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Wladimir I. Lenin 19171030 Brief an die Genossen

Wladimir I. Lenin: Brief an die Genossen

[Geschrieben am 29./30. (16./17.) Oktober 1917 „Rabotschij Putj", Nr. 40, 41, 42 1., 2., 3. November (19., 20., 21. Oktober) 1917 Gezeichnet: N. Lenin. Nach Sämtliche Werke, Band 21, Wien-Berlin 1931, S. 423-444]

Genossen! Die Zeit in der wir leben, ist so kritisch, die Ereignisse folgen mit so unglaublicher Geschwindigkeit aufeinander, dass der Publizist, der durch den Willen des Schicksals etwas abseits vom Hauptstrom der Geschichte zu stehen gezwungen ist, Gefahr läuft, beständig zu spät zu kommen oder sich uninformiert zu erweisen, besonders wenn seine Schreiben mit Verspätung das Licht der Welt erblicken. Obwohl ich das sehr wohl weiß, bin ich doch gezwungen, diesen Brief an die Bolschewiki zu richten, selbst auf die Gefahr hin, dass er überhaupt nicht veröffentlicht wird, denn die Schwankungen, gegen die mit aller Entschlossenheit mich zu wenden ich für meine Pflicht halte, sind unerhört und können verheerende Folgen für die Partei, für die Bewegung des internationalen Proletariats, für die Revolution nach sich ziehen. Was aber die Gefahr der Verspätung anbelangt, so will ich, um ihr vorzubeugen, angeben, welche Nachrichten von welchem Datum mir zur Verfügung stehen.

Es gelang mir erst am Montag, dem 16. Oktober, morgens, einen Genossen zu treffen, der Tags vorher an einer sehr wichtigen bolschewistischen Versammlung in Petrograd teilgenommen hatte und mich ausführlich über die Diskussion informierte.1 Zur Diskussion stand dieselbe Frage des Aufstandes, die auch von den Sonntagsblättern aller Richtungen diskutiert wird. In der Versammlung waren alle einflussreichen Genossen aller Gebiete der bolschewistischen Arbeit in der Hauptstadt vertreten, und nur eine verschwindende Minderheit der Versammlung, im ganzen zwei Genossen, nahm eine ablehnende Stellung ein. Die Argumente, auf die sich diese Genossen stützten, sind so schwach, in diesen Argumenten äußert sich eine so erstaunliche Kopflosigkeit und Verängstigung, ein solcher Zusammenbruch aller Grundideen des Bolschewismus und des revolutionär-proletarischen Internationalismus, dass es einem schwer fällt, für so schmachvolle Schwankungen eine Erklärung zu finden. Aber die Tatsache steht fest, und da eine revolutionäre Partei in einer so ernsten Frage keine Schwankungen dulden darf, da dieses Genossenpärchen, das seine Prinzipien verloren hat, immerhin eine gewisse Verwirrung stiften kann, tut es not, ihre Argumente zu analysieren, ihre Schwankungen aufzudecken und zu zeigen, wie schmachvoll sie sind. In den folgenden Zeilen soll versucht werden, diese Aufgabe zu erfüllen.

„…Wir haben nicht die Mehrheit im Volke, ohne diese Vorbedingung ist der Aufstand aussichtslos…"

Leute, die so etwas sagen können, entstellen entweder die Wahrheit oder es sind Pedanten, die unter allen Umständen, ohne die realen Bedingungen der Revolution auch nur im Geringsten zu berücksichtigen, von vornherein die Gewähr haben möchten, dass die Partei der Bolschewiki im ganzen Lande aufs Haar genau die Hälfte der Stimmen plus eine Stimme erhalten würde. Derartige Garantien hat die Geschichte niemals, in keiner einzigen Revolution geboten, und kann sie auch absolut nicht bieten. Eine solche Forderung aufstellen, heißt seine Zuhörer zum Besten halten und ist nur die Bemäntelung der eigenen Flucht vor der Wirklichkeit.

Denn die Wirklichkeit zeigt uns anschaulich, dass gerade nach den Junitagen die Mehrheit des Volkes rasch auf die Seite der Bolschewiki überzugehen begonnen hat. Das haben sowohl, noch vor der Kornilow-Affäre, die Wahlen vom 20. August in Petrograd bewiesen, wo der Prozentsatz der bolschewistischen Stimmen in der Stadt, ohne die Vorstädte, von 20 Prozent auf 33 Prozent stieg, als auch die Bezirksdumawahlen in Moskau im September, wo der Prozentsatz der bolschewistischen Stimmen von 11 Prozent auf 491/3 Prozent stieg (ein Moskauer Genosse, den ich in diesen Tagen gesprochen habe, nannte mir als genaue Ziffer 51 Prozent). Dasselbe haben die Neuwahlen zu den Räten bewiesen. Dasselbe hat die Tatsache bewiesen, dass die Mehrzahl der Bauernräte, entgegen ihrem „Awksentjewschen" Zentralrat, sich gegen die Koalition ausgesprochen hat. Gegen die Koalition sein, heißt in Wirklichkeit den Bolschewiki folgen. Ferner zeigen die Nachrichten von der Front immer häufiger und eindeutiger, dass die Masse der Soldaten, ungeachtet der böswilligen Verleumdungen und Angriffe der sozialrevolutionären und menschewistischen Führer, der Offiziere, Deputierten usw. usw., sich immer entschlossener zu den Bolschewiki schlägt.

Die wichtigste Tatsache des gegenwärtigen Augenblicks in Russland ist schließlich der Bauernaufstand. Da haben wir einen objektiven, nicht in Worten, sondern durch Taten offenbarten Übergang des Volkes auf die Seite der Bolschewiki. Denn wie sehr auch die bürgerliche Presse und ihre kläglichen Nachbeter aus den Reihen der „schwankenden" „Nowaja Schisn"-Leute und Konsorten mit ihrem Geschrei über Pogrom und über Anarchie lügen mögen, die Tatsachen lassen sich nicht aus der Welt schaffen. Die Bauernbewegung im Gouvernement Tambow war sowohl im physischen als auch im politischen Sinne ein Aufstand, der solche glänzenden politischen Resultate gezeitigt hat, wie vor allem die Einwilligung, den Bauern den Boden zu übergeben. Nicht umsonst schreit jetzt das ganze sozialrevolutionäre Geschmeiß mit Einschluss des „Djelo Naroda", durch den Aufstand eingeschüchtert, von der Notwendigkeit, das Land den Bauern zu übergeben! Das ist die durch die Praxis erwiesene Richtigkeit des Bolschewismus und sein Erfolg. Es hat sich als unmöglich erwiesen die Bonapartisten und ihre Lakaien im Parlament anders zu „belehren" als durch einen Aufstand.

Das ist eine Tatsache. Tatsachen sind hartnäckige Dinge. Und ein solches tatsächliches „Argument" für den Aufstand wiegt tausend „pessimistische" Ausflüchte eines kopflosen und erschreckten Politikers auf.

