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Wladimir I. Lenin 19140400 Zur Frage der nationalen Politik

Wladimir I. Lenin: Zur Frage der nationalen Politik1

[Geschrieben im April 1914. Zum ersten Mal veröffentlicht 1924 in der Zeitschrift „Proletarskaja Rewoluzija", Nr. 3 (26). Nach Sämtliche Werke Band 17, Moskau-Leningrad 1935, S. 400-409]

Ich will auf die Politik unserer Regierung in der nationalen Frage eingehen. Auf dem Gebiete jener Fragen, die bei uns „zum Ressort" des Innenministeriums gehören, ist dies eine der höchst wichtigen. Seit der Zeit, da die Reichsduma zum letzten Male das Budget dieses Ministeriums behandelte, wird die nationale Frage in Russland von unseren regierenden Klassen auf die Tagesordnung gestellt und spitzt sich immer mehr und mehr zu.

Der Fall Beilis hat abermals die Aufmerksamkeit der ganzen zivilisierten Welt auf Russland gelenkt und die bei uns herrschenden schändlichen Zustände bloßgelegt. Es gibt in Russland nichts, was auch nur entfernt einer Gesetzlichkeit ähnlich sieht. Den Behörden und der Polizei ist bei der gewissenlosen und schamlosen Hetze gegen die Juden einfach alles erlaubt, bis zur Verheimlichung und Bemäntelung von Verbrechen. Gerade das war die Lehre des Falles Beilis, der die engste und intimste Verbindung zwi2

Um zu zeigen, dass ich nicht übertreibe, wenn ich von einer Pqgromatmosphäre spreche, in der Russland atmet, kann ich das Zeugnis eines im höchsten Grade „wohlgesinnten", konservativen, „Minister machenden" Schriftstellers, nämlich des Fürsten Meschtscherski anführen Hier die vom ihm in seiner Zeitschrift „Graschdanin" zitierte Äußerung eines „Russen aus Kiew".3

Die Atmosphäre unseres Lebens würgt uns: wohin man auch geht – überall Verschwörungsgeflüster, überall riecht es nach Blutdurst, überall dar üble Geruch von Denunziationen, überall Hass, überarall Murren, überall Gestöhne" …4

jene politische Luft, die Russland atmet. Angesichts einer derartigen Atmosphäre von Recht, Gesetzlichkeit, Konstitution und ähnlichen liberalen Naivitäten zu sprechen oder an solche Dinge zu denken, ist einfach lächerlich; richtiger: es wäre lächerlich, wenn es nicht so … ernst wäre!

Diese Atmosphäre fühlt täglich jeder einigermaßen denkende und aufmerksame Mensch in unserem Lande. Aber nicht alle haben genügend Mut, um sich über die Bedeutung dieser Pogromatmosphäre klar Rechenschaft zu geben. Warum herrscht bei uns eine solche Atmosphäre? Warum kann sie herrschen? Nur deshalb, weil das Land in Wirklichkeit den Zustand eines schlecht verhüllten Bürgerkrieges durchmacht. Diesem oder jenem ist die Erkenntnis dieser Wahrheit unangenehm, manche möchten diese Erscheinung verschleiern. Unsere Liberalen, sowohl die Progressisten als auch die Kadetten, lieben es besonders, aus Fetzen fast ganz „konstitutioneller" Theorien einen solchen Schleier zu nähen. Doch erlaube ich mir zu glauben, dass es keine schädlichere und bei Volksvertretern verbrecherischere Sache gibt als die Verbreitung eines „Betrugs, der uns erhebt"5 von der Tribüne der Reichsduma.

Die ganze Politik der Regierung gegenüber den Juden und anderen – man verzeihe den „amtlichen" Ausdruck – „Fremdstämmigen" wird sofort verständlich, natürlich, unvermeidlich, wenn man der Wahrheit ins Auge blickt und die zweifellose Tatsache anerkennt, dass das Land sich im Zustande eines schlecht verhüllten Bürgerkrieges befindet. Die Regierung regiert nicht, sondern sie führt Krieg.

