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Wladimir I. Lenin 19180328 Ursprünglicher Entwurf des Aufsatzes „Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht"

Wladimir I. Lenin: Ursprünglicher Entwurf des Aufsatzes „Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht"

Stenographische Aufzeichnung1

[Diktiert am 28. März 1918. Zum ersten Mal veröffentlicht in „Prawda" Nr. 86, 14. April 1929. Nach Sämtliche Werke, Band 22, Zürich 1934, S. 461-478]

Kapitel X2

Die Sowjetpresse hat jenen politischen Kleinigkeiten, jenen persönlichen Fragen der politischen Führung, mit denen die Kapitalisten aller Länder versuchen, die Aufmerksamkeit der Volksmassen von den wirklich ernsten, tiefen und grundlegenden Fragen ihres Lebens abzulenken, außerordentlich viel Platz und Aufmerksamkeit gewidmet. In dieser Hinsicht müssen wir fast ganz von Neuem an die Lösung der Aufgabe herangehen, für die alle materiellen Voraussetzungen vorhanden sind. Es fehlt nur das Bewusstsein von der Notwendigkeit dieser Aufgabe und die Bereitschaft, sie zu lösen, Und das ist die Aufgabe, die Presse aus einem Organ, das vorwiegend über politische Tagesneuigkeiten unterrichtet, in ein ernstes Organ der wirtschaftlichen Erziehung der Volksmassen zu verwandeln. Wir müssen es erreichen, und wir werden es erreichen, dass die Presse, die für die Massen der Sowjetrepublik schreibt, den Fragen der personellen Zusammensetzung der politischen Führung oder unbedeutenden politischen Maßnahmen, die die gewöhnliche Tätigkeit, die übliche Arbeit aller politischen Institutionen bilden, weniger Platz einräume. An erster Stelle muss die Presse die Fragen der Arbeit in ihrer unmittelbar praktischen Bedeutung stellen. Die Presse muss ein Organ der Arbeitskommune in dem Sinne werden, dass sie gerade das der Öffentlichkeit unterbreitet, was die Leiter der kapitalistischen Unternehmen vor den Massen zu verheimlichen suchten. Für den Kapitalisten war die innere Organisation seines Betriebs eine Art kaufmännischen Geheimnisses, das vor dem unbefugten Publikum gehütet wurde, etwas, wo man allmächtig und selbstherrlich sein wollte, wo man nicht nur vor Kritik, nicht nur vor einer Einmischung von außen, sondern auch vor fremden Augen geschützt sein wollte. Für die Sowjetmacht dagegen ist gerade die Organisation der Arbeit in den einzelnen Großbetrieben und in den einzelnen Dorfgemeinden die wichtigste, grundlegendste und brennendste Frage des gesamten öffentlichen Lebens. Unser Hauptmittel zur Hebung der Selbstdisziplin der Werktätigen und zum Übergang von den alten, ganz untauglichen Methoden der Arbeit oder – Methoden der Meidung der Arbeit in der kapitalistischen Gesellschaft – unser Hauptmittel muss die Presse sein, die die Mängel des wirtschaftlichen Lebens in jeder Arbeitskommune aufdeckt, diese Mängel erbarmungslos brandmarkt, alle Eiterbeulen unseres wirtschaftlichen Lebens aufdeckt und auf diese Weise an die öffentliche Meinung der Werktätigen zur Heilung dieser Eiterbeulen appelliert. Mag man bei uns auch zehnmal so wenig Material in den Zeitungen bringen (es wäre vielleicht ganz gut, wenn man hundertmal weniger davon brächte), das sich mit den sogenannten Tagesfragen beschäftigt, wenn wir nur eine in Hunderttausenden und Millionen Exemplaren verbreitete Presse bekommen, die die gesamte Bevölkerung mit der musterhaften Organisation in einigen die anderen überflügelnden Arbeitskommunen des Staates bekanntmacht. Jede Fabrik, jedes Artel und jeder landwirtschaftliche Betrieb, jede Siedlung, die zur neuen Landbearbeitung unter Anwendung des Gesetzes über die Sozialisierung des Grund und Bodens übergeht, ist jetzt im Sinne der demokratischen Grundlagen der Sowjetmacht eine selbständige Kommune mit eigener innerer Organisation der Arbeit. Die Hebung der Selbstdisziplin der Werktätigen in jeder dieser Kommunen, ihre Fähigkeit, mit den leitenden Fachleuten zusammenzuarbeiten, wenn diese auch aus der bürgerlichen Intelligenz stammen, die Erreichung von praktischen Resultaten bei der Hebung der Arbeitsproduktivität, der Ersparung menschlicher Arbeit, der Bewahrung der Waren vor jener unerhörten Verschleuderung, an der wir jetzt so außerordentlich schwer leiden – das muss der Inhalt des größten Teils des Materials unserer Sowjetpresse sein.

Auf diesem Wege können und müssen wir erreichen, dass die Kraft des Beispiels in erster Linie zu einem moralischen und dann zu einem zwangsweise eingeführten Vorbild der Organisation der Arbeit im neuen Russland der Sowjets werde.

