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Wladimir I. Lenin 19170400 Briefe über die Taktik

Wladimir I. Lenin: Briefe über Taktik

[Geschrieben Mitte April 1917. Zum ersten Mal veröffentlicht als besondere Broschüre 1917 im Verlag „Priboj". Nach Sämtliche Werke, Band 20.1, Wien-Berlin 1928, S. 129-144]

Vorbemerkung

Am 4. April 1917 hielt ich einen Vortrag über das im Titel angegebene Thema, zuerst in einer Versammlung der Bolschewiki. Es waren Delegierte zur Allrussischen Konferenz der Räte der Arbeiter-und Soldatendeputierten, die abreisen mussten und mir deshalb keinen Aufschub geben konnten. Am Schluss der Versammlung schlug mir der Vorsitzende, Genosse Sinowjew, im Namen der gesamten Versammlung vor, meinen Vortrag sofort in einer gemeinsamen Versammlung bolschewistischer und menschewistischer Delegierter zu wiederholen, die die Frage der Wiedervereinigung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands zu besprechen wünschten.

So schwer es mir auch fiel, meinen Vortrag sofort zu wiederholen, so hielt ich mich doch nicht für berechtigt, abzulehnen, zumal dies der Wunsch meiner Gesinnungsgenossen sowohl wie der Menschewiki war, die mir, da sie abreisen mussten, wirklich keinen Aufschub geben konnten.

In diesem Vortrag verlas ich meine Thesen, die in Nr. 26 der „Prawda" vom 7. April 1917 veröffentlicht sind.

Sowohl die Thesen wie auch mein Vortrag riefen unter den Bolschewiki selbst und innerhalb der Redaktion der „Prawda" Meinungsverschiedenheiten hervor. Nach einer Reihe von Besprechungen kamen wir einstimmig zu dem Schluss, dass es am zweckmäßigsten wäre, diese Meinungsverschiedenheiten offen zu diskutieren, um auf diese Weise das Material vorzubereiten für die am 20. April 1917 in Petersburg zusammentretende Allrussische Konferenz unserer Partei (Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands, vereinigt durch das Zentralkomitee).

Diesem Beschluss entsprechend veröffentliche ich nun nachstehende Briefe, wobei ich nicht den Anspruch erhebe, die Frage allseitig untersucht zu haben, sondern nur die Grundlinien aufzuzeigen wünsche, die für die praktischen Aufgaben der Bewegung der Arbeiterklasse besonders wesentlich sind.

Erster Brief: Die Analyse der Lage

Der Marxismus verlangt von uns die genaueste, objektiv nachprüfbare Analyse des Wechselverhältnisses der Klassen und der konkreten Besonderheiten jedes geschichtlichen Augenblicks. Wir Bolschewiki waren stets bestrebt, dieser vom Standpunkt jeder wissenschaftlichen Begründung der Politik ganz unerlässlichen Forderung gerecht zu werden.

Unsere Lehre ist kein Dogma, sondern eine Anleitung zum Handeln" – das betonten ständig Marx und Engels. Sie spotteten mit vollem Recht über das Auswendiglernen und einfache Wiederholen von „Formeln", die bestenfalls geeignet sind, lediglich die allgemeinen Aufgaben vorzuzeichnen, die durch die konkrete ökonomische und politische Lage in jedem besonderen Abschnitt des geschichtlichen Prozesses zwangsläufig modifiziert werden.

Von welchen genau festgestellten objektiven Tatsachen muss die Partei des revolutionären Proletariats jetzt ausgehen, um die Aufgaben und Formen ihres Handelns zu bestimmen?

Sowohl in meinem ersten „Brief aus der Ferne" („Die erste Etappe der ersten Revolution"), veröffentlicht in der „Prawda" Nr. 14 u. 15 vom 21. u. 22. März 1917, als auch in meinen Thesen definiere ich „die Eigenart der gegenwärtigen Lage in Russland" als Periode des Übergangs von der ersten Etappe der Revolution zur zweiten. Und deshalb hielt ich für die Hauptlosung, für die „Tagesparole" in diesem Moment folgendes:

Arbeiter, ihr habt im Bürgerkrieg gegen den Zarismus Wunder an proletarischem Heldenmut vollbracht, ihr müsst Wunder vollbringen bei der Organisierung des Proletariats und des gesamten Volkes, um euern Sieg in der zweiten Etappe der Revolution vorzubereiten." („Prawda" Nr. 15.)