Wenn sie für den Krieg „echt-russische" Pogrommethoden wählt, so deshalb, weil ihr keine anderen zur Verfügung stehen. Jeder verteidigt sich, wie er kann. Purischkewitsch und seine Freunde können sich nicht anders verteidigen als durch eine Pogrompolitik, denn über eine andere verfügen sie nicht. Hier hat es keinen Zweck, zu seufzen, hier ist es absurd, die Sache mit Worten über die Verfassung oder über das Recht oder über das Regierungssystem abtun zu wollen – hier handelt es sich einfach um die Interessen der Klasse der Purischkewitsch & Co, und die schwierige Lage dieser Klasse.

Entweder muss man mit dieser Klasse energisch und nicht nur in Worten „abrechnen", oder man muss die Unvermeidlichkeit und Unabwendbarkeit der „Pogrom"-Atmosphäre in der ganzen Politik Russlands anerkennen. Entweder muss man sich mit dieser Politik abfinden, oder man muss die gegen sie gerichtete Bewegung des Volkes, der Massen und vor allem des Proletariats unterstützen. Entweder – oder. Einen Mittelweg kann es hier nicht geben.

In Russland zählt sogar die offizielle, d. h. offenkundig übertriebene und gemäß den „Intentionen der Regierung" gefälschte Statistik unter der ganzen Bevölkerung des Landes nur 43 Prozent Großrussen. Die Großrussen bilden in Russland weniger als die Hälfte der Bevölkerung. Sogar die Kleinrussen oder Ukrainer wurden bei uns offiziell, durch den Mund Stolypins „selbst" zu den „Fremdstämmigen" gezählt. Also machen die „Fremdstämmigen" in Russland 57 Prozent der Bevölkerung aus, d h. die Mehrheit der Bevölkerung, fast drei Fünftel, wahrend es in Wirklichkeit gewiss mehr als drei Fünftel sind. Mich hat in die Reichisduma das Gouvernement Jekaterinoslaw gewählt, in welchem die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung aus Ukrainern besteht. Das Verbot, Schewtschenko zu feiern, war vom Standpunkte der Agitation gegen die Regierung eine so ausgezeichnete, großartige, selten glückliche und treffliche Maßnahme, dass man sich gar keine bessere Agitation denken kann. Ich glaube alle unsere besten sozialdemokratischen Agitatoren gegen die Regierung hätten niemals in so kurzer Zeit solche schwindelerregenden Erfolge im regierungsfeindlichen Sinne erreicht wie diese Maßnahme. Nach dieser Maßnahme fingen Millionen und aber Millionen von „Einwohnern" an, zu bewussten Bürgern zu werden und sich von der Richtigkeit des Ausspruchs zu überzeugen, dass Russland ein „Gefängnis für Völker" sei.

Unsere Rechtsparteien und unsere Nationalisten lärmen jetzt so heftig gegen die „Mazepisten"6, unser berühmter Bobrinski verteidigt die Ukrainer gegen die Bedrängung durch die österreichische Regierung mit einem so herrlichen Demokrateneifer als ob er in die sozialdemokratische Partei Österreichs eintreten wollte7. Aber wenn das Hinneigen zu Österreich und die Bevorzugung seiner politischen Ordnung als „Mazepistentum" bezeichnet werden, so erweist sich Bobrinski vielleicht nicht als der letzte der Mazepisten; denn er klagt und schreit über die Bedrängung der Ukrainer in Österreich! Man denke bloß, was die russischen Ukrainer – sagen wir, die Bewohner des Gouvernements Jekaterinoslaw, das ich vertrete – dazu sagen sollen, wenn sie das lesen oder hören. Wenn Bobrinski „selbst", wenn der Nationalist Bobrinski, wenn der Graf Bobrinski, wenn der Gutsbesitzer Bobrinski, wenn der Fabrikbesitzer Bobrinski, wenn der mit der höchsten Aristokratie (beinahe mit den höchsten „Sphären") bekannte Bobrinski der Meinung ist, in Österreich, wo es nichts gibt, was mit dem schändlichen Niederlassungsgebiet für die Juden oder mit den niederträchtigen Verbannungen von Juden auf die Laune von dünkelhaften Tölpeln von Gouverneuren hin, oder mit der Vertreibung der Muttersprache aus den Schulen zu vergleichen ist – in Österreich sei die Lage der nationalen Minderheiten ungerecht und bedrückend: was soll man dann von den Ukrainern in Russland sagen?? Was soll man von den übrigen „Fremdstämmigen" in Russland sagen?