In der kapitalistischen Gesellschaft hat es wiederholt Beispiele gegeben, wo Menschen, die hofften, friedlich und schmerzlos die Menschheit von den Vorzügen des Sozialismus zu überzeugen und seine Einführung zu ermöglichen, Arbeitskommunen schufen. Unter den revolutionären Marxisten ruft ein solcher Standpunkt, rufen solche Arbeitsmethoden einen durchaus berechtigten Spott hervor, denn unter der kapitalistischen Sklaverei wäre es wirklich eine bloße Phantasie, irgendwelche radikalen Änderungen herbeiführen zu wollen, eine Phantasie, die in der Praxis entweder zur Schaffung von nicht lebensfähigen Unternehmen oder aber zur Verwandlung dieser Unternehmen in Verbände kleiner Kapitalisten führt. Diese Gewohnheit, mit Spott und Geringschätzung auf die Bedeutung des Beispiels in der Gesamtvolkswirtschaft herabzublicken, tritt auch jetzt mitunter bei Leuten zutage, die nicht die grundlegende Änderung durchdacht haben, die seit der Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat eingetreten ist. Jetzt, wo das Land aufgehört hat, Privateigentum zu sein, wo die Fabriken und Werke fast aufgehört haben, Privateigentum zu sein, und zweifellos in der allernächsten Zukunft ganz aufhören werden, Privateigentum zu sein, (die entsprechenden Dekrete zu erlassen, bildet für die Sowjetmacht in ihrer jetzigen Lage absolut keine Schwierigkeit) – jetzt hat die Bedeutung des Beispiels der Arbeitskommune, das, besser als irgendwelche anderen Methoden, die organisatorischen Aufgaben löst, eine gewaltige Bedeutung erlangt. Wir müssen gerade jetzt dafür sorgen, dass die Menge außerordentlich wertvollen Materials, das wir in den Erfahrungen der Neuorganisation der Produktion in den einzelnen Städten, in den einzelnen Betrieben, in den einzelnen Dorfgemeinden haben, – dass diese Erfahrungen zum Gemeingut der Massen werden. Wir stehen bisher immer noch unter einem ziemlichen Druck der alten öffentlichen Meinung der Bourgeoisie. Wenn man einen Blick in unsere Zeitungen wirft, so kann man sich leicht davon überzeugen, wie übermäßig viel Platz wir noch den Fragen einräumen, die von der Bourgeoisie gestellt werden, mit denen sie die Aufmerksamkeit der Werktätigen von den konkreten praktischen Aufgaben der sozialistischen Umgestaltung ablenken will. Wir müssen – und werden – die Presse aus einem Sensationsorgan, aus einem einfachen Apparat zur Information über politische Neuigkeiten, aus einem Organ des Kampfes gegen die bürgerliche Lüge in ein Werkzeug der wirtschaftlichen Erziehung der Massen verwandeln, in ein Werkzeug der Information der Massen darüber, wie man die Arbeit nach neuen Methoden organisieren muss. Betriebe oder Dorfgemeinden, die auf keinerlei Aufrufe und Aufforderungen über die Wiederherstellung der Selbstdisziplin und die Hebung der Arbeitsproduktivität reagieren, werden von den sozialistischen Parteien auf das Schwarze Brett gestellt und entweder in die Kategorie der kranken Betriebe eingereiht werden, bei denen man Maßnahmen zu ihrer Gesundung ergreifen muss, und zwar durch besondere Vorkehrungen, besondere Verordnungen und Bestimmungen – oder in die Kategorie der bestraften Betriebe, die zu schließen sind, und deren Mitarbeiter vor ein Volksgericht gestellt werden müssen. Die Behandlung dieser Fragen vor der breiten Öffentlichkeit wird an und für sich schon eine gewaltige Reform sein und die Heranziehung der breiten Volksmassen zur selbständigen Teilnahme an der Lösung dieser Fragen, die die Interessen der Massen am meisten berühren, fördern. Bisher ist uns in dieser Hinsicht gerade deswegen so wenig gelungen, weil das, was bisher in den einzelnen Betrieben, in den einzelnen Gemeinden vor der Öffentlichkeit verborgen gehalten wurde, genau so wie früher Geheimnis geblieben ist, was unter dem Kapitalismus verständlich war, aber sinnlos und ungereimt in einer Gesellschaft ist, die den Sozialismus verwirklichen will. Die Kraft des Beispiels, die sich in der kapitalistischen Gesellschaft nicht offenbaren konnte, wird in einer Gesellschaft, die das Privateigentum an Grund und Boden und an den Fabriken aufgehoben hat, eine gewaltige Bedeutung erlangen, nicht nur deshalb, weil man hier vielleicht dem guten Beispiel nacheifern wird, sondern auch deshalb, weil das beste Beispiel der Organisation der Produktion von einer unvermeidlichen Erleichterung der Arbeit und Steigerung der Verbrauchsmenge für diejenigen begleitet sein wird, die diese bessere Organisation durchführen. Und hier müssen wir im Zusammenhang mit der Frage der Bedeutung der Presse, als eines Organs der wirtschaftlichen Reorganisation und der Erziehung der Massen, auch die Frage der Bedeutung der Presse für die Organisierung des Wettbewerbs streifen.

Die Organisierung des Wettbewerbs muss unter den Aufgaben der Sowjetmacht auf wirtschaftlichem Gebiet einen bedeutenden Platz einnehmen. Die bürgerlichen Ökonomisten haben wiederholt bei ihrer Kritik am Sozialismus erklärt, dass die Sozialisten die Bedeutung des Wettbewerbs leugnen oder ihm keinen Platz in ihrem System oder, wie sie sich ausdrückten, in ihrem Plan der gesellschaftlichen Organisation einräumen. Es braucht nicht erst gesagt zu werden, wie unsinnig dieser Vorwurf ist, der bereits wiederholt in der sozialistischen Presse widerlegt worden ist. Die bürgerlichen Ökonomisten haben, wie immer, die Frage der Besonderheiten der kapitalistischen Gesellschaft mit der Frage einer anderen Form der Organisation des Wettbewerbs verwechselt Die Angriffe der Sozialisten waren niemals gegen den Wettbewerb als solchen gerichtet, sondern nur gegen die Konkurrenz. Die Konkurrenz aber ist eine besondere Form des Wettbewerbs, die der kapitalistischen Gesellschaft eigen ist und die in dem Kampf der einzelnen Produzenten um das Stück Brot, um den Einfluss, um den Platz auf dem Markt besteht. Die Beseitigung der Konkurrenz als eines Kampfes, der nur an den Markt der Produzenten gebunden ist, bedeutet keineswegs die Beseitigung des Wettbewerbs. Im Gegenteil, gerade die Beseitigung der Warenproduktion und des Kapitalismus eröffnet die Möglichkeit einer Organisierung des Wettbewerbs nicht in barbarischen, sondern in menschlichen Formen. Gerade jetzt, in Russland, auf den Grundlagen der politischen Macht, die durch die Sowjetrepublik geschaffen worden sind, unter den ökonomischen Besonderheiten, die für Russland mit seinem unermesslichen Gebiet und der ungeheuren Mannigfaltigkeit der Verhältnisse kennzeichnend sind, gerade jetzt muss bei uns die Organisierung des Wettbewerbs auf sozialistischer Grundlage eine der wichtigsten und dankbarsten Aufgaben der Reorganisation der Gesellschaft bilden.