Worin besteht nun die erste Etappe?

Im Übergang der Staatsgewalt auf die Bourgeoisie.

Bis zur Februar-März-Revolution 1917 befand sich die Staatsgewalt in Russland in den Händen einer alten Klasse, und zwar der Klasse der feudalen adligen Großgrundbesitzer, mit Nikolaus Romanow an der Spitze.

Nach dieser Revolution befindet sich die Staatsgewalt in den Händen einer anderen, neuen Klasse, nämlich: der Bourgeoisie.

Der Übergang der Staatsgewalt aus den Händen der einen in die Hände einer anderen Klasse ist das erste wichtigste, grundlegende Merkmal der Revolution, sowohl im streng wissenschaftlichen als auch im praktisch-politischen Sinne dieses Begriffes.

Insofern ist die bürgerliche bzw. bürgerlich-demokratische Revolution in Russland beendet.

Hier erhebt sich jedoch lärmender Widerspruch, und zwar von Leuten, die sich gern „alte Bolschewiki" nennen: haben wir nicht bisher stets gesagt, dass die bürgerlich-demokratische Revolution nur durch eine „revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft" beendet wird? Ist denn die Agrarrevolution, auch eine bürgerlich-demokratische Revolution, beendet? Ist es im Gegenteil nicht eine Tatsache, dass sie noch nicht begonnen hat?

Ich antworte: die bolschewistischen Losungen und Ideen sind im Allgemeinen durch die Geschichte vollkommen bestätigt worden, konkret aber haben sich die Dinge anders gestaltet, als ich (oder sonst jemand) es erwarten konnte – origineller, eigenartiger, bunter.

Diese Tatsache nicht beachten, sie vergessen, hieße, es jenen „alten Bolschewiki" gleichtun, die schon mehr als einmal eine traurige Rolle in der Geschichte unserer Partei gespielt haben, indem sie gedankenlos die auswendig gelernte Formel wiederholen, anstatt die Eigenart der neuen, lebendigen Wirklichkeit zu analysieren.

Die „revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft" ist in der russischen Revolution schon Wirklichkeit geworden*, denn diese „Formel" sieht lediglich das gegenseitige Klassenverhältnis voraus, nicht aber die konkrete politische Institution, die dieses Verhältnis, dieses Zusammenwirken realisiert. Der „Rat der Arbeiter- und Soldatendeputierten" – da habt ihr die vom Leben bereits verwirklichte „revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft".

Diese Formel ist bereits überholt. Aus dem Reich der Formeln brachte das Leben sie in das Reich der Wirklichkeit, ließ sie zu Fleisch und Blut werden, konkretisierte sie und dadurch modifizierte es sie.

Auf der Tagesordnung steht bereits eine andere, eine neue Aufgabe: die Trennung der proletarischen (das Oboronzentum verwerfenden internationalistischen, „kommunistischen", für den Übergang zur Kommune eintretenden) Elemente innerhalb dieser Diktatur von den Kleineigentümer- oder kleinbürgerlichen Elementen (Tschcheïdse, Zeretelli, Steklow, die Sozialrevolutionäre und dergleichen revolutionäre Oboronzen, Gegner des Fortschreitens auf dem Wege zur Kommune, Anhänger der „Unterstützung" der Bourgeoisie und der bürgerlichen Regierung) .

Wer jetzt lediglich von „revolutionär-demokratischer Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft" spricht, der ist hinter dem Leben zurückgeblieben, der ist damit faktisch zum Kleinbürgertum übergegangen, der hat sich gegen den proletarischen Klassenkampf entschieden, der gehört in ein Archiv für „bolschewistische" vorrevolutionäre Raritäten (Archiv „alter Bolschewiki" könnte man es nennen).

Die revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft ist bereits verwirklicht, aber auf eine sehr originelle Weise, mit höchst wichtigen Modifikationen. Von ihnen werde ich in einem der weiteren Briefe besonders reden. Jetzt gilt es, sich die unbestreitbare Wahrheit zu eigen zu machen, dass der Marxist mit dem lebendigen Leben, mit den exakten Tatsachen der Wirklichkeit rechnen muss, und sich nicht an die Theorie von gestern klammern darf, die wie jede Theorie bestenfalls lediglich das Grundlegende, Allgemeine aufzeigt, die ganze Kompliziertheit des Lebens nur annähernd erfasst.