Bemerken Bobrinski und die anderen Nationalisten sowie auch die Rechten wirklich nicht, dass sie unter den „Fremdstämmigen" Russlands, das heißt unter drei Fünfteln der Bevölkerung Russlands das Bewusstsein der Zurückgebliebenheit Russlands sogar im Vergleich zu dem zurückgebliebensten der europäischen Länder, zu Österreich, wecken??

Die ganze Sache ist die, dass die Lage Russlands., das von den Purischkewitsch regiert wird, oder richtiger: das unter dem Stiefel der Purischkewitsch stöhnt, so originell ist, dass die Reden des Nationalisten Bobrinski die sozialdemokratische Agitation ausgezeichnet erläutern und anfachen.

Bemühen, bemühen Sie sich nur, erlauchter Fabrikant und Gutsbesitzer Bobrinski: Sie werden uns sicherlich helfen, sowohl die österreichischen als auch die russischen Ukrainer zu wecken, aufzuklären, aufzurütteln! Ich hörte in Jekaterinoslaw von einigen Ukrainern, dass sie dem Grafen Bobrinski eine Dankadresse für die erfolgreiche Propaganda zugunsten der Lostrennung der Ukraine von Russland schicken wollen. Und ich wunderte mich nicht, als ich das hörte. Ich sah Flugblätter, wo auf der einen Seite der Erlass über das Verbot der Ehrung Schewtschenkos und auf der anderen Zitate aus den wohlklingenden Reden Bobrinskis zugunsten der Ukrainer standen, Ich riet, diese Flugblätter an Bobrinski, Purischkewitsch und die übrigen Minister zu senden.

Aber wenn Purischkewitsch und Bobrinski erstklassige Agitatoren für die Umgestaltung Russlands in eine demokratische Republik sind, so wollen unsere Liberalen, und darunter die Kadetten, ihr Einverständnis mit den Purischkewitsch in einigen Hauptfragen der nationalen Politik vor der Bevölkerung verheimlichen. Wenn ich über den Haushalt des Innenministeriums spreche, das die allem bekannte nationale Politik führt, würde ich meine Pflicht nicht erfüllen, wenn ich nicht dieses Einverständnis der Kadettenpartei mit den Prinzipien des Innenministeriums streifte.

In der Tat, ist es nicht klar, dass derjenige, der … milde gesagt in „Opposition" zum Innenministerium stehen will, auch die geistigen Verbündeten dieses Ministeriums ans dem Lager der Kadetten kennen muss?

Laut Mitteilung der Zeitung „Rjetsch" fand in St. Petersburg am 23. bis 25. März dieses Jahres die ordentliche Konferenz der Kadettenpartei oder der „Partei der Volksfreiheit" statt.

Die nationalen Fragen“ – schreibt die „Rjetsch" (Nr. 83) – „wurden … besonders lebhaft besprochen. Die Kiewer Delegierten, denen sich N. W. Nekrassow und A. M. Koljubakin anschlossen, verwiesen darauf, dass die nationale Frage ein heranreifender gewaltiger Faktor sei, den man entschiedener berücksichtigen müsse, als dies früher geschehen ist. F. F. Kokoschkin wies indessen darauf hin, dass sowohl das Programm als auch die vorangegangene politische Erfahrung eine sehr vorsichtige Handhabung der dehnbaren Formeln über die politische Selbstbestimmung der Nationalitäten erfordern."

So stellt die „Rjetsch" die Sache dar. Und obwohl diese Darstellung absichtlich so abgefasst ist, dass möglichst wenige Leser das Wesen der Sache begreifen können, ist dennoch dieses Wesen für jeden aufmerksamen und denkenden Menschen klar. Die „Kijewskaja Mysl", die mit den Kadetten sympathisiert und ihre Ansichten vertritt, gibt die Rede Kokoschkins unter Einzufügung der Begründung wieder: „Denn dies kann zum Zerfall das Staates führen".