Wir sind für den demokratischen Zentralismus. Und man muss sich darüber klar werden, wie sehr sich der demokratische Zentralismus einerseits vom bürokratischen Zentralismus, andererseits vom Anarchismus unterscheidet. Die Gegner des Zentralismus weisen stets auf die Autonomie und die Föderation hin, als Mittel zum Kampf gegen die Zufälligkeiten des Zentralismus. In Wirklichkeit schließt der demokratische Zentralismus keineswegs, die Autonomie aus, sondern setzt vielmehr ihre Notwendigkeit voraus. In Wirklichkeit widerspricht sogar die Föderation, wenn sie in vernünftigen Grenzen – vom wirtschaftlichen Standpunkt – durchgeführt wird, wenn sie auf ernsten nationalen Verschiedenheiten basiert, die wirklich die Notwendigkeit einer gewissen staatlichen Abgrenzung erheischen, keineswegs dem demokratischen Zentralismus. Die Föderation ist durchweg bei einer wirklich demokratischen Ordnung, und um so mehr bei einem Staatsaufbau nach dem Räteprinzip, nur ein Übergangsschritt zu einem wirklich demokratischen Zentralismus. Das. Beispiel der Sowjetrepublik Russland zeigt besonders anschaulich, dass jetzt die Föderation, die wir einführen und einführen werden, der sicherste Schritt ist zur dauerhaftesten Vereinigung der verschiedenen Nationalitäten Russlands zu einem einheitlichen demokratischen zentralisierten Sowjetstaat.

Und genau so, wie der demokratische Zentralismus keineswegs die Autonomie und die Föderation ausschließt, schließt er auch keineswegs die völlige Freiheit der verschiedenen Gebiete und sogar der verschiedenen Gemeinden des Staates bei der Ausarbeitung der mannigfaltigen Formen sowohl des staatlichen als auch des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens aus, sondern setzt sie vielmehr voraus. Nichts ist falscher als die Verwechslung des demokratischen Zentralismus mit Bürokratismus, und Schematismus. Unsere Aufgabe besteht jetzt darin, gerade den demokratischen Zentralismus auf dem Gebiet der Wirtschaft durchzuführen, für eine gute Organisation und Einheitlichkeit des Funktionierens solcher wirtschaftlicher Unternehmen wie Eisenbahn, Post, Telegraph und sonstiger Transportmittel usw. zu sorgen, aber gleichzeitig setzt der Zentralismus in wirklich demokratischem Sinne die zum ersten Mal in der Geschichte geschaffene Möglichkeit der völligen und unbehinderten Entwicklung nicht nur der örtlichen Besonderheiten, sondern auch der örtlichen Initiative, der Mannigfaltigkeit der Wege, Methoden und Mittel in der Richtung zum gemeinsamen Ziel voraus. Deshalb hat die Aufgabe der Organisierung des Wettbewerbs zwei Seiten: einerseits erfordert sie die Durchführung des demokratischen Zentralismus so, wie wir das oben geschildert haben, andererseits bedeutet sie die Möglichkeit der Auffindung des richtigsten, sparsamsten Weges zur Reorganisierung der Wirtschaftsordnung Russlands. Ganz allgemein gesprochen ist dieser Weg bekannt. Er besteht in dem Übergang zum Großbetrieb, der mit Maschinen arbeitet, in dem Übergang zum Sozialismus. Aber die konkreten Bedingungen und Formen dieses Übergangs sind unvermeidlich mannigfaltig, müssen mannigfaltig sein, je nach den Bedingungen, unter denen die Bewegung beginnt, die auf den Aufbau des Sozialismus gerichtet ist. Sowohl die örtlichen Besonderheiten als auch die Besonderheiten der Wirtschaftsform, als auch die Lebensformen und der Grad der Schulung der Bevölkerung, als auch die Versuche, diesen oder jenen Plan durchzuführen – alles das muss in der Eigenart des Weges zum Sozialismus in dieser oder jener Arbeitskommune des Staates seinen Ausdruck finden. Je größer diese Mannigfaltigkeit sein wird – wenn sie natürlich nicht in Originalitätshascherei ausartet, desto sicherer und schneller werden wir sowohl den demokratischen Zentralismus als auch die sozialistische Wirtschaft verwirklichen, Wir haben jetzt nur noch den Wettbewerb zu organisieren, d. h. eine öffentliche Information zu schaffen, die allen Gemeinden des Staates die Möglichkeit gibt, sich darüber zu informieren, wie gerade die wirtschaftliche Entwicklung in den verschiedenen Gebieten vor sich gegangen ist, zweitens, dafür zu sorgen, dass die Ergebnisse der Entwicklung zum Sozialismus in der einen oder anderen Kommune des Staates verglichen werden können, drittens, dafür zu sorgen, dass Erfahrungen, die in der einen oder anderen Gemeinde gemacht worden sind, von anderen Gemeinden in der Praxis wiederholt werden, dass die Möglichkeit des Austausche jener materiellen und menschlichen Kräfte geschaffen werde, die sich auf dem betreffenden Gebiet der Volkswirtschaft oder Staatsverwaltung von ihrer besten Seite gezeigt haben. Erdrückt von der kapitalistischen Ordnung, können wir uns gegenwärtig nicht einmal genau vorstellen, welche reichen Kräfte in den Massen der Werktätigen, in den mannigfaltigen Arbeitskommunen eines großen Staates, in den intellektuellen Kräften stecken, die bisher als stumme Vollstrecker der Pläne der Kapitalisten arbeiteten, welche Kräfte noch schlummern und in einer sozialistischen Organisation der Gesellschaft geweckt werden können. Unsere Aufgabe besteht lediglich darin, allen diesen Kräften die Bahn frei zu machen. Und wenn wir die Organisierung des Wettbewerbs zu unserer staatlichen Aufgabe machen, dann werden sich – unter der Voraussetzung der Durchführung der Räteprinzipien des Staatsaufbaus, unter der Voraussetzung der Beseitigung des Privateigentums an Grund und Boden, an Fabriken, Betrieben, usw. – die Resultate unvermeidlich einstellen und uns den Weg zu den weiteren Formen des Aufbaus weisen.

