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Wladimir I. Lenin 19140523 Demoralisierung der Arbeiter durch verfeinerten Nationalismus

Wladimir I. Lenin: Demoralisierung der Arbeiter durch verfeinerten Nationalismus

[„Putj Prawdy", Nr. 82. 23. (10.) Mai 1914. Nach Sämtliche Werke Band 17, Moskau-Leningrad 1935, S. 448-451]

Je mehr die Arbeiterbewegung sich entwickelt, desto verzweifelter pflegen die Versuche der Bourgeoisie und der Fronherren zu sein, sie zu unterdrücken und zu zersplittern. Diese beiden Methoden, die Unterdrückung mit Gewalt und die Zersplitterung durch bürgerliche Beeinflussung, werden in der ganzen Welt, in allen Ländern ständig praktiziert, wobei die verschiedenen Parteien der herrschenden Klassen bald die eine, bald die andere Methode in den Vordergrund rücken.

In Russland kommt, insbesondere nach dem Jahre 1905, wo die klügsten Bourgeois die Aussichtslosigkeit der nackten Gewalt allein klar erkannten, von Seiten allerlei „fortschrittlicher" bürgerlicher Parteien und Gruppen immer mehr die Methode der Trennung der Arbeiter durch die Verkündung verschiedener bürgerlicher Ideen und Lehren, welche den Kampf der Arbeiterklasse schwächen, zur Anwendung.

Zu diesen Ideen gehört der verfeinerte Nationalismus, der die Trennung und Zersplitterung des Proletariats unter den wohlaussehendsten und wohlklingendsten Vorwänden predigt, zum Beispiel unter dem Vorwande, die Interessen der „nationalen Kultur", der „nationalen Autonomie oder Unabhängigkeit" usw. usf. zu schützen.

Die klassenbewussten Arbeiter sind aus allen Kräften bemüht, jeden Nationalismus zurückzuweisen, sowohl den groben, gewalttätigen, reaktionären, als auch den verfeinertsten, der die Gleichberechtigung dar Nationen bei gleichzeitiger… Zersplitterung der Arbeitersache, der Arbeiterorganisationen, der Arbeiterbewegung nach Nationen predigt. Dadurch, dass sie die Beschlüsse der letzten Konferenz der Marxisten (vom Sommer 1913) in die Praxis umsetzen, verfechten die klassenbewussten Arbeiter – zum Unterschied von allen Abarten der nationalistischen Bourgeoisie – nicht nur die vollständigste, konsequente, bis zum Ende gebrachte Gleichberechtigung der Nationen und Sprachen, sondern auch die Verschmelzung der Arbeiter der verschiedenen Nationalitäten in einheitlichen proletarischen Organisationen aller Art.

Darin besteht der grundlegende Unterschied zwischen dem nationalen Programm des Marxismus und dem einer beliebigen Bourgeoisie, selbst der „fortschrittlichsten“.

Die Anerkennung der Gleichberechtigung der Nationen und Sprachen liegt den Marxisten nicht nur deshalb am Herzen, weil sie die konsequentesten Demokraten sind. Die Interessen der proletarischen Solidarität, der kameradschaftlichen Einheit des Klassenkampfes der Arbeiter erfordern die vollständigste Gleichberechtigung der Nationen zwecks Beseitigung auch des geringsten nationalen Misstrauens, der Entfremdung, des Argwohns und der Feindschaft. Die völlige Gleichberechtigung aber schließt auch die Ablehnung jedweder Privilegien für eine der Sprachen, schließt die Anerkennung des Rechtes auf Selbstbestimmung aller Nationen ein.