Das zweifellos war der Sinn der Rede Kokoschkins. Der Standpunkt Kokoschkins besiegte bei den Kadetten sogar die ganz schüchterne Demokratie der Nekrassow und Koljubakin. Der Standpunkt Kokoschkins ist der Standpunkt des großrussischen, liberal-bürgerlichen Nationalisten, der die Privilegien der Großrussen verteidigt (obwohl diese in Russland in der Minderheit sind), sie Hand in Hand mit dem Innenministerium verteidigt. Kokoschkin hat „theoretisch" die Politik des Innenministeriums vertreten – das ist das Wesen, darin liegt der Kern der Sache.

Vorsichtiger mit der politischen Selbstbestimmung der Nationen! Dass sie nicht etwa zum Zerfall des Staates führe!" das ist der Inhalt der nationalen Politik Kokoschkins, der mit der Hauptlinie der Politik des Innenministeriums völlig zusammenfällt. Aber Kokoschkin und die übrigen Führer der Kadetten sind keine Kinder. Sie kennen ganz gut den Ausspruch: „Nicht der Mensch ist für den Sabbat, sondern der Sabbat für den Menschen da." Nicht das Volk ist für den Staat, sondern der Staat ist für das Volk da. Kokoschkin und die anderen Führer der Kadetten sind keine Kinder. Sie verstehen sehr gut, dass der Staat bei uns (in Wirklichkeit) die Klasse der Purischkewitsch ist. Die Unversehrtheit des Staates ist die Unversehrtheit der Klasse der Purischkewitsch. Eben darum sind die Kokoschkin besorgt, wenn man direkt das Wesen ihrer Politik betrachtet und sie der diplomatischen Mäntelchen entkleidet

Ich erlaube mir, zum Zwecke der anschaulichen Erläuterung ein einfaches Beispiel anzuführen. Es ist bekannt, dass sich im Jahre 1905 Norwegen von Schweden trennte, trotz der heftigen Proteste der schwedischen Großgrundbesitzer, die mit Krieg drohten. Zum Glück sind in Schweden die feudalen Reaktionäre nicht allmächtig, wie sie es in Russland sind, und der Krieg brach nicht aus. Norwegen, das die geringere Bevölkerungszahl aufwies, trennte sich von Schweden friedlich, auf demokratische, auf kulturelle Weise und nicht so, wie es die feudalen Reaktionäre und die Kriegspartei haben wollten. Und was nun? Hat dabei das Volk verloren? Haben die Interessen der Kultur darunter gelitten? Oder die Interessen der Demokratie? Die Interessen der Arbeiter?

Keineswegs. Sowohl Norwegen als auch Schweden gehören zur Zahl der kulturell unvergleichlich höher als Russland stehenden Länder, unter anderem gerade deshalb, weil sie es verstanden, die Formel der politischen Selbstbestimmung" der Nationen demokratisch anzuwenden. Die Sprengung der gewaltsamen Bindung bedeutete die Stärkung der freiwilligen wirtschaftlichen Verbindung, eine Zunahme der kulturellen Annäherung, eine Zunahme der gegenseitigen Achtung zwischen diesen beiden, einander durch Sprache und anderes so nahestehenden Völkern. Die Gemeinsamkeit, die Annäherung des schwedischen und des norwegischen Volkes haben in Wirklichkeit durch die Lostrennung gewonnen, denn die Lostrennung war die Sprengung der gewaltsamen Bindungen.

Aus diesem Beispiel wird, hoffe ich, klar, dass Kokoschkin und die Kadettenpartei gänzlich auf dem Standpunkt des Innenministeriums stehen, wenn sie uns mit dem „Zerfall des Staates" schrecken und zur „vorsichtigen Handhabung" der völlig klaren und in der ganzen internationalen Demokratie unbestrittenen Formel der „politischen Selbstbestimmung" der Nationalitäten auffordern. Wir Sozialdemokraten sind Feinde jedes Nationalismus und Anhänger des demokratischen Zentralismus. Wir sind Gegner des Partikularismus, wir sind überzeugt, dass bei sonst gleichen Bedingungen große Staaten die Aufgaben des wirtschaftlichen Fortschritts und die mit dem Kampfe des Proletariats gegen die Bourgeoisie verknüpften Aufgaben weit erfolgreicher lösen können als kleine Staaten. Doch schätzen wir nur die freiwillige Bindung, niemals aber die gewaltsame. Überall, wo wir gewaltsame Bindungen zwischen den Nationen sehen, vertreten wir, ohne im Entferntesten unbedingt für die Lostrennung jeder Nation zu sein, bedingungslos und entschieden das Recht jeder Nation, sich politisch selbst zu bestimmen, d. h. sich loszutrennen.

