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Wladimir I. Lenin 19171031 Brief an die Mitglieder der Partei der Bolschewiki

Wladimir I. Lenin: Brief an die Mitglieder der Partei der Bolschewiki1

[Geschrieben am 31. (18.) Oktober 1917. Zum ersten Mal veröffentlicht am 4. November 1927 in der „Prawda", Nr. 180. Nach Sämtliche Werke, Band 21, Wien-Berlin 1931, S. 445-448]

Genossen! Ich habe noch nicht die Möglichkeit gehabt, die Petrograder Zeitungen vom Mittwoch, den 18. Oktober einzusehen. Als man mir telefonisch den in dem parteilosen Blatt „Nowaja Schisn" veröffentlichten vollständigen Text der Erklärung Kamenews und Sinowjews übermittelte, konnte ich es nicht glauben. Es hat sich aber erwiesen, dass Zweifel unmöglich sind, und ich bin gezwungen, eine Gelegenheit zu benutzen, um diesen Brief bis Donnerstag Abend oder Freitag früh den Mitgliedern der Partei zuzustellen, denn es wäre ein Verbrechen, die Tatsache eines so unerhörten Streikbruchs mit Schweigen zu übergehen.

Je ernster die praktische Frage, je verantwortlicher und je „prominenter" die Leute sind, die den Streikbruch begehen, um so gefährlicher ist er, um so entschiedener muss man die Streikbrecher hinauswerfen, um so unverzeihlicher wäre ein Schwanken, z. B. wegen früherer Verdienste der Streikbrecher.

Man bedenke nur! Es ist in Parteikreisen bekannt, dass die Partei seit September die Frage des Aufstandes diskutiert. Keiner hat je von einem einzigen Brief oder Flugblatt der genannten Genossen etwas gehört. Jetzt, sozusagen am Vorabend des Rätekongresses, treten zwei führende Bolschewiki gegen die Mehrheit und selbstredend gegen das ZK auf. Das wird aber nicht offen gesagt, und dadurch wird der Schaden für die Sache noch größer, denn in Andeutungen zu sprechen, ist noch gefährlicher.

Aus dem Text der Erklärung Kamenews und Sinowjews wird ganz klar, dass sie gegen das ZK sind, sonst wäre ihre Erklärung sinnlos. Sie haben aber nicht gesagt, gegen welchen Beschluss des ZK sie kämpfen.

Warum?

Das ist klar: weil das ZK diesen Beschluss nicht veröffentlicht hat.

Wie steht also die Sache?

Am Vorabend des kritischen Tages, des 20. Oktober, greifen zwei „führende Bolschewiki" in einer äußerst wichtigen Kampffrage einen unveröffentlichen Beschluss der Parteizentrale in einem nicht parteilichen Presseorgan an. Noch dazu in einer Zeitung, die in dieser Frage Hand in Hand mit der Bourgeoisie gegen die Arbeiterpartei geht!

Das ist ja tausendmal niederträchtiger und Millionen Mal schädlicher als alle Aktionen z. B. Plechanows in der außerparteilichen Presse in den Jahren 1906/07, die die Partei so scharf verurteilte. Handelte es sich doch damals nur um Wahlen, während es jetzt um den Aufstand zur Eroberung der Macht geht!2

In einer solchen Frage nach Beschlussfassung der Zentrale diesen unveröffentlichten Beschluss vor den Rodsjanko und Kerenski in einem außerparteilichen Blatt anzugreifen, – kann man sich ein verräterischeres, streikbrecherischeres Vorgehen vorstellen?

Ich würde es als Schmach für mich betrachten, wenn ich aus Rücksicht auf meine frühere enge Verbindung mit diesen ehemaligen Genossen in ihrer Verurteilung schwankte. Ich sage offen, dass ich sie beide nicht mehr als Genossen betrachte und mit aller Kraft sowohl im ZK wie auf dem Parteitag für ihren Ausschluss aus der Partei kämpfen werde.

Denn eine Arbeiterpartei, die im Leben selbst immer öfter unmittelbar vor dem Aufstand steht, kann diese schwere Aufgabe nicht lösen, wenn unveröffentlichte Beschlüsse der Zentrale nach ihrer Annahme in der außerparteilichen Presse bekämpft und wenn in die Reihen der Kämpfer Schwankungen und Verwirrung getragen werden.

Mögen die Herren Sinowjew und Kamenew mit dem Dutzend Leuten, die den Kopf verloren haben, oder mit Konstituante-Kandidaten ihre Partei gründen. Arbeiter werden einer solchen Partei nicht beitreten, denn ihre erste Losung wird lauten:

ZK-Mitgliedern, die in der Frage des entscheidenden Kampfes in der ZK-Sitzung niedergestimmt werden, ist es gestattet, unveröffentlichte Parteibeschlüsse in der außerparteilichen Presse anzugreifen."

Mögen sie sich eine solche Partei gründen, unsere bolschewistische Arbeiterpartei wird dadurch nur gewinnen.