Kapitel XI

Die Resolution des Außerordentlichen Rätekongresses, die ich zu Anfang erwähnt habe, spricht übrigens von der Notwendigkeit der Schaffung einer straffen und starken Organisation. Gegenwärtig ist der Grad der Organisation sowohl in den Sowjetinstitutionen als auch in den wirtschaftlichen Einheiten, die in Russland arbeiten, außerordentlich niedrig. Man kann sagen, dass ein Zustand einer ungeheuren Desorganisation vorherrscht.

Aber es wäre falsch, diesen Zustand als einen Zustand des Zerfalls, des Zusammenbruchs und Verfalls einzuschätzen. Wenn die bürgerliche Presse eine solche Einschätzung gibt, so ist es klar, dass die Interessen der Kapitalistenklasse die Leute dazu veranlassen, die Dinge so zu sehen oder, genauer gesagt, sie veranlassen, so zu tun. als ob sie die Dinge so sehen. In Wirklichkeit aber wird jeder Mensch, der halbwegs imstande ist, die Dinge vom geschichtlichen Standpunkt zu betrachten, keinen Augenblick daran zweifeln, dass der jetzige Zustand der Desorganisation ein Übergangszustand ist, ein Übergang vom Alten zum Neuen, ein Zustand des Wachstums dieses Neuen ist. Wenn der Übergang vom Alten zum Neuen so jäh vor sich geht, wie in Russland seit Februar 1917, so bedingt er natürlich eine gewaltige Zerstörung des Faulen und Morschen im gesellschaftlichen Leben. Und es ist klar, dass man auf der Suche nach dem Neuen nicht sofort zu solchen ausgeprägten, eingebürgerten, fast erstarrten endgültigen Formen kommen kann, die sich früher im Laufe von Jahrhunderten herausgebildet und Jahrhunderte lang erhalten haben. Die jetzigen Sowjetinstitutionen und diejenigen Wirtschaftsinstitutionen, die unter den Begriff Arbeiterkontrolle in der Industrie fallen – diese Organisationen befinden sich noch in der Periode der Gärung und der völligen Unfertigkeit. In diesen Organisationen überwiegt natürlich eine Seite, überwiegt sozusagen das Diskutieren und Abhalten von Versammlungen die praktische Seite. Das kann auch nicht anders sein, denn ohne Heranziehung neuer Schichten des Volkes zum Aufbau der Gesellschaft, ohne Wecken der Aktivität der breiten Massen, die bisher geschlummert haben, kann keine Rede sein von irgendeiner revolutionären Umgestaltung. Die unendlichen Diskussionen und unendlichen Versammlungen – von denen die bürgerliche Presse so viel und mit einer solchen Wut schreibt – sind der notwendige Übergang der noch ganz ungeschulten Massen zum Aufbau der Gesellschaft, der Übergang vom historischen Schlummer zu neuem historischen Schöpfertum. Es ist absolut nichts Schreckliches, dass dieser Übergang sich hier und da verzögert, oder, dass die Unterweisung der Massen in der neuen Tätigkeit nicht mit der Schnelligkeit vor sich geht, von der nur ein Mensch träumen kann, der gewöhnt ist, allein zu arbeiten, und nicht versteht, was es heißt, Hunderte, Tausende und Millionen zum selbständigen politischen Leben emporzuheben. Aber wenn wir das verstehen, so müssen wir auch den in dieser Hinsicht heranbrechenden Umschwung verstehen. Solange die Sowjetinstitutionen sich nicht über ganz Russland ausgebreitet hatten, solange die Sozialisierung des Bodens und die Nationalisierung der Fabriken eine Ausnahme von der allgemeinen Regel bildeten, solange war es natürlich, dass auch die gesellschaftliche Leitung der Volkswirtschaft (wenn man die Wirtschaft des gesamten Staates nimmt) aus dem Stadium der vorbereitenden Diskussion, aus dem Stadium der Beratung, aus dem Stadium der Auslegung noch nicht herauskommen konnte. Gerade jetzt beginnt der Umschwung. Die Sowjetinstitutionen haben sich über ganz Russland ausgebreitet. Von Großrussland haben sie auf die gewaltige Mehrheit der anderen Nationalitäten Russlands übergegriffen. Die Sozialisierung des Bodens auf dem Lande und die Arbeiterkontrolle in den Städten haben aufgehört, eine Ausnahme zu sein, sind im Gegenteil zur Regel geworden.