Dieses Recht vertreten, propagieren, anerkennen, heißt die Gleichberechtigung der Nationen vertreten, heißt die gewaltsamen Bindungen nicht anerkennen, heißt gegen jedwede staatlichen Privilegien einer Nation, welche es auch sei, kämpfen, heißt auch die Arbeiter der verschiedenen Nationen zur restlosen Klassensolidarität erziehen.

Die Klassensolidarität der Arbeiter der verschiedenen Nationen gewinnt bei Ersetzung der gewaltsamen, feudalen, militärischen Bindungen durch freiwillige Verbindung.

Am höchsten schätzen wir die Gleichberechtigung der Nationen in der Volksfreiheit, und für den Sozialismus …8

und die Verfechtung der Privilegien der Großrussen Wir dagegen erklären: für keine einzige Nation darf es Privilegien geben, volle Gleichberechtigung der Nationen und Zusammenschluss, Vereinigung der Arbeiter aller Nationen.

Vor achtzehn Jahren, im Jahre 1896, nahm der internationale Kongress der proletarischen und sozialistischen Organisationen in London einen Beschluss über die nationale Frage an, der allein den richtigen Weg weist sowohl für die Bestrebungen zugunsten der wirklichen „Volksfreiheit" als auch für den Sozialismus. Dieser Beschluss lautet:

Der Kongress erklärt, dass er für volles Selbstbestimmungsrecht aller Nationen eintritt und mit den Arbeitern jedes Landes sympathisiert das gegenwärtig unter dem Joche des militärischen, nationalen oder anderen Despotismus leidet. Er fordert die Arbeiter aller dieser Länder auf, in die Reihen der klassenbewussten Arbeiter der ganzen Welt zu treten, um mit ihnen gemeinsam für die Überwindung des internationalen Kapitalismus und für die Durchsetzung der Ziele der internationalen Sozialdemokratie zu kämpfen,"

Auch wir rufen zur Einheit der Reihen der Arbeiter aller Nationen Russlands auf, denn nur diese Einheit ist imstande, die Gleichberechtigung der Nationen, die Freiheit des Volkes und die Interessen des Sozialismus zu gewährleisten.

Das Jahr 1905 hat die Arbeiter aller Nationen Russlands vereinigt. Die Reaktion ist bestrebt, dem nationalen Hass zu entfachen. Die liberale Bourgeoisie aller Nationen und vor allem und am meisten die großrussische kämpft um die Privilegien für ihre Nation (die polnische Dumafraktion ist z. B, gegen die Gleichberechtigung der Juden in Polen), kämpft für die nationale Absonderung, für die nationale Exklusivität und unterstützt damit die Politik unseres Innenministeriums.

Die wahre Demokratie dagegen, mit der Arbeiterklasse an der Spitze, erhebt die Fahne der völligen Gleichberechtigung der Nationen und der Verschmelzung der Arbeiter aller Nationen in ihrem Klassenkampf. Von diesem Standpunkt verwerfen wir die sogenannte „national-kulturelle" Autonomie, d. h. de Trennung des Schulwesens nach Nationalitäten in einem Staate, oder die Ausscheidung des Schulwesens aus der Kompetenz des Staates und seine Übergabe an gesondert organisierte nationale Verbände. Dar demokratische Staat muss die Autonomie der verschiedenen Gebiete anerkennen, besonders der Gebiete und Distrikte mit verschiedenartiger nationaler Zusammensetzung der Bevölkerung. Eine solche Autonomie widerspricht dem demokratischen Zentralismus keineswegs, im Gegenteil, in einem großen und nach seiner nationalen Zusammensetzung bunt gemischten Staate kann ein tatsächlich demokratischer Zentralismus nur vermittels der Autonomie der Gebiete verwirklicht werden. Der demokratische Staat muss unbedingt die völlige Freiheit der verschiedenen Sprachen anerkennen und jedwede Privilegien für eine der Sprachen ablehnen. Der demokratische Staat wird auf keinem Gebiete, in keinem Zweige der öffentlichen Angelegenheiten die Unterdrückung, die Majorisierung irgendeiner Nationalität durch eine andere zulassen.