Wäre der Bauernaufstand nicht ein Ereignis von gesamt-nationaler politischer Bedeutung, so würden die sozialrevolutionären Lakaien aus dem Vorparlament nicht von der Notwendigkeit der Übergabe des Bodens an die Bauern schreien.

Ein anderes ausgezeichnetes politisches und revolutionäres Resultat des Bauernaufstandes, das bereits im „Rabotschij Putj" vermerkt wurde, ist die Getreidezufuhr nach den Eisenbahnstationen des Gouvernements Tambow.2 Da habt ihr noch ein „Argument" ihr Herren, die ihr den Kopf verloren habt, ein Argument für den Aufstand, als das einzige Mittel, das Land vor dem bereits an die Türe pochenden Hunger und vor einer Krise von unerhörtem Ausmaß zu retten. Während die sozialrevolutionären und menschewistischen Volksverräter keifen, drohen, Resolutionen abfassen und die hungernden Massen auf die Einberufung der Konstituierenden Versammlung vertrösten, wird das Volk auf bolschewistische Art an die Lösung der Getreidefrage durch den Aufstand gegen die Gutsbesitzer, Kapitalisten und Aufkäufer herangehen.

Und die ausgezeichneten Früchte einer solchen (einzig realen) Lösung der Brotfrage musste auch die bürgerliche Presse anerkennen, sogar „Russkaja Wolja", die die Meldung brachte, dass die Eisenbahnstationen des Tambowschen Gouvernements von Getreidevorräten strotzen…, nachdem die Bauern sich erhoben haben!!

Nein, jetzt daran zweifeln, dass die Mehrheit des Volkes den Bolschewiki folgt und folgen wird, heißt schmählich schwanken und in der Praxis alle Prinzipien der proletarischen Revolution über Bord werfen, sich vom Bolschewismus ganz lossagen.

„… Wir sind nicht stark genug, um die Macht zu ergreifen, und die Bourgeoisie ist nicht stark genug, um die Konstituierende Versammlung zu sprengen …"

Der erste Teil dieses Arguments ist eine bloße Variante des vorhergehenden. Es gewinnt auch dann nicht an Überzeugungskraft, wenn die eigene Kopflosigkeit und Angst vor der Bourgeoisie ihren Ausdruck findet im Pessimismus in Bezug auf die Arbeiter und im Optimismus in Bezug auf die Bourgeoisie. Wenn die Junker und Kosaken sagen, sie würden bis zum letzten Blutstropfen gegen die Bolschewiki kämpfen, so verdiene das vollen Glauben; wenn aber die Arbeiter und Soldaten in Hunderten von Versammlungen ihr absolutes Vertrauen zu den Bolschewiki zum Ausdruck bringen und ihre Bereitwilligkeit erklären, Blut und Leben für den Übergang der Macht an die Räte einzusetzen, – so hält man es für „angebracht", daran zu erinnern, dass es eine Sache sei, für etwas zu stimmen, eine andere Sache aber, sich dafür zu schlagen!

Natürlich, wenn man so argumentiert, ist der Aufstand „widerlegt". Es fragt sich nur, wodurch unterscheidet sich dieser eigentümlich gerichtete, eigentümlich angewandte „Pessimismus" von einem politischen Überlaufen auf die Seite der Bourgeoisie?

Man betrachte die Tatsachen, man denke an die von unseren Pessimisten „vergessenen", tausendfach wiederholten Erklärungen der Bolschewiki. Wir haben tausendmal gesagt, dass die Räte der Arbeiter- und Soldatendeputierten eine Macht darstellen, dass sie die Avantgarde der Revolution sind, dass sie die Macht ergreifen können. Wir haben den Menschewiki und Sozialrevolutionären tausendmal vorgeworfen, dass sie über die „bevollmächtigten Organe der Demokratie" Phrasen dreschen, gleichzeitig aber Angst haben, die Macht in die Hände der Räte zu legen.

Und was hat der Kornilow-Putsch bewiesen? Er hat bewiesen, dass die Räte tatsächlich eine Macht sind.

Und nachdem dies durch die Erfahrung und durch Tatsachen bewiesen worden ist, wollen wir den Bolschewismus aufgeben, wollen wir uns von uns selbst lossagen und erklären: Wir sind nicht stark genug (obwohl wir die Räte der beiden Hauptstädte und die Mehrzahl der Räte in der Provinz auf der Seite der Bolschewiki haben)!!! Nun, sind das nicht schmähliche Schwankungen? Eigentlich werfen ja unsere „Pessimisten" die Losung „Alle Macht den Räten" über Bord, sie fürchten nur, dies einzugestehen.

Wie kann man beweisen, dass die Bourgeoisie nicht stark genug ist, um die Konstituierende Versammlung zu sprengen?

Wenn die Räte nicht die Kraft haben, die Bourgeoisie zu stürzen, so heißt das, dass die Bourgeoisie stark genug ist, die Konstituierende Versammlung zu sprengen, denn dann kann dies ja niemand verhindern. Den Versprechungen Kerenskis und Konsorten vertrauen, an die Resolutionen des Lakaien-Vorparlaments glauben, – ist dies eines Mitgliedes der proletarischen Partei und eines Revolutionärs würdig?

Die Bourgeoisie hat nicht nur die Macht, die Konstituierende Versammlung zu sprengen, wenn die jetzige Regierung nicht gestürzt wird, sondern sie kann dieses Resultat auch indirekt erreichen, indem sie Petrograd den Deutschen preisgibt, die Front öffnet, die Aussperrungen vermehrt und die Getreidezufuhr sabotiert. Es ist durch Tatsachen bewiesen, dass die Bourgeoisie all das zum Teil bereits getan hat. Sie ist also imstande, es auch ganz zu tun, wenn die Arbeiter und Soldaten sie nicht stürzen.

„… Die Räte sollen die Pistole sein, der Regierung auf die Brust gesetzt mit der Forderung, die Konstituierende Versammlung einzuberufen und auf Kornilowsche Anschläge zu verzichten…"

So weit hat es einer der beiden traurigen Pessimisten in seinen Reden gebracht!

Man musste so weit kommen, denn der Verzicht auf den Aufstand ist der Verzicht auf die Losung „Alle Macht den Räten".

Gewiss, Losungen sind „kein Heiligtum", das ist unbestritten. Aber warum hat niemand die Frage der Änderung dieser Losung aufgeworfen (wie ich es nach den Julitagen getan habe)? Warum fürchtet man sich, es offen zu sagen, obwohl seit September in der Partei die Frage des Aufstandes diskutiert wird, der von nun an zur Verwirklichung der Losung „Alle Macht den Räten" unvermeidlich ist?

