zu festigen. Gewiss, wir machen eine Schwenkung nach rechts, die durch einen sehr schmutzigen Stall führt, aber wir müssen sie machen. Wenn die Deutschen die Offensive ergreifen, so werden wir gezwungen sein, jeden Frieden zu unterzeichnen, aber dann wird der Friede schlechter ausfallen. Für die Rettung der sozialistischen Republik ist eine Kontribution von 3 Milliarden kein allzu hoher Preis. Wenn wir jetzt den Frieden unterzeichnen, so zeigen wir den breiten Massen handgreiflich, dass die Imperialisten (Deutschlands, Englands und Frankreichs) nach der Einnahme von Riga und Bagdad den Krieg fortsetzen, während wir und die sozialistische Republik uns entwickeln.

II

Lenin weist darauf hin, dass er in einigen Punkten mit seinen Anhängern Stalin und Sinowjew nicht einverstanden sei.2 Gewiss, wir haben im Westen eine Massenbewegung, aber die Revolution hat dort noch nicht begonnen. Wenn wir jedoch deswegen unsere Taktik ändern wollten, so würden wir am internationalen Sozialismus Verrat begehen. Mit Sinowjew ist er darin nicht einverstanden, dass der Friedensschluss vorübergehend die Bewegung im Westen schwächen werde. Wenn wir daran glauben, dass die Bewegung in Deutschland im Falle eines Abbruchs der Friedensverhandlungen sofort zum Ausbruch kommen kann, so müssen wir uns opfern, denn die deutsche Revolution wird viel stärker sein als unsere. Aber das ist es ja, dass die Bewegung dort noch nicht begonnen hat, während wir bereits ein neugeborenes, laut schreiendes Kind haben. Wenn wir im gegenwärtigen Augenblick nicht klar sagen, dass wir damit einverstanden sind, Frieden zu schließen, so werden wir untergehen. Für uns ist es wichtig, dass wir uns bis zum Ausbruch der allgemeinen sozialistischen Revolution halten, das aber können wir nur erreichen, wenn wir Frieden schließen.

III

Lenin schlägt vor, über den Antrag abzustimmen, dass wir auf jede Weise die Unterzeichnung des Friedens hinauszögern sollen.

1 Die Erklärung, dass die persönliche Ehrlichkeit der Bolschewiki nicht angezweifelt werden könne, dass aber ihr Verhalten ein psychologisches Rätsel sei, ist offenbar von Lenin dem Artikel eines „namhaften Vertreters der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands" entnommen, der ohne Unterschrift in der „Nowaja Schisn" Nr. 7 vom 24. (11.) Januar 1918 erschien und in dem es heißt: „Was uns deutsche Sozialisten betrifft, so sind wir auf Grund unserer langjährigen Beziehungen zu Lenin und Trotzki von ihrer persönlichen Ehrlichkeit überzeugt, stehen aber vor einem unlösbaren Rätsel."

2 J. Stalin erklärte in der Sitzung des ZK vom 24. (11.) Januar: „Eine revolutionäre Bewegung im Westen gibt es nicht; es sind keine Tatsachen vorhanden; es ist nur eine Potenz da, aber mit einer Potenz können wir nicht rechnen."

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