Andererseits erfordert die außerordentlich kritische und sogar verzweifelte Lage des Landes im Sinne der Garantierung auch nur der einfachen Möglichkeit der Existenz für die Mehrheit der Bevölkerung, der Sicherung der Bevölkerung vor dem Hunger – diese wirtschaftlichen Verhältnisse erheischen dringend die Erzielung bestimmter praktischer Resultate. Das Dorf wäre imstande, sich mit seinem Getreide zu ernähren. Darüber besteht kein Zweifel. Aber es wird dazu nur imstande sein, wenn wirklich mit absoluter Strenge eine Bestandsaufnahme des ganzen vorhandenen Getreides durchgeführt wird, und wenn es mit größter Sparsamkeit und Sorgfalt unter der gesamten Bevölkerung verteilt wird. Zu einer richtigen Verteilung bedarf es jedoch einer richtigen Organisation des Transportwesens. Aber das Transportwesen ist gerade durch den Krieg am meisten zerstört worden. Und zur Wiederherstellung des Transportwesens in einem Lande, das so gewaltige Entfernungen aufzuweisen hat wie Russland, bedarf es vor allem einer straffen, starken Organisation, müssen wirklich Millionen Menschen mit der Genauigkeit eines Uhrmechanismus arbeiten. Jetzt ist gerade der Augenblick des Umschwunges eingetreten, wo wir, ohne auch nur im Geringsten die Vorbereitung der Massen zur Teilnahme an der staatlichen und wirtschaftlichen Verwaltung aller Angelegenheiten der Gesellschaft zu unterbrechen, ohne auch nur im Geringsten die gründlichste Beratung der neuen Aufgaben zu unterbrechen (im Gegenteil, wir müssen den Massen in jeder Weise helfen, die Diskussion durchzuführen, damit sie selbständig zu richtigen Schlüssen gelangen), gleichzeitig anfangen müssen, zwei Kategorien der demokratischen Funktionen streng auseinanderzuhalten: einerseits die Diskussionen, das Abhalten von Versammlungen, andererseits die Einführung der strengsten Verantwortung für die Durchführung und eine unbedingt aktive, disziplinierte, freiwillige Durchführung der Befehle und Anordnungen, die notwendig sind, damit der Wirtschaftsmechanismus wirklich wie eine Uhr arbeite. Dazu konnte man nicht auf einmal kommen. Das vor einigen Monaten zu fordern, wäre Pedantismus oder sogar böswillige Provokation gewesen. Diese Umgestaltung kann man, ganz allgemein gesprochen, durch keinerlei Dekret, durch keinerlei Befehl herbeiführen. Aber es ist die Zeit gekommen, wo der Mittelpunkt unserer gesamten revolutionären umgestaltenden Arbeit die Verwirklichung gerade dieser Umgestaltung ist. Jetzt ist sie vorbereitet, jetzt sind die Verhältnisse dazu reif, und jetzt darf man nicht weiter aufschieben und warten. Unlängst, bei der Beratung der Frage der Reorganisation und des richtigen Aufbaus des Eisenbahnwesens entstand die Frage, wie weit die persönliche administrative Macht (eine Macht, die man als diktatorisch bezeichnen könnte) sich mit demokratischen Organisationen überhaupt und dem kollegialen Verwaltungsprinzip und dem sozialistischen Sowjetprinzip der Organisation im Besonderen vereinbaren lässt. Kein Zweifel, dass die Meinung sehr verbreitet ist, dass von einer solchen Vereinbarung keine Rede sein könne, dass die persönliche diktatorische Gewalt weder mit der Demokratie noch mit dem Sowjettypus des Staates, noch mit der kollegialen Verwaltung zu vereinbaren sei. Nichts ist falscher als diese Auffassung.

