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Wladimir I. Lenin 19150823 Über die Losung der Vereinigten Staaten von Europa

Wladimir I. Lenin: Über die Losung der Vereinigten Staaten von Europa

[Sozialdemokrat Nr. 44, 23. August 1915. Nach Sämtliche Werke, Band 18, Wien-Berlin 1929, S. 306-310]

In Nr. 40 des Sozialdemokrat haben wir mitgeteilt, dass die Konferenz der Auslands-Sektionen unserer Partei beschlossen hat, das Problem der Losung „Vereinigte Staaten von Europa“ zu vertagen, bis die ökonomische Seite der Sache in der Presse erörtert sein wird.

Die Diskussion über diese Frage hatte auf unserer Konferenz einseitig-politischen Charakter angenommen. Das war vielleicht zum Teil dadurch hervorgerufen, dass im Manifest des Zentralkomitees diese Losung direkt als politische formuliert wird („die nächste politische Losung“ – heißt es dort), wobei nicht nur von republikanischen Vereinigten Staaten von Europa gesprochen, sondern noch speziell betont wird, dass diese Losung „ohne den revolutionären Sturz der deutschen, österreichischen und russischen Monarchie“ sinnlos und verlogen sei.

Es wäre vollkommen falsch, wollte man gegen eine solche Fragestellung innerhalb der Grenzen der politischen Beurteilung dieser Losung polemisieren, – z. B. von dem Standpunkt aus, dass sie die Parole der sozialistischen Revolution verdunkle oder abschwäche u. a. m. Politische Umgestaltungen in wahrhaft demokratischer Richtung, erst recht aber politische Revolutionen können auf keinen Fall, niemals, unter keinen Umständen die Losung der sozialistischen Revolution verdunkeln oder abschwächen. Im Gegenteil, stets bringen sie diese näher, erweitern die Basis für sie, ziehen neue Schichten des Kleinbürgertums und der halbproletarischen Massen in den sozialistischen Kampf hinein. Anderseits aber sind politische Revolutionen unvermeidlich im Verlauf der sozialistischen Revolution, die man nicht als einzelnen Akt betrachten kann, vielmehr als eine Epoche der stürmischen politischen und ökonomischen Erschütterungen, des schärfsten Klassenkampfes, des Bürgerkriegs, der Revolutionen und Gegenrevolutionen betrachten muss.

Aber wenn die Parole der republikanischen Vereinigten Staaten von Europa, in Zusammenhang gebracht mit der revolutionären Umwälzung der drei reaktionärsten Monarchien Europas, die russische an der Spitze, als politische Losung völlig unantastbar ist, so bleibt doch noch die sehr wichtige Frage nach dem ökonomischen Inhalt und der ökonomischen Bedeutung dieser Parole. Vom Standpunkte der ökonomischen Bedingungen des Imperialismus, d. h. des Kapitalexports und der Aufteilung der Welt unter den „fortgeschrittensten“ und „zivilisierten“ Kolonialmächten, sind die Vereinigten Staaten von Europa unter kapitalistischen Verhältnissen entweder unmöglich oder reaktionär.

Das Kapital ist international und monopolistisch geworden. Die Welt ist aufgeteilt unter ein Häuflein von Großmächten, d. h. von Staaten, die in der Plünderung und Unterdrückung der Nationen die größten Erfolge zu verzeichnen haben. Die vier Großmächte Europas: England, Frankreich, Russland und Deutschland, mit einer Bevölkerung von 250-300 Millionen und einem Territorium von zirka 7 Millionen Quadratkilometer, verfügen über Kolonien mit einer Bevölkerung von fast einer halben Milliarde (494,5 Millionen) und einem Territorium von 64,6 Millionen Quadratkilometer, d. h. fast über die halbe Erdkugel (133 Millionen Quadratkilometer ohne die Polargebiete). Man nehme noch die drei asiatischen Staaten: China, die Türkei und Persien hinzu, die jetzt von den im „Befreiungskrieg“ stehenden Räubern, nämlich von Japan, Russland, England und Frankreich, in Stücke gerissen werden. Diese drei asiatischen Staaten, die man als Halbkolonien bezeichnen kann (in Wirklichkeit sind sie jetzt zu neun Zehnteln Kolonien), haben eine Bevölkerungszahl von 360 Millionen und eine Gesamtfläche von 14,5 Millionen Quadratkilometer (d. h. eineinhalb mal soviel als die Gesamtfläche von ganz Europa).

Ferner haben England, Frankreich und Deutschland im Auslande mindestens 70 Milliarden Rubel Kapital investiert. Das „legitime“ Einkommen aus dieser netten Summe – eine Jahreseinnahme von über 3 Milliarden Rubel – in Empfang zu nehmen, sind die nationalen Millionär-Ausschüsse da, die Regierung genannt werden, über Armee und Kriegsflotte verfügen und in den Kolonien und Halbkolonien die Söhnchen und Brüderchen von „Monsieur Kapital“ in der Eigenschaft von Vizekönigen, Konsuln, Botschaftern, Beamten jeder Art, Pfaffen und anderen Blutsaugern „unterbringen“.

So ist im Zeitalter der höchsten kapitalistischen Entwicklung die Ausräuberung von rund einer Milliarde Erdbewohner durch ein Häuflein von Großmächten organisiert. Und unter dem Kapitalismus ist jede andere Organisation unmöglich. Auf Kolonien, auf „Einflusssphären“, auf Kapitalexport verzichten? Daran denken, hieße auf das Niveau des Pfäffleins herabsteigen, das jeden Sonntag den Reichen die Erhabenheit des Christentums predigt und ihnen anrät, den Armen zu geben … nun, wenn nicht ein paar Milliarden, so doch wenigstens ein paar hundert Rubel im Jahr.