Wenn alle Dokumente veröffentlicht sein werden, wird der Streikbruch Sinowjews und Kamenews noch viel klarer zu Tage treten. Inzwischen mögen die Arbeiter folgende Frage beantworten:

Nehmen wir an, die Leitung des Allrussischen Gewerkschaftsbundes hätte nach monatelanger Beratung mit einer Mehrheit von über 80 Prozent beschlossen, einen Streik vorzubereiten, aber über den Zeitpunkt oder über andere Umstände vorläufig nichts zu veröffentlichen. Nehmen wir an, zwei Mitglieder betreiben unter dem Vorwand einer angeblich „besonderen Meinung" nach dem Beschluss nicht nur bei den Ortsgruppen schriftlich die Revision des Beschlusses, sondern lassen auch eine Veröffentlichung ihrer Briefe in der außerparteilichen Presse zu; nehmen wir endlich an, sie greifen auch selbst den Beschluss in der außerparteilichen Presse an, obwohl er noch nicht veröffentlicht ist, schwärzen den Streik vor den Kapitalisten an.

Würden die Arbeiter zögern, solche Streikbrecher aus ihren Reihen auszuschließen?

Was die Frage des Aufstands jetzt, so kurz vor dem 20. Oktober betrifft, so kann ich aus der Ferne nicht beurteilen, wie weit die Sache durch dieses streikbrecherische Auftreten in der außerparteilichen Presse verpfuscht ist. Ohne Zweifel ist der praktische Schaden sehr groß. Um die Sache wieder gutzumachen, muss vor allem die Einheit der bolschewistischen Front durch Ausschluss der Streikbrecher wiederhergestellt werden.

Die Schwäche der ideellen Argumente gegen den Aufstand wird um so klarer, je mehr wir sie ans Tageslicht ziehen. Ich habe dieser Tage einen Artikel darüber an den „Rabotschij Putj" geschickt, und wenn die Redaktion es nicht für möglich hält, diesen Artikel zu bringen, werden ihn die Parteimitglieder wahrscheinlich im Manuskript kennen lernen.

Diese mit Verlaub zu sagen „ideellen Argumente" lassen sich auf zwei reduzieren. Erstens: Abwarten der Konstituante. Warten wir, vielleicht warten wir's ab. Das ist das ganze Argument. Vielleicht können wir trotz Hunger, trotz Zerrüttung, trotz Erschöpfung der Geduld der Arbeiter, trotz Rodsjankoscher Maßnahmen zur Auslieferung Petrograds an die Deutschen doch noch abwarten.

Vielleicht" und „mag sein", das ist die ganze Kraft des Arguments.

Zweitens: ein hysterischer Pessimismus. Bei der Bourgeoisie und bei Kerenski ist alles ausgezeichnet, bei uns ist alles schlecht. Bei den Kapitalisten ist alles großartig vorbereitet, bei den Arbeitern alles schlecht. Die „Pessimisten" in Bezug auf die militärische Seite der Sache schreien aus vollem Halse, während die „Optimisten" schweigen, denn nur Streikbrecher bringen es fertig, gewisse Dinge vor Rodsjanko und Kerenski aufzudecken.

Schwere Zeiten. Eine schwere Aufgabe. Ein schwerer Verrat.

Und trotzdem wird die Aufgabe gelöst werden, die Arbeiter werden sich zusammenschließen, der Bauernaufstand und die äußerste Ungeduld der Soldaten an der Front werden das ihrige tun. Schließen wir unsere Reihen enger, – das Proletariat muss siegen!

N. Lenin

1 Den „Brief an die Mitglieder der Partei der Bolschewiki" hat Lenin am 31. (18.) Oktober 1917 morgens geschrieben, und zwar aus Anlass einer Notiz in der „Nowaja Schisn", Nr. 156 von demselben Tage, unter dem Titel „J. Kamenew über die Aktion", in der Kamenew in seinem Namen und im Namen Sinowjews erklärte, dass sie „unter den gegebenen Umständen verpflichtet seien, sich gegen jeden Versuch zu wenden, die Initiative zum bewaffneten Aufstand auf sich zu nehmen, der zur Niederlage verurteilt wäre und die schlimmsten Folgen für die Partei, das Proletariat, das Schicksal der Revolution nach sich ziehen würde. Alles in den nächsten Tagen auf die Karte des Aufstandes setzen, hieße einen Schritt der Verzweiflung tun". Den Brief Lenins, ferner den Brief an das ZK der SDAPR und die Erklärung Kamenews vom 29. (16.) Oktober über seinen Austritt aus dem ZK erörterte das ZK in seiner Sitzung vom 2. November (20. Oktober) 1917. Nach einer langen Diskussion beschloss das ZK: Kamenews Demission anzunehmen und „Kamenew und Sinowjew zur Pflicht zu machen, mit keinen Erklärungen gegen die Beschlüsse des ZK und die von diesem festgesetzte Linie für die Parteiarbeit aufzutreten". Ferner wurde ein Antrag Miljutins angenommen, demzufolge „kein Mitglied des ZK das Recht hatte, gegen die Beschlüsse des ZK aufzutreten" („Protokolle der Sitzungen des ZK der SDAPR", „Proletarskaja Rewoluzija", Nr. 10 [69], 1927).

2 Gemeint ist das Auftreten Plechanows in den Jahren 1906/07, der in der von J. D. Kuskowa herausgegebenen, dem linken Flügel der Kadettenpartei nahestehenden Zeitung „Towarischtsch" für einen Block mit den Kadetten Propaganda machte.

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