Unsere traurigen Pessimisten werden sich da nie und nimmer herausreden können. Der Verzicht auf den Aufstand ist der Verzicht auf die Übergabe der Macht an die Räte, und die „Übergabe" aller Hoffnungen und aller Zuversicht an die gütige Bourgeoisie, die „versprochen" habe, die Konstituante einzuberufen.

Ist es denn schwer, zu begreifen, dass die Konstituierende Versammlung gesichert und ihr Erfolg garantiert ist, wenn die Macht in den Händen der Räte liegt? Das haben die Bolschewiki tausendmal gesagt. Niemand hat je den Versuch gemacht, das zu widerlegen. Einen solchen „kombinierten Typus" ließen alle gelten. Aber mit dem Wörtchen „kombinierter Typus" jetzt den Verzicht auf die Übergabe der Macht an die Räte einschmuggeln, heimlich einschmuggeln, weil man Angst hat, offen auf unsere Losung zu verzichten, – was ist das? Kann man zur Charakterisierung dieses Verhaltens einen parlamentarischen Ausdruck finden?

Man hat unseren Pessimisten treffend geantwortet: Eine Pistole ohne Kugel? Wenn ja, so bedeutet das ein ausgesprochenes Überlaufen zu den Liber-Dan, die tausendmal die Räte für eine „Pistole" erklärt und tausendmal das Volk geprellt haben, denn die Räte erwiesen sich unter ihrer Herrschaft als Null.

Ist es aber eine Pistole „mit Kugel", so ist das eben die technische Vorbereitung des Aufstands, denn die Kugel muss herbeigeschafft, die Pistole geladen werden, auch wäre eine Kugel allein ein bisschen wenig.

Entweder Übertritt zu den Liber-Dan und offener Verzicht auf die Losung „Alle Macht den Räten" oder Aufstand. Einen Mittelweg gibt es nicht.

„ … Die Bourgeoisie kann Petrograd den Deutschen nicht preisgeben, obwohl Rodsjanko das will, weil ja nicht die Bourgeois kämpfen, sondern unsere heldenmütigen Matrosen …"

Dieses Argument läuft wiederum auf denselben „Optimismus" gegenüber der Bourgeoisie hinaus, den jene Genossen unvermeidlich auf Schritt und Tritt bekunden, die die revolutionären Kräfte und Fähigkeiten des Proletariats so pessimistisch einschätzen.

Es kämpfen zwar die heldenmütigen Matrosen, das hat aber zwei Admirale nicht daran gehindert, vor der Einnahme der Insel Ösel zu verschwinden!!

Das ist eine Tatsache. Tatsachen sind hartnäckige Dinge. Die Tatsachen beweisen, dass die Admirale sich nicht schlechter auf den Verrat verstehen als Kornilow selbst. Dass aber der Generalstab nicht reformiert ist, dass das Offizierskorps kornilowistisch ist, das ist eine feststehende Tatsache.

Wenn die Kornilowisten (und Kerenski an der Spitze, denn er ist auch ein Kornilowist) Petrograd preisgeben wollen, so können sie es auf zweifache, ja sogar dreifache Art tun.

Erstens können sie durch Verrat des Kornilowschen Oberkommandos die Nordfront von der Landseite her öffnen.

Zweitens können sie „Abmachungen" über die Aktionsfreiheit der ganzen deutschen Flotte treffen, die stärker ist als wir, sie können Abmachungen treffen sowohl mit den deutschen wie mit den englischen Imperialisten. Außerdem konnten die „geflüchteten Admirale" auch die Pläne an die Deutschen verraten.

Drittens können sie durch Aussperrungen und Sabotage der Brotbelieferung unsere Armee zur völligen Verzweiflung und Ohnmacht treiben.

Keiner dieser drei Wege lässt sich leugnen. Die Tatsachen haben bewiesen, dass die bürgerlich-kosakische Partei Russlands an alle diese drei Türen bereits gepocht und versucht hat, sie zu öffnen.

Folglich? Folglich dürfen wir nicht warten, bis die Bourgeoisie die Revolution erdrosselt.

Dass die Rodsjankoschen „Wünsche" keine Luftgebilde sind, hat die Erfahrung bewiesen. Rodsjanko ist ein Mann der Tat. Hinter Rodsjanko steht das Kapital. Das ist nicht zu bestreiten. Das Kapital ist eine ungeheure Macht, solange das Proletariat nicht am Ruder ist. Die Politik des Kapitals hat Rodsjanko nach bestem Wissen und Gewissen jahrzehntelang durchgeführt.

Folglich? Folglich heißt es in die zur Hälfte Liber-Dansche, sozialrevolutionär-menschewistische feige Vertrauensseligkeit zur Bourgeoisie, zur Hälfte „bäuerlich-unaufgeklärte" Vertrauensseligkeit verfallen, gegen die die Bolschewiki in erster Linie kämpften, wenn man in der Frage des Aufstandes, des einzigen Mittels, die Revolution zu retten, schwankt.

Entweder die Hände untätig in den Schoß legen und abwarten, im „Glauben" an die Konstituierende Versammlung, bis Rodsjanko und Konsorten Petrograd ausliefern und die Revolution erdrosseln, oder – der Aufstand! Einen Mittelweg gibt es nicht.

Selbst die Einberufung der Konstituierenden Versammlung ändert für sich allein hier nichts, denn durch keinerlei „Konstituante", durch keinerlei Abstimmung selbst der allersouveränsten Versammlung lässt sich die Hungersnot bannen, lässt sich Wilhelm ins Bockshorn jagen. Sowohl die Einberufung der Konstituierenden Versammlung wie ihr Erfolg ist abhängig von dem Übergang der Macht an die Räte; diese alte bolschewistische Wahrheit wird immer anschaulicher und immer grausamer von der Wirklichkeit bestätigt.

„… Wir werden mal jedem Tag stärker, wir können als starke Opposition in die Konstituierende Versammlung gehen, wozu sollen wir alles aufs Spiel setzen …"

Das Argument eines Philisters, der „gelesen" hat, dass die Konstituierende Versammlung einberufen wird, und sich vertrauensvoll bei dem höchst legalen und loyalen konstitutionellen Weg beruhigt.

Schade nur, dass man weder die Frage der Hungersnot noch die Frage der Preisgabe Petrograds durch das Warten auf die Konstituierende Versammlung lösen kann. Diese „Kleinigkeit" vergessen die naiven oder verwirrten oder eingeschüchterten Leute.

Der Hunger wartet nicht. Der Bauernaufstand hat nicht gewartet. Der Krieg wartet nicht. Die Admirale, die sich aus dem Staube gemacht haben, haben nicht gewartet.

Oder wird, weil wir Bolschewiki unseren Glauben an die Einberufung der Konstituierenden Versammlung proklamieren, der Hunger warten wollen? Werden die geflüchteten Admirale warten wollen? Werden die Maklakow und Rodsjanko sich bereit finden, die Aussperrungen, die Sabotage der Brotzufuhr, die geheimen Abmachungen mit den englischen und deutschen Imperialisten aufzugeben?

