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Wladimir I. Lenin 19190923 Über die Aufgaben der proletarischen Frauenbewegung in der Sowjetrepublik

Wladimir I. Lenin: Über die Aufgaben der

proletarischen Frauenbewegung in der Sowjetrepublik

Rede auf der IV. Stadtkonferenz parteiloser Arbeiterinnen in Moskau

23. September 1919

[Ausgewählte Werke, Band 9. Die Neue Ökonomische Politik und der sozialistische Aufbau. Moskau-Leningrad 1936, S. 535-541]

Genossinnen, ich freue mich sehr, die Konferenz der Arbeiterinnen begrüßen zu können. Ich werde mir gestatten, jene Themen und Fragen, die heute natürlich jede Arbeiterin und jeden bewussten Menschen unter der werktätigen Masse am meisten bewegen, nicht zu berühren. Diese brennendsten Fragen sind: die Getreidefrage und unsere militärische Lage. Aber soviel mir aus den Zeitungsberichten über eure Tagung bekannt ist, sind hier diese Fragen in erschöpfender Weise behandelt worden – die militärische Lage vom Genossen Trotzki und die Getreidefrage von der Genossin Jakowlewa und dem Genossen Swiderski – und es sei mir daher gestattet, auf diese Fragen nicht einzugehen.

Ich möchte einige Worte über die allgemeinen Aufgaben der proletarischen Frauenbewegung in der Sowjetrepublik sagen, sowohl über die Aufgaben, die mit dem Übergang zum Sozialismus überhaupt verbunden sind, als auch über jene, die jetzt besonders dringlich in den Vordergrund treten. Genossinnen, die Frage der Stellung der Frau hat die Sowjetmacht gleich von Anfang an aufgeworfen. Ich glaube, die Aufgabe jedes Arbeiterstaates, der zum Sozialismus übergeht, wird von zweierlei Art sein. Und der erste Teil dieser Aufgabe ist verhältnismäßig einfach und leicht. Er betrifft die alten Gesetze, welche die Frau in eine ungleiche rechtliche Lage gegenüber dem Manne versetzten.

Die Vertreter aller Freiheitsbewegungen in Westeuropa haben schon seit sehr langer Zeit, nicht nur seit Jahrzehnten, sondern seit Jahrhunderten, die Forderung nach Abschaffung dieser veralteten Gesetze und nach gesetzlicher Gleichstellung der Frau mit dem Manne erhoben, aber keinem der europäischen demokratischen Staaten, keiner selbst der fortgeschrittensten Republiken ist es gelungen, diese Forderung zu verwirklichen, weil dort, wo der Kapitalismus besteht, wo das Privateigentum an Grund und Boden, das Privateigentum an den Fabriken und Werken aufrechterhalten wird, wo die Macht des Kapitals aufrechterhalten wird, die Privilegien der Männer bleiben werden. In Russland ist es nur deshalb gelungen, die rechtliche Gleichstellung der Frau durchzuführen, weil hier seit dem 7. November (25. Oktober) 1917 die Macht der Arbeiter errichtet ist. Die Sowjetmacht stellte sich von Anfang an die Aufgabe, eine Macht der Werktätigen zu sein, die jeder Ausbeutung feindlich gegenübersteht. Sie stellte sich die Aufgabe, die Möglichkeit der Ausbeutung der Werktätigen durch die Grundherren und Kapitalisten aus der Welt zu schaffen, die Herrschaft des Kapitals zu vernichten. Die Sowjetmacht strebte danach, dass die Werktätigen ihr Leben ohne Privateigentum an Grund und Boden, ohne Privateigentum an den Fabriken und Werken einrichten sollten, ohne jenes Privateigentum, das überall, in der ganzen Welt, selbst bei vollständiger politischer Freiheit, selbst in den allerdemokratischsten Republiken faktisch die Werktätigen in den Zustand der Armut und Lohnsklaverei und die Frau in doppelte Sklaverei gebracht hat.

Die Sowjetmacht führte als Staatsmacht der Werktätigen gleich in den ersten Monaten ihres Bestehens in der Gesetzgebung, die sich auf die Frauen bezieht, die entschiedenste Umwälzung herbei. Von jenen Gesetzen, die der Frau eine untergeordnete Stellung zuwiesen, blieb in der Sowjetrepublik nicht ein Stein auf dem anderen. Ich meine gerade die Gesetze, die speziell die schwächere Stellung der Frau ausnützten, um sie in eine rechtlich ungleiche und oft sogar erniedrigende Lage zu bringen, d. h. die Gesetze über Ehescheidung und uneheliche Kinder, über das Recht der Frau auf Klage gegen den Vater des Kindes wegen dessen Versorgung.