Das demokratische Organisationsprinzip in jener höchsten Form, aus der sich die Verwirklichung (durch die Sowjets) der Voraussetzungen und Forderungen der aktiven Teilnahme der Massen nicht nur an der Beratung der allgemeinen Bestimmungen, Verordnungen und Gesetze, nicht nur an der Kontrolle über ihre Durchführung, sondern auch unmittelbar an ihrer Durchführung ergibt, bedeutet, dass jeder Vertreter der Masse, jeder Bürger in der Lage sein muss, sowohl an der Beratung der Staatsgesetze als auch an der Wahl seiner Vertreter, als auch an der Durchführung der Staatsgesetze teilzunehmen. Aber daraus folgt keineswegs, dass das geringste Chaos oder die geringste Unordnung in der Frage zulässig ist, wer in jedem einzelnen Fall für die Ausführung bestimmter Funktionen, für die Durchführung bestimmter Anordnungen, für die Leitung eines bestimmten Prozesses der allgemeinen Arbeit in einem bestimmten Zeitraum verantwortlich ist. Die Masse muss das Recht haben, sich verantwortliche Leiter zu wählen. Die Masse muss das Recht haben, sie abzusetzen, die Masse muss das Recht haben, jeden kleinsten Schritt ihrer Tätigkeit zu kennen und zu kontrollieren. Die Masse muss das Recht haben, ausnahmslos alle Arbeiter auf administrative Posten zu stellen. Aber das bedeutet keineswegs, dass der Prozess der kollektiven Arbeit ohne eine bestimmte Leitung, ohne eine genaue Festlegung der Verantwortung des Leiters, ohne strengste Ordnung, die durch den einheitlichen Willen des Leiters hergestellt wird, bleiben kann. Weder die Eisenbahnen noch das Transportwesen, noch die großen Maschinen und Betriebe können richtig funktionieren, wenn kein einheitlicher Wille vorhanden ist, der alle Werktätigen zu einem einzigen wirtschaftlichen! Organ zusammenfasst, das mit der Genauigkeit eines Uhrmechanismus arbeitet. Der Sozialismus ist durch die große Maschinenindustrie erzeugt worden. Und wenn die werktätigen Massen, die den Sozialismus einführen, es nicht verstehen, ihre Institutionen darauf einzustellen, dass sie so arbeiten, wie die große Maschinenindustrie arbeiten muss, dann kann von einer Einführung des Sozialismus nicht einmal die Rede sein. Deshalb tritt im jetzigen Augenblick, wo die Sowjetmacht und die Diktatur des Proletariats genügend erstarkt sind, wo die Hauptpositionen des sich widersetzenden Feindes, d. h. der sich widersetzenden Ausbeuter, genügend zerstört und unschädlich gemacht worden sind, wo die Masse der Bevölkerung durch das Funktionieren der Sowjetinstitutionen zur selbständigen Teilnahme am gesamten öffentlichen Leben genügend vorbereitet ist – in diesem Moment tritt die Aufgabe auf die Tagesordnung, die Diskussionen und Versammlungen aufs Strengste von der unbedingten Durchführung aller Anordnungen des Leiters zu trennen. Das bedeutet, dass man die notwendige, nützliche und von jedem Sowjet anerkannte Schulung der Massen für die Durchführung einer bestimmten Maßnahme und die Kontrolle über die Durchführung dieser Maßnahme – von der eigentlichen Durchführung dieser Maßnahme trennt. Die Massen können jetzt – das ermöglichen ihnen die Sowjets – die ganze Macht in die Hände nehmen und sich in der Ausübung dieser Macht üben. Damit aber nicht jene Vielfältigkeit der Leitung und jene Verantwortungslosigkeit entstehe„ an der wir jetzt so ungeheuer schwer zu leiden haben, ist es notwendig, dass wir bei jeder ausführenden Funktion ganz genau wissen, welche Personen, die zu verantwortlichen Leitern gewählt worden sind, für das Funktionieren des gesamten wirtschaftlichen Organismus verantwortlich sind. Dazu ist notwendig, dass möglichst häufig, bei der geringsten Möglichkeit, gewählte verantwortliche Personen für eine persönliche Leitung des gesamten Wirtschaftsorganismus bestimmt werden. Notwendig ist eine freiwillige Durchführung der Anordnungen dieses persönlichen Leiters, notwendig ist der Übergang von jener gemischten Form der Diskussionen, der Versammlungen, der Ausführung – und gleichzeitig der Kritik, der Kontrolle und Korrektur – zu einem exakten, richtigen Funktionieren des Maschinenbetriebs. An diese Aufgabe sind die Arbeitskommunen in Russland, die Arbeiter- und Bauernmassen in ihrer gewaltigen Mehrheit bereits herangegangen. Die Aufgabe der Sowjetmacht ist es, den jetzt beginnenden Umschwung zu erklären und seine Notwendigkeit gesetzlich zu verankern.

Kapitel XII

Die Losung des Praktizismus und der Sachlichkeit erfreute sich keiner großen Popularität unter den Revolutionären. Man kann sogar sagen, dass unter ihnen keine Losung weniger populär war. Es ist durchaus begreiflich, dass die Revolutionäre, solange ihre Aufgabe in der Zerstörung der alten kapitalistischen Gesellschaft bestand, eine solche Losung ablehnen und verspotten mussten. Denn in der Praxis steckte hinter dieser Losung in dieser oder jener Form das Streben, sich mit dem Kapitalismus auszusöhnen oder den Ansturm des Proletariats auf die Grundlagen des Kapitalismus zu schwächen, den revolutionären Kampf gegen den Kapitalismus zu schwächen. Es ist durchaus begreiflich, dass nach der Eroberung der Macht durch das Proletariat, nach der Sicherung dieser Macht, nach der Inangriffnahme der Arbeit zur Schaffung der Grundlagen – in breitestem Maßstabe – der neuen, d. h. der sozialistischen Gesellschaft, sich die Dinge von Grund auf ändern mussten. Wir haben auch jetzt, wie ich bereits oben hingewiesen habe, nicht das Recht, auch nur im Geringsten unsere Arbeit zur Überzeugung der Massen der Bevölkerung von der Richtigkeit unserer Ideen noch unsere Arbeit zur Brechung des Widerstandes der Ausbeuter zu schwächen.

Aber das Wichtigste für die Durchführung dieser beiden Funktionen haben wir bereits getan. Die wichtigste aktuelle Losung ist jetzt gerade die Losung des Praktizismus und der Sachlichkeit. Daraus ergibt sich, dass die Heranziehung der bürgerlichen Intelligenz zur Arbeit jetzt eine aktuelle, brennende und notwendige Aufgabe ist. Es wäre höchst lächerlich, in dieser Heranziehung irgendeine Erschütterung der Macht, irgendeine Abkehr vom den Grundsätzen des Sozialismus, irgendeinen unzulässigen Kompromiss mit der Bourgeoisie zu sehen. Die Äußerung einer solchen Meinung würde bedeuten, dass man ohne jeden Sinn Worte wiederholt, die für eine ganz andere Periode der Tätigkeit der revolutionären proletarischen Parteien Geltung hatten. Im Gegenteil, gerade damit unsere revolutionären Aufgaben durchgeführt werden, gerade damit diese Aufgaben keine Utopie und kein frommer Wunsch bleiben, sondern tatsächlich zur Wirklichkeit werden, – sofort verwirklicht werden – gerade um dieses Zieles willen müssen wir jetzt den Praktizismus und die Sachlichkeit der organisatorischen Arbeit zu unserer ersten, aktuellen, wichtigsten Aufgabe machen. Es kommt jetzt gerade darauf an, dass man von allen Seiten an den praktischen Aufbau jenes Gebäudes herangehe, dessen Plan wir bereits längst entworfen haben, für das wir den Boden energisch und gründlich genug vorbereitet haben, für das wir genügend Material zusammengetragen haben und an dem wir jetzt – indem wir ein Gerüst errichten und uns in die Arbeitsbluse werfen, ohne Angst davor zu haben, sie durch alles mögliche Hilfsmaterial zu beschmutzen, indem wir streng die Anweisungen der Personen durchführen, die die praktische Arbeit leiten – bauen, bauen und abermals bauen müssen.