Denn darauf läuft es ja bei den Helden der „konstitutionellen Illusionen" und des parlamentarischen Kretinismus hinaus. Das lebendige Leben verschwindet – es bleibt nur ein Fetzen Papier über die Einberufung der Konstituante, es bleiben nur die Wahlen übrig.

Und diese Blinden wundern sich noch, dass das hungernde Volk und die von den Generalen und Admiralen verratenen Soldaten den Wahlen gleichgültig gegenüberstehen? Oh, die neunmal Weisen!

„ … Ja, wenn die Kornilowisten wieder anfingen, dann würden wir es ihnen zeigen! Aber selbst anfangen, wozu das riskieren?…"

Das ist so außerordentlich überzeugend und außerordentlich revolutionär. Die Geschichte wiederholt sich nicht, aber wenn wir ihr den Rücken zukehren und in Betrachtung der ersten Kornilowiade wiederholen: „Ja, wenn die Kornilowisten anfingen"; wenn wir das täten, was wäre das für eine ausgezeichnete revolutionäre Strategie! Wie sieht sie dem „Wenn und Aber" ähnlich! Vielleicht werden die Kornilowisten wieder zur unrechten Zeit anfangen! … Nicht wahr, welch kräftiges „Argument"? Welch ernste Begründung einer proletarischen Politik?

Wenn nun aber die Kornilowisten zweiten Aufgebots etwas hinzugelernt haben? Wenn sie die Hungerkrawalle, den Durchbruch an der Front und die Preisgabe von Petrograd abwarten und bis dahin nicht anfangen? Was dann?

Man mutet uns zu, die Taktik der proletarischen Partei darauf zu bauen, dass die Kornilowisten möglicherweise einen ihrer früheren Fehler wiederholen werden.

Vergessen wir alles, was die Bolschewiki hundertmal aufgezeigt und bewiesen haben, was die halbjährige Geschichte unserer Revolution bewiesen hat, nämlich: dass es keinen andern Ausweg gibt, dass es ihn objektiv nicht gibt, nicht geben kann, als den der Diktatur der Kornilowisten oder den der Diktatur des Proletariats. Vergessen wir das, sagen wir uns von allem los, und warten wir! Worauf? Auf ein Wunder: nämlich dass der stürmische und katastrophale Gang der Ereignisse vom 20. April bis zum 29. August abgelöst wird (angesichts der Kriegsverlängerung, der gesteigerten Hungersnot) durch die friedliche, ruhige, glatte, legale Einberufung der Konstituierenden Versammlung und die Durchführung ihrer gesetzlichsten Beschlüsse. Das soll eine „marxistische" Taktik sein! Wartet, ihr Hungrigen, Kerenski hat versprochen, die Konstituierende Versammlung einzuberufen!

„… In der internationalen Lage gibt es eigentlich nichts, was uns verpflichten würde, unverzüglich in Aktion zu treten, wir würden eher der Sache der sozialistischen Revolution in Westeuropa schaden, wenn wir uns erschießen ließen …"

Dieses Argument ist wahrlich herrlich: Scheidemann „selbst", Renaudel „selbst" hätten nicht geschickter mit der Sympathie der Arbeiter für den Erfolg der internationalen sozialistischen Revolution „operieren" können!

Man bedenke nur: die Deutschen haben, unter verteufelt schwierigen Verhältnissen, mit nur einem Liebknecht (der dazu noch im Zuchthaus saß), ohne Presse, ohne Versammlungsfreiheit, ohne Räte, trotz der ungeheuren Feindseligkeit aller Bevölkerungsklassen bis zum letzten begüterten Bauer gegen die Idee des Internationalismus, trotz der ausgezeichneten Organisation der imperialistischen Groß-, Mittel- und Kleinbourgeoisie, – diese Deutschen, d. h. die deutschen revolutionären Internationalisten, die Arbeiter im Matrosenkittel, haben einen Aufstand in der Flotte begonnen – bei einer Chance von vielleicht 1 zu 100.

Wir aber, die wir Dutzende von Zeitungen, die wir Versammlungsfreiheit haben, über die Mehrheit in den Räten verfügen, wir, die bestgestellten proletarischen Internationalisten in der ganzen Welt, wir sollen darauf verzichten, die deutschen Revolutionäre durch unseren Aufstand zu unterstützen. Wir sollen argumentieren wie die Scheidemänner und die Renaudels: das Vernünftigste ist, nicht in Aktion zu treten, denn wenn wir niedergeknallt werden, so verliert die Welt in uns so prächtige, so vernünftige, so ideale Internationalisten!!

Beweisen wir, dass wir vernünftig sind. Nehmen wir eine Sympathieresolution für die deutschen Aufständischen an und lehnen wir den Aufstand in Russland ab. Das wird dann ein echter, vernünftiger Internationalismus sein. Und wie schnell wird der internationale Internationalismus in der ganzen Welt aufblühen, wenn überall eine so weise Politik obsiegen wird!…

Der Krieg hat die Arbeiter aller Länder bis aufs Blut gemartert. Die Empörungen mehren sich, in Italien, in Deutschland, in Österreich. Wir allein, die wir Arbeiter- und Soldatendeputierte haben, sollen abwarten, sollen die deutschen Internationalisten ebenso verraten wie die russischen Bauern, die uns nicht mit Worten, sondern mit Taten, mit ihrem Aufstand gegen die Gutsbesitzer, zum Aufstand gegen die Kerenski-Regierung auffordern …

Mag die Wolke der imperialistischen Verschwörung der Kapitalisten aller Länder, die die russische Revolution erdrosseln wollen, sich verdichten, lasst uns ruhig abwarten, bis uns der Rubel erdrosselt! Anstatt die Verschwörer anzugreifen und ihre Reihen durch den Sieg der Arbeiter- und Soldatendeputiertenräte zu zerschlagen, sollen wir auf die Konstituierende Versammlung warten, wo alle internationalen Verschwörungen durch Abstimmung besiegt werden, wenn Kerenski und Rodsjanko ehrlich die Konstituante einberufen. Sind wir denn berechtigt, die Ehrlichkeit eines Kerenski und eines Rodsjanko anzuzweifeln?

Aber ,alle' sind gegen uns! Wir sind isoliert. Sowohl das Zentral-Exekutivkomitee wie die Menschewiki-Internationalisten und die ,Nowaja Schisn'-Leute und auch die linken Sozialrevolutionäre haben gegen uns Aufrufe erlassen und werden sie erlassen! …"

Ein schlagendes Argument. Bisher haben wir die Schwankenden wegen ihrer Schwankungen schonungslos gegeißelt. Dadurch haben wir die Sympathien des Volkes erworben. Dadurch haben wir die Räte erobert, ohne die der Aufstand nicht sicher, rasch, zuverlässig durchgeführt werden konnte. Nun wollen wir die eroberten Räte benutzen, um selbst in das Lager der Schwankenden überzugehen. Welch herrliche Laufbahn für den Bolschewismus!