Gerade auf diesem Gebiet nützt die bürgerliche Gesetzgebung, wie festgestellt werden muss, selbst in den fortgeschrittensten Ländern die schwächere Stellung der Frau aus, um die Frau rechtlich ungleich zu machen und zu entwürdigen, und gerade auf diesem Gebiet hat die Sowjetmacht von den alten, ungerechten, für die Vertreter der werktätigen Masse unerträglichen Gesetzen keinen Stein auf dem anderen gelassen. Und wir können jetzt mit vollem Stolz, ohne jede Übertreibung sagen, dass es mit Ausnahme Sowjetrusslands kein Land auf der Welt gibt, wo volle Gleichberechtigung der Frauen bestände und wo die Frau nicht in eine entwürdigende Stellung versetzt wäre, die im Alltag, im Familienleben besonders spürbar ist. Das war eine unserer ersten und wichtigsten Aufgaben.

Wenn ihr Gelegenheit habt, mit den Parteien in Berührung zu kommen, die den Bolschewiki feindlich gegenüberstehen, oder wenn euch Zeitungen in die Hände geraten, die in russischer Sprache in den von Koltschak oder Denikin besetzten Gebieten erscheinen, oder wenn ihr mit Leuten sprecht, die auf dem Standpunkt dieser Zeitungen stehen, so werdet ihr von ihnen oft die Beschuldigung gegen die Sowjetmacht hören können, dass diese die Demokratie verletzt habe.

Immer wieder macht man uns, den Vertretern der Sowjetmacht, den Bolschewiki, den Kommunisten und Anhängern der Sowjetmacht, den Vorwurf, dass wir die Demokratie verletzt hätten, und zum Beweis für diese Beschuldigung wird die Tatsache angeführt, dass die Sowjetmacht die Konstituante auseinandergejagt hat. Wir antworten auf diese Beschuldigungen gewöhnlich so: jene Demokratie und jene Konstituante, die beim Bestehen des Privateigentums an Grund und Boden entstanden sind, wo die Menschen untereinander nicht gleich waren, wo derjenige, der eigenes Kapital besaß, der Herr war, die anderen aber, die bei ihm arbeiteten, seine Lohnsklaven waren – auf eine solche Demokratie legen wir keinen Wert. Diese Demokratie bemäntelte selbst in den fortgeschrittensten Staaten nur die Sklaverei. Wir Sozialisten sind Anhänger der Demokratie nur insofern, als sie die Lage der Werktätigen und Unterdrückten erleichtert. Der Sozialismus stellt sich in der ganzen Welt den Kampf gegen jegliche Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zur Aufgabe. Wirkliche Bedeutung hat für uns jene Demokratie, die den Ausgebeuteten, denjenigen, die in eine rechtlich ungleiche Lage versetzt sind, dient. Wenn dem Nichtwerktätigen das Wahlrecht entzogen wird, so ist das eben wirkliche Gleichheit zwischen den Menschen. Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Wir sagen als Antwort auf diese Beschuldigungen, dass man die Frage stellen muss, wie in diesem oder jenem Staat die Demokratie verwirklicht wird. Wir sehen in allen demokratischen Republiken, dass man die Gleichheit verkündet, aber in den bürgerlichen Gesetzen sowie in den Gesetzen über die Stellung der Frau, in der Familie, über die Ehescheidung sehen wir auf Schritt und Tritt die Ungleichheit und die Entwürdigung der Frau, und wir sagen, dass das eine Verletzung der Demokratie ist, und zwar gegenüber den Unterdrückten. Die Sowjetmacht hat mehr als alle anderen Länder, selbst die fortgeschrittensten, die Demokratie dadurch verwirklicht, dass sie in ihren Gesetzen auch nicht die leiseste Andeutung einer rechtlich ungleichen Stellung der Frau übriggelassen hat. Ich wiederhole, kein Staat und keine demokratische Gesetzgebung hat für die Frau auch nur die Hälfte von dem getan, was die Sowjetmacht gleich in den ersten Monaten ihres Bestehens getan hat.

Freilich, Gesetze allein genügen nicht, und wir geben um keineswegs damit zufrieden, dass wir Gesetze erlassen, sondern wir haben alles vollbracht, was unsererseits zur Gleichstellung der Frau erforderlich war, und wir dürfen mit Recht darauf stolz sein. Die Stellung der Frau in Sowjetrussland ist jetzt derart, dass sie vom Standpunkt selbst der fortgeschrittensten Staaten eine ideale ist. Aber wir sagen uns, dass dies natürlich erst nur der Anfang ist.