Bis zu welchem Grade mitunter die oben erwähnten Änderungen unserer Aufgaben unverstanden bleiben, kann man übrigens aus der unlängst vor sich gegangenen Diskussion über die Rolle der Gewerkschaften ersehen.3 Es wurde die Auffassung ausgesprochen (die von den Menschewiki unterstützt wurde, selbstverständlich mit ausgesprochen provokatorischen Absichten, d. h. mit der Absicht, uns zu Schritten zu provozieren, die nur für die Bourgeoisie von Vorteil sind), dass die Gewerkschaften im Interesse der Erhaltung und Stärkung der Selbständigkeit des Proletariats als Klasse keine staatlichen Organisationen werden dürfen. Diese Auffassung wurde mit den wohlklingenden, genügend bekannten und genügend auswendig gelernten Worten vom Kampf der Arbeit gegen das Kapital, von der Notwendigkeit der Selbständigkeit des Proletariats als Klasse bemäntelt. In Wirklichkeit aber war und bleibt diese Auffassung entweder eine bürgerliche Provokation gröbster Art oder ein sehr unreifer Gedanke, eine sklavische Wiederholung der Losungen von gestern, was eine Analyse der veränderten Bedingungen des jetzigen Abschnitts der Geschichte zeigt. Gestern war die Hauptaufgabe der Gewerkschaften der Kampf gegen das Kapital und die Verteidigung der Selbständigkeit des Proletariats als Klasse. Gestern war die Losung des Tages das Misstrauen gegen den Staat, denn das war ein bürgerlicher Staat. Heute ist der Staat ein proletarischer Staat geworden. Die Arbeiterklasse ist die herrschende Klasse im Staat geworden. Die Gewerkschaften werden und müssen Staatsorganisationen werden, die in erster Linie die Verantwortung für die Reorganisation des gesamten wirtschaftlichen Lebens nach den Grundsätzen des Sozialismus tragen müssen. Deshalb wäre die Anwendung der Losungen der alten Gewerkschaftsbewegung auf die jetzige Epoche eine Lossage von den sozialistischen Aufgaben der Arbeiterklasse.

Das gleiche muss man auch von den Genossenschaften sagen. Die Genossenschaft ist ein Laden, und keinerlei Änderungen, keinerlei Vervollkommnung, keinerlei Reformen werden etwas daran ändern, dass sie ein Laden ist. Diese Auffassung hat die kapitalistische Epoche den Sozialisten beigebracht. Und es besteht kein Zweifel, dass diese Ansichten der richtige Ausdruck des Wesens der Genossenschaften waren, solange sie ein kleines Anhängsel des Mechanismus der bürgerlichen Ordnung waren. Aber das ist es ja eben, dass die Lage der Genossenschaften nach der Eroberung der Staatsmacht durch das Proletariat, seitdem die proletarische Staatsmacht systematisch an die Schaffung einer sozialistischen Ordnung herangegangen ist, sich von Grund auf prinzipiell geändert hat. Hier schlägt die Quantität in Qualität um. Die Genossenschaft als kleine Insel in der kapitalistischen Gesellschaft ist ein Laden. Die Genossenschaft aber, die die gesamte Gesellschaft umfasst, in der das Land sozialisiert, die Fabriken und Werke nationalisiert sind, ist Sozialismus. Die Aufgabe der Sowjetmacht nach der politischen und wirtschaftlichen Expropriation der Bourgeoisie besteht offenbar (hauptsächlich) darin, die genossenschaftlichen Organisationen auf die gesamte Gesellschaft auszudehnen, alle Bürger des gegebenen Landes ausnahmslos in Mitglieder einer allgemein-nationalen oder richtiger allgemein-staatlichen Genossenschaft zu verwandeln. Wenn wir durch Berufung auf den Klassencharakter der Arbeitergenossenschaften uns über diese Aufgabe hinwegsetzen werden, so werden wir zu Reaktionären werden, die von der Epoche, die nach der Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat eingetreten ist, zu der Epoche, die vor dieser Eroberung der politischen Macht vorhanden war, wieder zurückdrängen. Die Arbeiterklasse hat unter dem Kapitalismus zwei Tendenzen in ihrer politischen und wirtschaftlichen Tätigkeit entwickelt. Die eine Tendenz bestand darin, sich möglichst bequem und erträglich unter dem Kapitalismus einzurichten, was nur für eine kleine Oberschicht des Proletariats möglich war. Die andere Tendenz bestand darin, an die Spitze aller werktätigen und ausgebeuteten Massen zu treten zum revolutionären Sturz der Herrschaft des Kapitals überhaupt Sobald diese zweite Tendenz gesiegt hat, sobald das Kapital gestürzt ist und man eine sozialistische Genossenschaft des ganzen Volkes aufbauen muss, ändert sich selbstverständlich unsere Auffassung über die Aufgaben und Bedingungen der Genossenschaftsbewegung von Grund auf. Wir müssen sowohl mit den bürgerlichen als auch mit den proletarischen Genossenschaften ein Abkommen treffen. Wir dürfen keine Angst davor haben. Es wäre lächerlich von uns, ein Abkommen mit den bürgerlichen Genossenschaften zu fürchten, denn wir haben jetzt die Staatsmacht in unseren Händen. Wir brauchen eine solche Verständigung, um praktisch durchführbare, bequeme, für uns geeignete Formen des Überganges von den einzelnen zersplitterten Genossenschaften zu einer einheitlichen Genossenschaft des ganzen Volkes zu finden. Als Staatsmacht brauchen wir ein Abkommen mit den bürgerlichen Genossenschaften nicht zu fürchten, denn durch ein solches Abkommen werden sie uns unvermeidlich untergeordnet werden. Gleichzeitig müssen wir verstehen, dass wir eine neue proletarische Staatsmacht sind, dass die Arbeiterklasse jetzt im Staate zur herrschenden Klasse geworden ist. Deshalb müssen die Arbeitergenossenschaften an die Spitze der Bewegung treten zur Überführung der einzelnen Genossenschaften in die einheitliche Genossenschaft des gesamten Volkes. Die Arbeiterklasse darf sich nicht von den übrigen Teilen der Bevölkerung abschließen, im Gegenteil, sie muss bei dem Zusammenschluss der gesamten Bevölkerung zu einer einheitlichen allgemeinen Genossenschaft die Führung aller Teile der Bevölkerung übernehmen. Welche praktischen, unmittelbar durchführbaren Übergangsmaßnahmen zu diesem Zweck notwendig sind, ist eine andere Frage. Man muss sich aber darüber klar werden und ein für allemal begreifen, dass jetzt gerade alles auf diesen praktischen Übergang ankommt, dass die proletarische Staatsmacht an diese Aufgabe herangehen muss, alle Reformen praktisch prüfen und diesen Übergang um jeden Preis durchführen muss.