Vereinigte Staaten von Europa sind unter kapitalistischen Verhältnissen gleichbedeutend mit Übereinkommen über die Teilung der Kolonien. Aber unter kapitalistischen Verhältnissen ist jede andere Basis, jedes andere Prinzip der Teilung als das der Macht unmöglich. Der Milliardär kann das „Nationaleinkommen“ des kapitalistischen Landes mit jemand anderem nur in einer bestimmten Proportion teilen: „nach Kapitalhöhe“ (außerdem noch mit einem Zuschlag, damit das größte Kapital mehr bekommt, als ihm gebühren würde). Kapitalismus bedeutet Privateigentum an den Produktionsmitteln und Anarchie der Produktion. Auf solcher Basis eine „gerechte“ Verteilung des Einkommens predigen, ist Proudhonismus, ist kleinbürgerlicher, philiströser Stumpfsinn. Es kann nicht anders geteilt werden als „der Macht entsprechend“. Die Machtverhältnisse ändern sich aber mit dem Gang der ökonomischen Entwicklung. Nach 1871 erstarkte Deutschland drei- bis viermal rascher als England und Frankreich. Japan zehnmal rascher als Russland. Um die tatsächliche Macht eines kapitalistischen Staats zu prüfen, gibt es kein anderes Mittel und kann es kein anderes geben als den Krieg. Der Krieg ist kein Widerspruch zu den Grundlagen des Privateigentums, sondern er ist das direkte und unvermeidliche Entwicklungsergebnis dieser Grundlagen. Unter dem Kapitalismus ist gleichmäßiges Wachstum in der ökonomischen Entwicklung der einzelnen Wirtschaften und der einzelnen Staaten unmöglich. Unter dem Kapitalismus gibt es keine andern Mittel zur zeitweiligen Wiederherstellung des gestörten Gleichgewichts als Krisen in der Industrie und Kriege in der Politik.

Natürlich sind vorübergehende Abkommen zwischen den Kapitalisten und zwischen den Mächten möglich. In diesem Sinne sind auch die Vereinigten Staaten von Europa möglich, als Übereinkommen der europäischen Kapitalisten… worüber? Lediglich darüber, dass mit vereinten Kräften der Sozialismus in Europa unterdrückt wird, dass mit vereinten Kräften die geraubten Kolonien gegen Japan und Amerika verteidigt werden, welch letztere durch die jetzige Aufteilung der Kolonien in höchstem Maße benachteiligt und in den letzten 50 Jahren unvergleichlich rascher erstarkt sind als das rückständige, monarchistische und altersschwache Europa. Im Vergleich zu den Vereinigten Staaten von Amerika bedeutet Europa im ganzen genommen den ökonomischen Stillstand. Auf der heutigen ökonomischen Basis, d. h. unter kapitalistischen Verhältnissen, würden die Vereinigten Staaten von Europa die Organisation der Reaktion zur Hemmung der rascheren Entwicklung Amerikas bedeuten. Jene Zeiten, in denen die Sache der Demokratie und die Sache des Sozialismus nur mit Europa verknüpft war, sind unwiderruflich entschwunden.

Die Vereinigten Staaten der Welt (nicht aber Europas) sind jene staatliche Form der Vereinigung und der Freiheit der Nationen, die wir mit dem Sozialismus verknüpfen, – solange nicht der vollständige Sieg des Kommunismus zum endgültigen Verschwinden eines jeden, darunter auch des demokratischen Staats geführt haben wird. Als selbständige Losung wäre jedoch die Losung „Vereinigte Staaten der Welt“ kaum richtig, denn erstens fällt sie mit dem Sozialismus zusammen; zweitens könnte sie die falsche Auffassung von der Unmöglichkeit des Sieges des Sozialismus in einem Lande und eine falsche Auffassung von den Beziehungen eines solchen Landes zu den übrigen entstehen lassen.

Die Ungleichmäßigkeit der ökonomischen und politischen Entwicklung ist ein unbedingtes Gesetz des Kapitalismus. Hieraus folgt, dass der Sieg des Sozialismus ursprünglich in wenigen oder sogar in einem einzeln genommenen kapitalistischen Lande möglich ist. Nach Enteignung der Kapitalisten und Organisation der sozialistischen Produktion im eigenen Lande würde sich das siegreiche Proletariat dieses Landes gegen die übrige kapitalistische Welt erheben, indem es die unterdrückten Klassen der anderen Länder für sich gewinnen, in diesen Ländern den Aufstand gegen die Kapitalisten anfachen und im Notfall sogar mit Kriegsgewalt gegen die explodierenden Klassen und ihre Staaten Vorgehen würde. Die politische Form der Gesellschaft, in der das Proletariat siegt, indem es die Bourgeoisie niederwirft, wird die demokratische Republik sein, die die Kräfte des Proletariats der betreffenden Nation oder der betreffenden Nationen immer mehr zentralisiert im Kampfe gegen die Staaten, die noch nicht zum Sozialismus übergegangen sind. Die Aufhebung der Klassen ist unmöglich ohne die Diktatur der unterdrückten Klasse, des Proletariats. Die freie Vereinigung der Nationen im Sozialismus ist unmöglich ohne den mehr oder weniger langwierigen, hartnäckigen Kampf der sozialistischen Republiken gegen die rückständigen Staaten.

Aus eben diesen Erwägungen heraus, im Ergebnis vielfacher Erörterung der Frage auf der Konferenz der Auslands-Sektionen der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands und nach dieser Konferenz, ist die Redaktion des Zentralorgans zu dem Schlusse gelangt, dass die Losung der Vereinigten Staaten von Europa falsch ist.

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