Das ganze Wesen der Politik der Liber-Dan und Tschernow wie auch der „linken" Sozialrevolutionäre und Menschewiki besteht in Schwankungen. Als Gradmesser für die Linksschwenkung der Massen haben die linken Sozialrevolutionäre und Menschewiki-Internationalisten eine ungeheure politische Bedeutung. Zwei solche Tatsachen, wie der Abmarsch von zirka 40 Prozent der Menschewiki und Sozialrevolutionäre in das Lager der Linken einerseits und der Bauernaufstand anderseits, stehen unzweifelhaft und offensichtlich in Zusammenhang.

Aber gerade der Charakter dieses Zusammenhanges enthüllt die ganze abgrundtiefe Charakterlosigkeit der Leute, denen es jetzt einfällt, zu jammern, weil das bei lebendigem Leibe verfaulte Zentral-Exekutivkomitee oder die schwankenden linken Sozialrevolutionäre und Konsorten gegen uns aufgetreten sind. Denn diesen Schwankungen der kleinbürgerlichen Führer, der Martow, Kamkow, Suchanow und Konsorten, ist der Aufstand der Bauern gegenüberzustellen. Das ist eine reale politische Gegenüberstellung. Mit wem soll man zusammengehen? Mit dem schwankenden Häuflein Petrograder Führer, die indirekt die Linksschwenkung der Massen zum Ausdruck bringen und die bei jeder politischen Wendung schmählich lamentierten, schwankten, bei den Liber-Dan und Awksentjew und Konsorten Abbitte leisteten – oder mit diesen linksorientierten Massen selbst?

So, nur so steht die Frage.

Da die Martow, Kamkow und Suchanow den Bauernaufstand verraten haben, schlägt man auch uns, der Arbeiterpartei der revolutionären Internationalisten, vor, den Aufstand zu verraten. Denn nur darauf läuft die Politik des Schielens nach den linken Sozialrevolutionären und Menschewiki-Internationalisten hinaus.

Wir aber sagen: um den Schwankenden zu helfen, muss man selbst aufhören, zu schwanken. Diese „lieben" linken kleinbürgerlichen Demokraten schwankten auch zur Koalition hin! Wir rissen sie letzten Endes dadurch mit, dass wir selbst nicht schwankten. Das Leben hat uns recht gegeben.

Durch ihre Schwankungen haben diese Herren stets der Revolution geschadet. Nur wir stellten uns schützend vor sie. Und jetzt sollen wir versagen, wo der Hunger an die Tore Petrograds pocht und Rodsjanko und Konsorten daran sind, es preiszugeben?!

„ … Aber wir haben nicht einmal feste Verbindungen mit den Eisenbahnern und den Postbeamten. Ihre offiziellen Vertreter sind die Plansons. Kann man denn ohne die Post und die Eisenbahnen siegen?"

Ja, ja, die Plansons hier, die Liber-Dan dort. Welches Vertrauen brachten ihnen die Massen entgegen? Waren nicht wir es, die stets behaupteten, dass diese Führer die Massen verraten? Haben sich denn die Massen nicht von diesen Führern abgewendet und sowohl bei den Wahlen in Moskau wie bei den Rätewahlen uns zugewendet? Oder hungert die Masse der Eisenbahner und Postler nicht? Streikt sie nicht gegen die Regierung Kerenski und Konsorten?

Und hatten wir vor dem 28. Februar Beziehungen zu diesen Verbänden? – fragte ein Genosse einen „Pessimisten". Dieser antwortete mit dem Hinweis darauf, dass die beiden Revolutionen nicht miteinander zu vergleichen seien. Aber dieser Hinweis stärkt nur die Position des Fragestellers.3 Denn gerade die Bolschewiki waren es, die tausendmal von der langen Vorbereitung der proletarischen Revolution gegen die Bourgeoisie redeten (und sie taten das nicht, um es am Vorabend des entscheidenden Moments zu vergessen). Gerade die Trennung der proletarischen Elemente der Massen von den kleinbürgerlichen und bürgerlichen Spitzen ist für das politische und wirtschaftliche Leben des Eisenbahnerverbandes und des Verbandes der Post-und Telegrafenangestellten bezeichnend. Es handelt sich gar nicht darum, unbedingt rechtzeitig „Verbindungen" zu diesem oder jenem Verband anzuknüpfen, es handelt sich darum, dass nur der Sieg des Aufstandes des Proletariats und der Bauern die Massen in dem Heer der Eisenbahner und Post- und Telegrafenangestellten befriedigen kann.

„ … Petrograd hat Brot für zwei bis drei Tage. Werden wir den Aufständischen Brot geben können?"

Eine der tausend skeptischen Bemerkungen (die Skeptiker können immer „zweifeln", und ihre Zweifel können nur durch die Erfahrung widerlegt werden), eins jener Argumente, die die eigene Schuld dem andern in die Schuhe schieben.

Gerade die Rodsjanko und Konsorten, gerade die Bourgeoisie bereitet den Hunger vor und spekuliert darauf, die Revolution durch den Hunger zu ersticken. Es gibt keine andere Rettung, und es kann keine andere Rettung vor dem Hunger geben als den Aufstand der Bauern gegen die Gutsbesitzer auf dem Lande und den Sieg der Arbeiter über die Kapitalisten in den Städten. Sonst wird es weder möglich sein, das Getreide der Reichen trotz ihrer Sabotage zu erfassen und herbeizuschaffen, noch den Widerstand der bestochenen Angestellten und der sich bereichernden Kapitalisten zu brechen oder eine strenge Rechnungslegung durchzuführen. Gerade die Geschichte der Lebensmittelämter und der Verpflegungsorgane der „Demokratie" hat das bewiesen, die Millionen Mal über die Sabotage der Kapitalisten klagte, lamentierte und flehte.

Keine Macht in der Welt außer der Macht der siegreichen proletarischen Revolution bringt es fertig, von den Klagen, Tränen und Bitten zur revolutionären Tat überzugehen. Und je weiter die proletarische Revolution hinausgeschoben wird, je mehr die Ereignisse oder Schwankungen der schwankenden und kopflos gewordenen Elemente sie verzögern, um so mehr Opfer wird sie kosten, und um so schwieriger wird es werden, die Zufuhr und Verteilung des Getreides in Gang zu bringen.

Der Aufschub des Aufstandes ist tödlich – das muss denjenigen gesagt werden, die den traurigen „Mut" haben, die wachsende Zerrüttung und den nahenden Hunger mitanzusehen und den Arbeitern vom Aufstand abzuraten (d. h. ihnen zu raten, abzuwarten, sich nach wie vor auf die Bourgeoisie zu verlassen).