Für die Bourgeoisie jedoch ist die Forderung nach Gleichberechtigung der Nationen sehr oft faktisch gleichbedeutend mit der Agitation für die nationale Ausschließlichkeit und den Chauvinismus, ist sie sehr oft vereinbar mit dem Predigen der Trennung und Entfremdung der Nationen, Der proletarische Internationalismus, der nicht nur die Annäherung der Nationen, sondern die Verschmelzung der Arbeiter aller Nationalitäten des betreffenden Staates in einheitlichen proletarischen Organisationen vertritt, kann sich damit absolut nicht abfinden. Deshalb verurteilen die Marxisten entschieden die sogenannte „national-kulturelle Autonomie", das heißt die Ausscheidung des Schulwesens aus der Kompetenz des Staates und seine Übergabe in die Hände der einzelnen Nationalitäten. Dieser Plan enthält die Trennung des Schulwesens nach den Nationalitäten des betreffenden Staatsverbandes und die Zuweisung des Schulwesens sowie der Fragen der „nationalen Kultur" an nationale Verbände mit besonderen Landtagen, Schulfinanzen, Schulräten und Schulinstitutionen.

Das ist ein Plan des verfeinerten Nationalismus, ein Plan, der die Arbeiterklasse demoralisiert und zersplittert. Diesem Plan (der Anhänger des Bund, der Liquidatoren, der Narodniki, d. h. der verschiedenen kleinbürgerlichen Gruppen) stellen die Marxisten das Prinzip entgegen: vollständigste Gleichberechtigung der Nationen und Sprachen bis zur Verneinung der Notwendigkeit einer Staatssprache, aber gleichzeitig damit Verfechtung einer möglichst großen Annäherung der Nationen sowie der Einheit der staatlichen Institutionen für alle Nationen, der Einheit der Schulräte, der Einheit der Schulpolitik (weltliche Schule!), der Einheit der Arbeiter der verschiedenen Nationen im Kampfe gegen den Nationalismus jeder nationalen Bourgeoisie, gegen den Nationalismus, der, um die Einfaltspinsel zu betrügen, in der Form der Losung der „nationalen Kultur" aufgetischt wird.

Mögen die kleinbürgerlichen Nationalisten, die Bundisten, Liquidatoren, Narodniki, die Publizisten des „Dswin" ihre Prinzipien des verfeinerten bürgerlichen Nationalismus, offen verfechten. Das ist ihr Recht. Sie sollen jedoch nicht die Arbeiter betrügen, wie dies z.B. Frau W.O. in Nr. 35 der „.Sewernaja Rabotschaja Gaseta" tut, wenn sie den Leser versichern will, die Zeitung „Sa Prawdu" sei gegen den Unterricht in der Muttersprache!!!1

Das ist eine grobe Verleumdung, denn die Anhänger der „Prawda" erkennen dieses Recht nicht nur an, sondern erkennen es am konsequentesten von allen an. Die „Prawda"-Anhänger haben dadurch, dass sie sich der Konferenz der Marxisten anschlossen, die verkündet hat, dass es keine obligatorische Staatssprache geben soll, als erste in Russland die Rechte der Muttersprache restlos anerkannt!

Den Unterricht in der Muttersprache mit der „Trennung des Schulwesens nach Nationalitäten in den Grenzen eines Staates", mit der „.national-kulturellen Autonomie", mit der „Ausscheidung" des Schulwesens aus der Kompetenz des Staates" zu verwechseln, ist die himmelschreiendste Unwissenheit.

Nirgends in der Welt sind die Marxisten (und selbst die Demokraten) gegen den Unterricht in der Muttersprache. Und nirgends in der Welt haben die Marxisten das Programm der „national-kulturellen Autonomie'' angenommen, nur in Österreich wurde es vorgeschlagen.

Das Beispiel Finnlands, das Frau W. O. anführt, spricht gegen sie selbst, denn in diesem Lande ist die Gleichberechtigung der Nationen und Sprachen anerkannt und durchgeführt (die wir bedingungslos und konsequenter als alle anderen anerkennen), aber es ist gar keine Rede von der Ausscheidung des Schulwesens aus der Kompetenz des Staates, von besonderen nationalen Verbänden zwecks Leitung des gesamten Schulwesens, von der Zerlegung des gesamten staatlichen Schulwesens durch nationale Scheidewände usw.

1 Lenin meint hier den Artikel von W. O. „Eine Verschlechterung des Schulwesens" in der „Sewernaja Rabotschaja Gaseta" vom 3. April (21. März) 1914.

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