Die Lage der Frau bleibt, solange sie sich mit der Hauswirtschaft beschäftigt, immer noch eine beengte. Zur vollständigen Befreiung der Frau und zu ihrer wirklichen Gleichstellung mit dem Manne bedarf es der Gemeinwirtschaft und bedarf es ferner der Teilnahme der Frauen an der allgemeinen produktiven Arbeit. Dann wird die Frau die gleiche Stellung einnehmen wie der Mann.

Natürlich handelt es sich hier nicht um eine Gleichstellung der Frau in der Produktivität der Arbeit, im Arbeitsumfang, in der Arbeitsdauer, in den Arbeitsbedingungen usw., sondern es handelt sich darum, dass die Frau nicht durch ihre wirtschaftliche Lage im Unterschied zum Manne unterdrückt werde. Ihr wisst alle, dass selbst bei vollständiger Gleichberechtigung diese faktische Niederdrückung der Frau dennoch bestehen bleibt, weil ihr die gesamte Hauswirtschaft aufgebürdet wird. Diese Hauswirtschaft ist in den meisten Fällen das Unproduktivste, das Barbarischste und Schwierigste, was die Frau verrichtet. Es ist eine außerordentlich kleinliche Arbeit, die nichts an sich hat, was für die Entwicklung der Frau irgendwie förderlich wäre.

Indem wir das sozialistische Ideal verfolgen, wollen wir die vollständige Verwirklichung des Sozialismus erkämpfen, und hier eröffnet sich für die Frau ein sehr großes Arbeitsfeld. Wir rüsten jetzt ernsthaft zur Freimachung des Bodens für den sozialistischen Aufbau, der Aufbau der sozialistischen Gesellschaft selbst aber wird erst dann beginnen, wenn wir, nachdem wir die vollständige Gleichheit der Frau durchgesetzt haben, gemeinsam mit der von dieser kleinlichen, abstumpfenden, unproduktiven Arbeit befreiten Frau an die neue Arbeit gehen werden. Das ist eine Arbeit, die für viele, viele Jahre reicht. Diese Arbeit kann keine so schnellen Ergebnisse zeitigen und macht auch keinen so glänzenden Eindruck.

Wir schaffen mustergültige Anstalten, Speisehäuser, Krippen, die die Frau von der Hauswirtschaft befreien sollen. Und gerade diese Arbeit zur Einrichtung aller dieser Anstalten fällt hauptsächlich den Frauen zu. Es muss ausgesprochen werden, dass es augenblicklich in Russland sehr wenige solche Einrichtungen gibt, die der Frau helfen könnten, sich aus diesem Zustand der Haussklavin freizumachen. Ihre Zahl ist verschwindend klein, und die Verhältnisse, in denen sich augenblicklich die Sowjetrepublik befindet – sowohl die militärischen als auch die Lebensmittelverhältnisse, von denen euch die Genossen hier ausführlich gesprochen haben –, hindern uns an dieser Arbeit. Immerhin muss aber gesagt werden, dass diese Einrichtungen, welche die Frau aus der Lage der Haussklavin befreien, überall entstehen, wo nur die geringste Möglichkeit dazu vorhanden ist. Wir sagen, die Befreiung der Arbeiter müsse das Werk der Arbeiter selbst sein, und genau so muss auch die Befreiung der Arbeiterinnen das Werk der Arbeiterinnen selbst sein. Die Arbeiterinnen selbst müssen für die Entwicklung solcher Einrichtungen sorgen, und diese Tätigkeit der Frauen wird zu einer vollständigen Änderung ihrer alten Stellung, wie sie in der kapitalistischen Gesellschaft war, führen.

Um sich mit Politik zu beschäftigen, war in der alten kapitalistischen Gesellschaft eine besondere Vorbereitung erforderlich, und deshalb war die Teilnahme der Frauen an der Politik selbst in den fortgeschrittensten und freiesten kapitalistischen Ländern verschwindend gering. Unsere Aufgabe besteht darin, die Politik jeder werktätigen Frau zugänglich zu machen. Mit dem Augenblick, wo das Privateigentum an Grund und Boden und an den Fabriken aufgehoben und die Macht der Grundherren und der Kapitalisten gestürzt ist, werden die Aufgaben der Politik für die werktätige Masse und die werktätigen Frauen einfach, klar und allen durchaus zugänglich. In der kapitalistischen Gesellschaft befindet sich die Frau in einer derart rechtlosen Lage, dass ihre Teilnahme an der Politik im Vergleich mit dem Manne sich in verschwindend geringem Maße äußert. Damit diese Lage sich ändere, ist notwendig, dass die Werktätigen die Macht haben, dann werden die Hauptaufgaben der Politik alles das ausmachen, was das Schicksal der Werktätigen selbst unmittelbar betrifft.