„… Die Lage an der Front ist auch noch nicht gefährlich. Selbst wenn die Soldaten von sich aus einen Waffenstillstand schließen, so ist das noch nicht schlimm …"

Aber die Soldaten werden keinen Waffenstillstand schließen. Dazu bedarf es einer Staatsgewalt, die man ohne den Aufstand nicht erlangen kann. Die Soldaten werden einfach davonlaufen. Davon sprechen die Berichte von der Front. Man kann nicht weiter warten, ohne Gefahr zu laufen, die Abmachungen Rodsjankos mit Wilhelm und den völligen Ruin und die Massenflucht der Soldaten zu fördern, wenn sie (die ja schon der Verzweiflung nahe sind) ganz verzweifeln und alles seinem Schicksal überlassen.

„… Wenn wir aber die Macht ergreifen und weder einen Waffenstillstand noch einen demokratischen Frieden erlangen, so kann es passieren, dass die Soldaten den revolutionären Krieg nicht mitmachen wollen. Was dann?…"

Ein Argument, das den Spruch in Erinnerung bringt: Ein Narr kann zehnmal mehr Fragen stellen, als zehn Weise beantworten können.

Wir haben niemals die Schwierigkeiten der Regierung im imperialistischen Kriege geleugnet, doch haben wir dessen ungeachtet stets die Diktatur des Proletariats und der ärmsten Bauern propagiert. Sollen wir jetzt, wo der Moment der Aktion gekommen ist, auf sie verzichten??

Wir haben stets gesagt, dass die Diktatur des Proletariats in einem Lande auch gewaltige Veränderungen in der internationalen Lage und der Wirtschaft dieses Landes sowie in der Lage und Stimmung der Armee erzeugt – und wir sollen jetzt all das „vergessen" und uns durch die „Schwierigkeiten" der Revolution einschüchtern lassen??

„… Nach allen Berichten fehlt in den Massen die Stimmung, die auf die Straße treibt. Zu den Symptomen, die den Pessimismus rechtfertigen, gehört auch die außerordentliche Verbreitung der Pogrom- und Schwarzhunderter-Presse …"

Wenn man sich von der Bourgeoisie einschüchtern lässt, dann ist es natürlich, dass alle Gegenstände und Erscheinungen eine gelbe Farbe annehmen. Erstens ersetzt man das marxistische Kriterium der Bewegung durch ein intellektuell-impressionistisches, an die Stelle der politischen Berücksichtigung der Entwicklung des Klassenkampfes und der inner- und außenpolitischen Ereignisse setzt man subjektive Eindrücke von Stimmungen. Dass die feste Linie der Partei, ihre unbeugsame Entschlossenheit ebenfalls ein Faktor der Stimmung, insbesondere in zugespitzten revolutionären Momenten ist, das vergisst man freilich „zu gelegener Zeit". Manchmal kommt es sehr „gelegen", zu vergessen, dass verantwortliche Führer durch ihre Schwankungen und ihre Neigung, das zu verbrennen, was sie noch gestern anbeteten, die unanständigsten Schwankungen auch in die Stimmungen gewisser Schichten der Masse hinein tragen.

Zweitens – und das ist im gegebenen Moment die Hauptsache –, wenn sie von der Stimmung der Massen sprechen, vergessen charakterlose Leute hinzuzufügen,

dass „alle" die Stimmung als gespannt und abwartend schildern;

dass „alle" darin übereinstimmen, dass auf den Ruf der Räte und zum Schutz der Räte die Arbeiter wie ein Mann in Aktion treten würden;

dass „alle" darin übereinstimmen, dass die Arbeiter sehr ungehalten sind wegen der Unentschlossenheit der Zentralen in der Frage des „letzten entscheidenden Gefechts", dessen Unvermeidlichkeit klar erkannt wird;

dass „alle" einstimmig die Stimmung der breitesten Massen als geradezu verzweifelt schildern und auf die Tatsache der gerade auf diesem Boden wachsenden Anarchie hinweisen;

dass „alle" ferner zugeben, dass unter den klassenbewussten Arbeitern eine ausgesprochene Unlust wahrzunehmen ist, bloß zu Demonstrationszwecken, bloß zu Teilkämpfen auf die Straße zu gehen, denn in der Luft liegt nicht das Herannahen eines Teilkampfes, sondern der großen Schlacht; die Aussichtslosigkeit einzelner Streiks, Demonstrationen und Aktionen ist ausprobiert und allen bewusst.

Und so weiter.

Betrachten wir diese Charakteristik der Stimmung der Massen vom Standpunkt der ganzen Entwicklung des politischen Kampfes und des Klassenkampfes sowie des ganzen Ganges der Ereignisse während des Halbjahres unserer Revolution, so sehen wir deutlich, wie die von der Bourgeoisie eingeschüchterten Leute die Sachlage entstellen. Die Dinge liegen nämlich anders als vor dem 20. und 21. April, dem 9. Juni und dem 3. Juli, denn damals lag eine spontane Erregung vor, die wir als Partei entweder nicht erfassten (20. April) oder hemmten und zur friedlichen Demonstration gestalteten (9. Juni und 3. Juli), denn damals wussten wir sehr gut, dass die Räte noch nicht uns gehörten, dass die Bauern noch an den Liber-Dan-Tschernowschen Weg und nicht an den bolschewistischen Weg (den Aufstand) glaubten, dass wir folglich die Mehrheit des Volkes nicht haben konnten, und dass folglich der Aufstand verfrüht war.

Damals war bei der Mehrheit der klassenbewussten Arbeiter die Frage nach dem letzten entscheidenden Kampf überhaupt noch nicht aufgetaucht; es gibt keine einzige Körperschaft, die diese Frage aufgeworfen hätte. Und in der unaufgeklärten sehr breiten Masse bestand weder die Spannung noch die Entschlossenheit der Verzweiflung, sondern eben nur eine spontane Erregung und die naive Hoffnung, durch eine einfache „Aktion", durch eine einfache Demonstration auf die Kerenski und die Bourgeoisie „einzuwirken".

Für den Aufstand braucht man nicht das, sondern die bewusste, feste und unbeugsame Entschlossenheit der klassenbewussten Elemente, sich bis zuletzt zu schlagen. Dies – einerseits. Anderseits bedarf es der gespannt-verzweifelten Stimmung der breiten Massen, die fühlen, dass durch halbe Maßnahmen nun nichts mehr zu retten ist, dass von „einwirken" nicht die Rede sein kann, dass die Hungrigen alles „kurz und klein schlagen würden, ja sogar rein anarchistisch", wenn die Bolschewiki es nicht verstehen, sie im entscheidenden Kampf zu führen.

Gerade dieses Zusammentreffen der durch die Erfahrung gelehrten Spannung bei den Klassenbewussten mit einer der Verzweiflung nahen Stimmung des Hasses gegen die Aussperrer und Kapitalisten bei den breitesten Massen hat die Entwicklung der Revolution in der Praxis sowohl bei den Arbeitern als auch bei den Bauern erzeugt.

