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Wladimir I. Lenin 19140218 Zur Geschichte des nationalen Programms in Österreich und in Russland

Wladimir I. Lenin: Zur Geschichte des nationalen Programms in Österreich und in Russland

[„Put Prawdy", Nr. 13. 18. (5.) Februar 1914. Gez.: M. Nach Sämtliche Werke Band 17, Moskau-Leningrad 1935, S. 249-251]

In Österreich wurde das nationale Programm der Sozialdemokratie auf dem Brünner Parteitag im Jahre 1899 beraten und angenommen. Sehr verbreitet ist die irrtümliche Meinung, dass auf diesem Parteitag die sogenannte „national-kulturelle Autonomie" angenommen worden sei. Sie wurde im Gegenteil auf diesem Parteitag einstimmig abgelehnt.

Die südslawischen1 Sozialdemokraten hatten dem Brünner Parteitag (siehe S. 15 des offiziellen Protokolls in deutscher Sprache) ein folgendermaßen formuliertes Programm der national-kulturellen Autonomie vorgeschlagen:

§ 2: Jedes in Österreich lebende Volk ist, ohne Rücksicht auf die von seinen Mitgliedern bewohnten Territorien, eine autonome Gruppe, welche alle ihre nationalen {sprachlichen und kulturellen) Angelegenheiten ganz selbständig regelt und besorgt."

Die von uns unterstrichenen Worte drücken das Wesen der national-kulturellen Autonomie" (auch „exterritorial" genannt) besonders klar aus: der Staat muss die Abgrenzung der Nationen in den Schul- und ähnlichen Angelegenheiten auf Grund freier Meldung jedes Einzelnen zu einer x-beliebigen Nation durchführen.

Dieses Programm vertraten auf dem Parteitag sowohl Kristan als auch der einflussreiche Ellenbogen. Es wurde aber später zurückgezogen. Nicht eine einzige Stimme wurde dafür abgegeben. Der Parteiführer Viktor Adler sagte: „Ich bezweifle, ob irgend jemand heute die Sache für praktisch ausführbar hält" (S. 82 des Protokolls).

An grundsätzlichen Einwendungen wurde von Preußler die folgende gemacht:

Die Vorschläge der Genossen Kristan und Ellenbogen würden zu der Konsequenz führen, dass der Chauvinismus verewigt und in jede kleine Gemeinde, in jede kleine Gruppe getragen würde." (S. ,927 ebenda.)

Der § 3 des auf dem Brünner Parteitag angenommenen Programms, der sich hierauf bezieht, lautet:

Sämtliche Selbstverwaltungsgebiete einer und derselben Nation bilden zusammen einen national-einheitlichen Verband, der seine nationalen Angelegenheiten völlig autonom besorgt."

Das ist ein territorialistisches Programm, das daher beispielsweise eine jüdische „national-kulturelle Autonomie" direkt ausschließt. Der Haupttheoretiker der „national-kulturellen Autonomie", Otto Bauer, hat ein besonderes Kapitel seines Buches (1907) dem Beweis der Unmöglichkeit gewidmet, eine „national-kulturelle Autonomie" für die Juden zu fordern.

Zur Sache wollen wir bemerken dass die Marxisten für die volle Freiheit der Verbände, darunter auch der Verbände beliebiger nationaler Gebiete (Kreise, Landbezirke, Dörfer usw.) eintreten, aber die Sozialdemokraten können unter keinen Umständen dem zustimmen, dass die einheitlichen nationalen Verbände innerhalb des Staates durch ein Staatsgesetz gefestigt werden.

In Russland haben gerade sämtliche bürgerlichen Parteien des Judentums (auch der Bund, der faktisch ihr Nachbeter ist) das von allen Theoretikern Österreichs sowie vom Parteitag der österreichischen Sozialdemokraten abgelehnte Programm der „exterritorialen (national-kulturellen) Autonomie" angenommen!!

Diese Tatsache, die die Bundisten oft und aus ganz begreiflichem Grunde in Abrede zu stellen suchten, ist in dem bekannten Buche: „Die Formen der nationalen Bewegung" (St. Petersburg 1910) siehe auch „Prosweschtschenije" 1913, Nr. 3 – leicht nachzuprüfen.

Diese Tatsache zeigt deutlich, wie die rückständigere und mehr kleinbürgerliche soziale Struktur Russlands zu einer viel größeren Ansteckung eines Teiles der Marxisten mit dem bürgerlichen Nationalismus geführt hat.

Die nationalistischen Schwankungen des Bund wurden bereits auf dem zweiten Parteitag (1903) formell und unanfechtbar, verurteilt.. Auf diesem Parteitag wurde der Abänderungsantrag des Bundisten Goldblatt, betreffend die „Gründung von Institutionen, die die Freiheit der Entwicklung der Nationalitäten garantieren" (ein Pseudonym für die „national-kulturelle Autonomie"), direkt abgelehnt.

Als auf der Augustkonferenz der Liquidatoren im Jahre 1912 die kaukasischen Menschewiki, die bis dahin während eines Jahrzehnts den Bund entschieden bekämpft hatten, unter dem Einfluss der gesamten nationalistischen Atmosphäre der Gegenrevolution selbst zum Nationalismus hinab glitten, wurden sie keineswegs nur von den Bolschewiki, sondern auch von dem Menschewik Plechanow, der ihren Beschluss die „Anpassung des Sozialismus an den Nationalismus" nannte, entschieden verurteilt.

Die kaukasischen Genossen – schrieb Plechanow – haben dadurch, dass sie anstatt von der politischen Autonomie von der kulturellen Autonomie zu sprechen begannen, nur die Tatsache ihrer unvernünftigen Unterordnung unter die Hegemonie des Bund bekundet."

Die „national-kulturelle Autonomie" wurde außer von den bürgerlichen Parteien des Judentums, dem Bund und den Liquidatoren nur von der Konferenz der kleinbürgerlichen nationalen Parteien der linken Narodnikirichtung angenommen. Aber auch von ihnen haben nur vier Parteien (die „Serp", d. i. die Sozialistische jüdische Arbeiterpartei, die weißrussische Hromada, die Daschnakzutjun und die georgischen föderalistischen Sozialisten) dieses Programm angenommen, während die zwei größten Parteien sich der Stimme enthalten haben, und zwar die russischen Linksnarodniki und die polnischen „Fraki" (PPS)!

Im Besonderen sprachen sich die russischen Linksnarodniki gegen die staatsrechtlichen Zwangsverbände der Nationalitäten nach dem berühmten bundistischen Plan aus.

Nach diesem kurzen historischen Exkurs wird es begreiflich, warum sowohl die Februar- als auch die Sommerberatung der Marxisten im Jahre 1913 die kleinbürgerliche und nationalistische Idee der „national-kulturellen Autonomie" entschieden verurteilt haben.

1 Slowenischen. Die Red.

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