Und hier ist die Mitwirkung der Arbeiterin, nicht nur der Parteigenossin und der klassenbewussten Arbeiterin, sondern auch der parteilosen und der am wenigsten klassenbewussten, notwendig. Hier eröffnet die Sowjetmacht der Arbeiterin ein weites Tätigkeitsfeld.

Wir hatten es sehr schwer im Kampf gegen die feindlichen Kräfte, die gegen Sowjetrussland zu Felde ziehen. Wir hatten schwer zu kämpfen, sowohl auf militärischem Gebiet gegen die Kräfte, die die Macht der Werktätigen mit Krieg überziehen, als auch auf dem Gebiet der Lebensmittelversorgung gegen die Spekulanten, weil die Zahl der Menschen, die Zahl der Werktätigen, die uns voll und ganz mit ihrer eigenen Arbeit zu Hilfe eilten, nicht genügend groß ist. Und hier kann für die Sowjetmacht nichts wertvoller sein als die Hilfe der breiten Masse der parteilosen Arbeiterinnen. Mögen sie wissen, dass in der alten, bürgerlichen Gesellschaft für die politische Tätigkeit eine komplizierte Vorbereitung notwendig gewesen sein mag und das der Frau unzugänglich war. Die politische Tätigkeit der Sowjetrepublik aber setzt sich den Kampf gegen die Grundherren, die Kapitalisten, den Kampf für die Abschaffung der Ausbeutung zur Hauptaufgabe, und deshalb eröffnet sich in der Sowjetrepublik für die Arbeiterinnen eine politische Tätigkeit, die darin bestehen wird, dass die Frau durch ihr organisatorisches Können dem Manne hilft.

Wir brauchen nicht nur organisatorische Arbeit im Millionenmaßstab. Wir brauchen auch organisatorische Kleinarbeit, die auch den Frauen die Möglichkeit zum Arbeiten gibt. Die Frau kann auch unter militärischen Verhältnissen arbeiten, wenn es sich um Hilfe für die Armee, um die Agitation in der Armee handelt. Die Frau muss an alledem aktiven Anteil nehmen, damit die Rote Armee sehe, dass man sich um sie sorgt, sich um sie kümmert. Die Frau kann auch auf dem Gebiet der Lebensmittelversorgung arbeiten – bei der Verteilung der Produkte und der Verbesserung der Massenspeisung, bei dem Ausbau der Speisehäuser, die jetzt in Petrograd so großzügig ins Werk gesetzt werden.

Das sind die Gebiete, auf denen die Tätigkeit der Arbeiterinnen wahrhafte organisatorische Bedeutung gewinnt. Die Teilnahme der Frau ist auch notwendig bei der Organisierung großer Versuchswirtschaften und deren Beaufsichtigung, damit diese Angelegenheit bei uns nicht ausschließlich in den Händen einzelner verbleibe. Ohne die Teilnahme einer großen Zahl werktätiger Frauen daran ist sie undurchführbar. Und die Arbeiterin ist durchaus in der Lage, an dieses Werk heranzugehen im Sinne einer Aufsicht über die Verteilung der Produkte und darüber, dass die Produkte leichter erhältlich seien. Dieser Aufgabe ist die parteilose Arbeiterin durchaus gewachsen, die Durchführung dieser Aufgabe wird indessen mehr als alles andere zur Befestigung der sozialistischen Gesellschaft beitragen.

Nachdem die Sowjetmacht das Privateigentum an Grund und Boden gänzlich und das Privateigentum an den Fabriken und Werken fast gänzlich aufgehoben hat, strebt sie dahin, dass alle Werktätigen, nicht nur die Parteimitglieder, sondern auch die Parteilosen, und nicht nur die Männer, sondern auch die Frauen, an diesem wirtschaftlichen Aufbau teilnehmen. Dieses von der Sowjetmacht begonnene Werk kann nur dann vorwärtsgebracht werden, wenn an Stelle Hunderter von Frauen in ganz Russland Millionen und aber Millionen von Frauen daran teilnehmen werden. Dann wird das Werk des sozialistischen Aufbaus, davon sind wir überzeugt, gesichert sein. Dann werden die Werktätigen beweisen, dass sie auch ohne Grundherren und Kapitalisten leben und wirtschaften können. Dann wird der sozialistische Aufbau in Russland auf so festen Füßen stehen, dass keine äußeren Feinde in den anderen Ländern und innerhalb Russlands der Sowjetrepublik gefährlich sein werden.

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