Gerade auf diesem Boden wird auch der „Erfolg" der Lumpen aus der Schwarzhunderter-Presse verständlich, die sich bolschewistisch gebärden. Dass die Schwarzen Hunderte der nahenden Entscheidungsschlacht zwischen Bourgeoisie und Proletariat schadenfroh entgegensehen – ist nichts Neues. Das ist bisher ausnahmslos bei allen Revolutionen so gewesen, das ist absolut unvermeidlich. Lässt man sich durch diesen Umstand einschüchtern, so muss man nicht nur auf den Aufstand, sondern auch auf die proletarische Revolution überhaupt verzichten. Denn in der kapitalistischen Gesellschaft kann es keine Entwicklung dieser Revolution geben, die nicht von der Schadenfreude der Schwarzen Hunderte und ihrer Hoffnung begleitet wäre, dabei für sich etwas herauszuholen.

Die klassenbewussten Arbeiter wissen wohl, dass die Schwarzen Hunderte Hand in Hand mit der Bourgeoisie arbeiten und dass der entscheidende Sieg der Arbeiter (an den die Kleinbürger nicht glauben, den die Kapitalisten fürchten, den die Schwarzen Hunderte mitunter aus Schadenfreude herbeiwünschen, aus der Überzeugung heraus, dass die Bolschewiki die Macht nicht halten werden) die Schwarzen Hunderte zerschmettern wird und dass die Bolschewiki verstehen werden, die Macht mit fester Hand und zum größten Nutzen für die ganze vom Kriege gemarterte und gequälte Menschheit zu behaupten.

In der Tat, wer kann bei klarem Verstande daran zweifeln, dass die Rodsjanko und Suworin Hand in Hand arbeiten? Dass sie die Rollen untereinander verteilt haben?

Haben denn die Tatsachen nicht bewiesen, dass Kerenski auf Rodsjankos Bestellung arbeitet und dass die „Staatsdruckerei der russischen Republik" (wer lacht da!) auf Staatskosten die schwarzhundertlerischen Reden der Schwarzhunderter der „Reichsduma" druckt? Haben denn nicht sogar die vor „ihrem Mann" kriechenden Lakaien aus dem „Djelo Naroda" diese Tatsachen enthüllt? Hat denn die Erfahrung aller Wahlen nicht bewiesen, dass das „Nowoje Wremja", ein Reptilblatt, eine Zeitung, die von den „Interessen" der zaristischen Grundherren getragen wird, die Wahllisten der Kadetten vorbehaltlos unterstützt?4

Haben wir nicht gestern erst gelesen, dass das Handels- und Industriekapital (das parteilose natürlich, oh, selbstverständlich, das parteilose, denn die Wichljajew und Rakitnikow, die Gwosdjew und Nikitin koalieren sich nicht mit den Kadetten, Gott bewahre, sondern mit den parteilosen Handels- und Industriekreisen!) den Kadetten 300.000 Rubel ausgeworfen hat?

Betrachtet man die Dinge vom klassenmäßigen und nicht vom sentimentalen Standpunkt, so ist die ganze Schwarzhunderter-Presse eine Filiale der Firma „Rjabuschinski, Miljukow und Co.". Das Kapital kauft sich einerseits die Miljukow, Saslawski und Potressow usw. und anderseits die Schwarzen Hundert.

Es gibt kein Mittel, um dieser widerwärtigen Volksverseuchung mit dem Gift der billigen Schwarzhunderter-Pest den Garaus zu machen, außer dem Sieg des Proletariats.

Und kann man sich darüber wundern, dass die vom Hunger und dem langen Krieg gequälte und zermarterte Masse nach dem Gift der Schwarzen Hundert „greift"? Kann man sich eine kapitalistische Gesellschaft am Vorabend des Zusammenbruchs ohne die Verzweiflung der unterdrückten Massen vorstellen? Und kann die Verzweiflung der Massen, unter denen die Unwissenheit groß ist, anders zum Ausdruck kommen als im gesteigerten Absatz eines jeden Giftes?

Nein, aussichtslos ist die Stellung jener, die, indem sie von der Stimmung der Massen reden, ihre persönliche Charakterlosigkeit auf die Massen abwälzen wollen. Die Massen lassen sich einstweilen in solche einteilen, die bewusst abwarten, und solche, die unbewusst bereit sind, der Verzweiflung zu verfallen, doch die Massen der Unterdrückten und der Hungernden sind nicht charakterlos.

„ … Eine marxistische Partei kann anderseits die Frage des Aufstandes nicht auf eine Frage der militärischen Verschwörung reduzieren …"

Der Marxismus ist eine außerordentlich tiefe und vielseitige Lehre. Kein Wunder darum, dass Zitatenbruchstücke aus Marx – besonders wenn sie an unpassender Stelle angeführt werden – stets unter den „Argumenten" derjenigen anzutreffen sind, die mit dem Marxismus brechen. Eine militärische Verschwörung ist Blanquismus, wenn sie nicht von der Partei einer bestimmten Klasse organisiert wird, wenn ihre Urheber das politische Moment im Allgemeinen und das internationale im Besonderen nicht berücksichtigt haben, wenn dieser Partei die durch objektive Tatsachen bewiesene Sympathie der Volksmehrheit fehlt, wenn die Entwicklung der revolutionären Ereignisse nicht zur praktischen Widerlegung der kompromisslerischen Illusionen des Kleinbürgertums geführt hat, wenn die Mehrheit der als „bevollmächtigt" anerkannten oder sonstwie entstandenen Organe des revolutionären Kampfes in der Art der „Räte" nicht erobert ist, wenn in der Armee (in Kriegszeiten) keine vollkommen ausgereifte Stimmung gegen die Regierung, die den ungerechten Krieg entgegen dem Willen des Volkes in die Länge zieht, vorhanden ist, wenn die Losungen des Aufstandes (wie z. B.: „Alle Macht den Räten", „Das Land den Bauern", „Sofortiges Angebot eines demokratischen Friedens an alle kriegführenden Völker, unverzügliche Aufhebung aller Geheimverträge und Abschaffung der Geheimdiplomatie" usw.) nicht die allergrößte Popularität und Verbreitung gefunden haben, wenn die Vorhut der Arbeiterschaft nicht von der verzweifelten Lage der Massen überzeugt und der Unterstützung der Landbevölkerung sicher ist, einer Unterstützung, die sich durch ernsthafte Bauernunruhen oder Aufstände gegen die Gutsbesitzer und die diese schützende Regierung äußert, wenn die wirtschaftliche Lage des Landes die ernsthafte Hoffnung auf eine günstige Überwindung der Krise durch friedliche und parlamentarische Mittel bietet. Das genügt wohl?

In meiner Broschüre: „Werden die Bolschewiki die Staatsmacht behaupten?" (sie wird hoffentlich in diesen Tagen erscheinen) habe ich ein Zitat aus Marx angeführt, das sich wirklich auf die Frage des Aufstands bezieht und den Aufstand als „Kunst" bezeichnet.