Aber das Schulwesen den Händen des Staates zu entziehen und es nach Nationen aufzuteilen, die in besonderen nationalen Verbänden organisiert sind, das ist vom Standpunkt der Demokratie und noch mehr vom Standpunkt des Proletariats eine schädliche Maßnahme. Das würde nur zur Konsolidierung der Absonderung der Nationen führen, während wir ihre Annäherung anstreben müssen. Es würde zu einem Wachstum des Chauvinismus führen, während wir auf das engste Bündnis der Arbeiter aller Nationen, auf ihren gemeinsamen Kampf gegen jeden Chauvinismus, gegen jede nationale Exklusivität, gegen jeden Nationalismus hinarbeiten müssen. Die Schulpolitik der Arbeiter aller Nationen ist die gleiche: Freiheit der Muttersprache, demokratische und weltliche Schule.

Ich schließe, indem ich Purischkewitsch, Markow II. und Bobriniski für ihre erfolgreiche Agitation gegen die ganze staatliche Ordnung Russlands, für ihre anschaulichen Lehren über die Unvermeidlichkeit der Umwandlung Russlands in eine demokratische Republik nochmals meine Anerkennung ausdrücke.

1 Das Manuskript „Zur Frage der nationalen Politik" ist der Entwurf einer Rede, die der Dumaabgeordnete Petrowski in der Reichsduma halten sollte. Petrowski gelang es nicht, diese Rede zu halten, offenbar infolge der am 5. Mai (22. April) erfolgten Entfernung des linken Flügels aus der Duma für 15 Sitzungen. Im Archiv des Marx-Engels-Lenin-Instituts befindet sich das unvollständige Original des Leninschen Manuskripts, das im vorliegenden Bande mit einer kleinen, drei Absätze ausmachenden Ergänzung abgedruckt ist. Die Ergänzung wurde einer Abschrift der Rede entnommen, die von Petrowski etwas vollständiger aufbewahrt worden ist. Im Vorwort zu einer früheren Veröffentlichung des Redeentwurfes erzählt Petrowski, dass Lenin während einer Zusammenkunft mit ihm, die offenbar im April 1914 in Poronin erfolgte, die Rede mit ihm „gründlich besprach".

2 Das folgende Blatt des Manuskripts ist verlorengegangen. Die Red.

3 Das Zitat stammt aus einer Umschau unter dem Titel „Der Geheimniskundige" in der von Meschtscherski herausgegebenen Zeitung „Graschdanin" vom 19. (6.) April 1914.

Graschdanin" („Bürger") erschien von 1872 bis 1914, war anfangs gemäßigt konservativen Charakters mit einer slawophilen Schattierung, von den 90er Jahren an jedoch das Organ der extremsten adligen Reaktion. In den 70er Jahren gehörten G. K. Gradowski und Dostojewski der Redaktion an. In der Zeit von 1913/14 zeichnete M. N. Nasarow als verantwortlicher Redakteur.

4 Das folgende Blatt des Manuskripts ist verlorengegangen. Die Red.

5 Aus Puschkins Gedicht „Der Held", in welchem es über die Dichtkunst heißt: Mehr als der Tross gemeiner Wahrheit gilt mir Betrug, der mich erhebt. Die Red.

6 Bezeichnung für die ukrainischen Nationalisten. Siehe Fußnote zu dem Artikel „Noch etwas über den Nationalismus“. Die Red.

7 Lenin meint die Rede des Nationalisten W. A. Bobrinski in der Sitzung der Reichsduma vom 24. (11.) Mai 1913 in einer persönlichen Frage im Zusammenhang mit der Programmrede Schingarjows zum Entwurf des Voranschlags des Staatshaushalts für das Jahr 1913. Schingarjow hatte in seiner Rede die Verfolgungen der Ukrainer in Russland berührt. Bobrinski beschuldigte Schingarjow der Beschönigung der Lage der Ukrainer in Galizien und führte eine Reihe von Beispielen für die Verfolgung der Ukrainer in Galizien an.

8 Das folgende Blatt des Manuskripts ist verlorengegangen. Die Red.

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