Kapitel XIII

Bei der Beurteilung der Frage der Wiederherstellung der Disziplin und Selbstdisziplin der Werktätigen muss man besonders die wichtige Rolle hervorheben, die jetzt das Gerichtswesen zu spielen berufen ist. Das Gericht war in der kapitalistischen Gesellschaft vorwiegend ein Apparat der Unterdrückung, ein Apparat der kapitalistischen Ausbeutung. Deshalb war es die unbedingte Pflicht der proletarischen Revolution, die Gerichtsinstitutionen nicht zu reformieren (darauf beschränkten sich die Kadetten und ihre Nachbeter, die Menschewiki und rechten Sozialrevolutionäre), sondern das ganze alte Gerichtswesen und seinen Apparat vollkommen zu vernichten, vollständig hinwegzufegen. Diese notwendige Aufgabe hat die Oktoberrevolution erfüllt, und zwar mit Erfolg erfüllt. An Stelle des alten Gerichts hat sie begonnen, ein neues Volksgericht zu schaffen, genauer gesagt, ein Sowjetgericht, das auf dem Prinzip der Teilnahme der werktätigen und ausgebeuteten Klassen – und nur dieser Klassen – an der Staatsverwaltung fußt. Das neue Gericht brauchte man vor allen Dingen zum Kampf gegen die Ausbeuter, die versuchen, ihre Herrschaft wieder herzustellen oder ihre Privilegien zu verteidigen, oder diesen oder jenen Teil ihrer Privilegien heimlich durchzudrücken, durch Betrug wiederzubekommen. Aber außerdem fällt den Gerichten, wenn sie wirklich nach dem Prinzip der Sowjetinstitutionen organisiert sind, eine viel wichtigere Aufgabe zu. Diese Aufgabe besteht darin, die strengste Durchführung der Disziplin und Selbstdisziplin der Werktätigen zu sichern. Wir wären lächerliche Utopisten, wenn wir uns vorstellten, dass eine solche Aufgabe gleich nach dem Sturz der Macht der Bourgeoisie zu verwirklichen sei, d. h. im ersten Stadium des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus, oder – ohne Zwang. Ohne Zwang ist die Durchführung einer solchen Aufgabe ganz unmöglich. Wir brauchen den Staat, wir brauchen Zwang. Das Organ des proletarischen Staats, das diesen Zwang ausübt, müssen die Sowjetgerichte sein. Ihnen fällt die gewaltige Aufgabe der Erziehung der Bevölkerung zur Arbeitsdisziplin zu. Wir haben noch außerordentlich wenig getan, oder, genauer gesagt, fast nichts getan zur Verwirklichung dieses Zieles. Wir müssen es aber erreichen, dass solche Gerichte im breitesten Umfang organisiert werden, und dass sie ihre Tätigkeit auf das ganze werktätige Leben des Landes ausdehnen. Nur solche Gerichte werden, unter der Voraussetzung der Teilnahme der breitesten Massen der werktätigen und ausgebeuteten Bevölkerung an diesen Gerichten, es verstehen, in demokratischen Formen, entsprechend den Prinzipien der Sowjetmacht, zu erreichen, dass Disziplin und die Selbstdisziplin keine frommen Wünsche bleiben. Nur solche Gerichte werden es erreichen, dass wir eine revolutionäre Macht bekommen, die wir alle anerkennen, wenn wir von der Diktatur des Proletariats sprechen, an deren Stelle wir aber allzu oft so etwas wie einen Brei sehen. Übrigens, richtiger wäre es, den gesellschaftlichen Zustand, in dem wir uns befinden, nicht mit einem Brei zu vergleichen, sondern mit der Umschmelzung von Metall bei der Herstellung einer festeren Metalllegierung

1 Der erste Entwurf des Aufsatzes „Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht" wurde von Lenin am 28. März 1918 dem Stenographen diktiert Lenin war offenbar mit diesem Stenogramm nicht zufrieden und schrieb dann von neuem die „Thesen über die Aufgaben der Sowjetmacht im gegenwärtigen Augenblick" (diesen Titel führt das Manuskript), die in der Sitzung des ZK der Partei vom 26. April 1918 beraten wurden. Das ZK billigte die Thesen Lenins und beschloss, sie in der „Prawda" und „Iswestija" zu veröffentlichen und als Broschüre herauszugeben. In derselben Sitzung wurde Lenin beauftragt, das Referat „Über die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht" im Allrussischen Exekutivkomitee zu halten und eine kurze Zusammenfassung der Thesen in der Form einer Resolution vorzubereiten.

2 Der Anfang des Stenogramms und dieses Kapitels ist nicht erhalten geblieben Die Red.

3 Lenin meint den Streit zwischen den Menschewiki, die Anhänger der „Unabhängigkeit der Gewerkschaften" waren, und den Bolschewiki auf dem I. Allrussischen Gewerkschaftskongress im Januar 1918.

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