Ich bin bereit, zu wetten, dass, wenn die Maulhelden, die jetzt in Russland gegen die militärische Verschwörung wettern, aufgefordert würden, den Unterschied darzutun zwischen der „Kunst" des bewaffneten Aufstands und der verwerflichen militärischen Verschwörung, sie entweder alles oben Gesagte wiederholen oder aber sich blamieren und das allgemeine Gelächter der Arbeiter hervorrufen würden. Versucht es doch einmal, verehrte Auch-Marxisten! Singt uns ein Lied gegen die „militärische Verschwörung"!

Nachwort

Vorstehende Zeilen waren bereits niedergeschrieben, als ich am Dienstag um 8 Uhr abends die Petrograder Morgenblätter mit dem Artikel des Herrn W. Basarow in der „Nowaja Schisn" erhielt. Herr W. Basarow behauptet, dass „in der Stadt ein handschriftliches Flugblatt zirkuliere, das sich im Namen zweier angesehener Bolschewiki gegen die Aktion erklärt".5

Wenn das wahr ist, so bitte ich die Genossen, in deren Hände dieser Brief frühestens Mittwoch mittags gelangen kann, ihn möglichst schnell drucken zu lassen.

Er war nicht für den Druck bestimmt, sondern nur zur brieflichen Auseinandersetzung mit Parteimitgliedern. Wenn aber die nicht zur Partei gehörenden und von der Partei wegen ihrer erbärmlichen Charakterlosigkeit tausendmal verspotteten Helden aus der „Nowaja Schisn" (die vorgestern für die Bolschewiki und gestern für die Menschewiki stimmten und auf dem weltberühmten Vereinigungskongress die beiden beinahe vereinigt hätten) – wenn solche Individuen von Mitgliedern unserer Partei, die gegen den Aufstand agitieren, ein Flugblatt erhalten, so darf man nicht schweigen. Man muss auch für den Aufstand agitieren. Mögen die Anonymen endgültig ans Tageslicht treten und die wohlverdiente Strafe für ihr schändliches Schwanken erleiden, und sei es auch nur in Form des Gelächters aller klassenbewussten Arbeiter. Ich habe bis zum Abgang dieses Schreibens nach Petrograd nur eine Stunde Zeit, und so möchte ich nur in zwei Worten eine „Methode" der traurigen Helden der kopflosen „Nowaja Schisn"-Clique festnageln. Herr W. Basarow versucht, gegen den Genossen Rjasanow zu polemisieren, der gesagt hat, und zwar tausendmal richtig gesagt hat, dass „den Aufstand alle die vorbereiten, die in den Massen eine Stimmung der Verzweiflung und der Indifferenz erzeugen".

Der traurige Held einer traurigen Sache „erwidert":

Haben denn Verzweiflung und Indifferenz gesiegt?"

Oh, die erbärmlichen Einfaltspinsel aus der „Nowaja Schisn"! Kennen sie solche Beispiele von Aufständen aus der Geschichte, wo die Massen der unterdrückten Klasse im verzweifelten Kampfe siegten, ohne durch lange Leiden und scharf zugespitzte Krisen jeder Art an den Rand der Verzweiflung getrieben worden zu sein? Wann waren denn diese Massen nicht erfasst von Indifferenz (Gleichgültigkeit) gegen die verschiedenen lakaienhaften Vorparlamente, gegen das leere Revolutionsspiel, gegen die Herabwürdigung der Räte von Organen der Macht und des Aufstandes zu leeren Schwatzbuden durch die Liber-Dan?

Oder haben vielleicht die verächtlichen Einfaltspinsel aus der „Nowaja Schisn" bei den Massen Gleichgültigkeit entdeckt… gegen die Brotfrage? gegen die Verlängerung des Krieges? gegen die Übergabe des Bodens an die Bauern?

1 Die „sehr wichtige bolschewistische Versammlung in Petrograd" war die Sitzung des ZK am 29. (16.) Oktober 1917, an der Lenin teilnahm. Der Hinweis auf einen Genossen, der Lenin über diese Versammlung informiert haben soll, und die Änderung des Datums der Versammlung sind wahrscheinlich aus konspirativen Gründen gemacht worden, da Lenin zu jener Zeit illegal lebte und seine Anwesenheit in Petrograd nicht bekannt geben wollte. Der Ausdruck das „Genossen-Pärchen" bezieht sich auf Sinowjew und Kamenew, die in der Sitzung gegen Lenin auftraten. Die Formulierungen der Einwände der Gegner des Aufstands, die Lenin in diesem Artikel untersucht, sind wahrscheinlich genaue, von Lenin in der ZK-Sitzung gemachte Niederschriften der Reden Sinowjews und Kamenews.

2 Im Leitartikel des „Rabotschij Putj" vom 25. (12.) Oktober 1917 unter dem Titel „Brot!" wurde mitgeteilt: „Niemand anderes als die bürgerliche Zeitung ,Russkaja Wolja' hat in diesen Tagen zugegeben, dass die Bauernbewegung im Koslowski-Kreis das unerwartete Ergebnis gezeitigt hat, dass alle Eisenbahnstationen im Kreis mit Getreide buchstäblich überladen waren. Die noch nicht geplünderten Gutsbesitzer beeilten sich, ihr Gut zu retten …"

3 Gemeint ist eine Rede von Sokolnikow. Im Protokoll der Sitzung des ZK der SDAPR vom 29. (16.) Oktober 1917 ist folgende Notiz über die Rede Sokolnikows enthalten: „Die Einwände Kamenews haben keine Überzeugungskraft. Er beschuldigt uns, wir hätten unsere Aktion an die große Glocke gehängt, d. h. er fordert gerade eine Verschwörung. Die größte Besonderheit und unsere Kraft liegt darin, dass wir die Aktion offen vorbereiten. Er erinnert an die Februar-Ereignisse, wo auch nichts vorbereitet war und die Revolution doch gesiegt hat. Ein günstigeres Wechselverhältnis der Kräfte kann es nicht geben …" Darauf antwortete Sinowjew: „Wie kann man diese Revolution mit der Februar-Revolution vergleichen. Ein solcher Vergleich ist doch unmöglich, denn damals war nichts auf der Seite der alten Macht, jetzt aber ist es ein Krieg der gesamten bürgerlichen Welt…"

4 Das „Nowoje Wremja", Nr. 14 787 vom 9. Juni (27. Mai) 1917 veröffentlichte während der Wahlen zur Petrograder Stadtduma einen „Aufruf der Redaktion" unter dem Titel: „Stimmt für die Liste der Partei der Volksfreiheit".

5 Lenin meint den Artikel W. Basarows „Das marxistische Verhalten zum Aufstand" („Nowaja Schisn", Nr. 155 vom 30. [17.] Oktober 1917).

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