Grau, teurer Freund, ist alle Theorie und grün des Lebens goldener Baum."

Wer die Frage der „Vollendung" der bürgerlichen Revolution in der alten Weise stellt, der opfert den lebendigen Marxismus dem toten Buchstaben.

Nach der alten Weise ergab sich: nach der Herrschaft der Bourgeoisie kann und muss die Herrschaft des Proletariats und der Bauernschaft, ihre Diktatur folgen.

Im wirklichen Leben aber hat sich bereits etwas anderes ergeben: eine höchst originelle, neue, noch nie dagewesene Verflechtung des einen mit dem anderen. Es besteht – nebeneinander, zusammen, gleichzeitig – sowohl die Herrschaft der Bourgeoisie (die Regierung Lwow und Gutschkow) als auch die revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft, die die Macht freiwillig der Bourgeoisie abtritt, freiwillig zu ihrem Anhängsel wird.

Man darf nicht vergessen, dass faktisch in Petersburg die Macht in den Händen der Arbeiter und Soldaten liegt, gegen die die neue Regierung ein Gewaltregiment nicht ausübt und auch nicht ausüben kann. Denn es gibt weder eine Polizei noch ein vom Volk getrenntes Heer noch ein allmächtig über dem Volke stehendes Beamtentum. Das ist eine Tatsache. Und zwar ist das eine Tatsache, die charakteristisch ist für einen Staat vom Typus der Pariser Kommune. Diese Tatsache lässt sich nicht in alte Schemata zwängen. Man muss die Schemata dem Leben anzupassen wissen, anstatt die sinnlos gewordenen Worte über „Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft" überhaupt zu wiederholen.

Gehen wir an die Frage von einer anderen Seite heran, um sie schärfer herauszuarbeiten.

Der Marxist darf den festen Boden der Analyse der Wechselbeziehungen der Klassen nicht verlassen. Die Macht ist bei der Bourgeoisie. Und die Masse der Bauern – ist sie nicht auch eine Bourgeoisie, nur einer anderen Schicht, einer anderen Art, anderen Charakters? Woraus folgt denn, dass diese Schicht nicht zur Macht gelangen kann, indem sie die bürgerlich-demokratische Revolution „vollendet"? Warum ist das unmöglich?

So argumentieren oft alte Bolschewiki.

Ich antworte: möglich ist es durchaus. Aber der Marxist soll bei der Analyse der Lage nicht vom Möglichen ausgehen, sondern vom Wirklichen.

Die Wirklichkeit zeigt uns aber die Tatsache, dass freigewählte Arbeiter- und Soldatendeputierte frei der zweiten, der Nebenregierung angehören, sie frei ergänzen, entwickeln und ausbauen. Und ebenso frei treten sie die Macht an die Bourgeoisie ab, – eine Erscheinung, die die Theorie des Marxismus nicht im Geringsten „widerlegt", denn wir haben es stets gewusst und wiederholt darauf hingewiesen, dass die Bourgeoisie sich hält nicht nur mittels der Gewalt, sondern auch infolge der Unaufgeklärtheit der Massen, ihrer Unfähigkeit, von der Routine loszukommen, ihres mangelnden Selbstbewusstseins, ihrer Unorganisiertheit.

Angesichts dieser Wirklichkeit des heutigen Tages nun ist es geradezu lächerlich, sich von den Tatsachen abzuwenden und von „Möglichkeiten" zu reden.

Es ist möglich, dass die Bauernschaft den ganzen Grund und Boden und die ganze Macht an sich reißt. Ich übersehe diese Möglichkeit durchaus nicht, ich sehe keineswegs nur den heutigen Tag, vielmehr formuliere ich das Agrarprogramm mit aller Genauigkeit unter Berücksichtigung des Neuen, der sich vertiefenden Kluft zwischen den Landarbeitern und armen Bauern einerseits und den reichen Bauern anderseits.

Aber möglich ist auch etwas anderes: es ist möglich, dass die Bauern den Ratschlägen der kleinbürgerlichen Partei der Sozialrevolutionäre folgen, die dem Einfluss der Bourgeoisie unterlegen, zum Oboronzentum übergegangen sind, die die Konstituante abzuwarten empfehlen, obwohl bis zur Stunde nicht einmal ihr Einberufungstermin festgesetzt ist**!

Es ist möglich, dass die Bauern ihren Pakt mit der Bourgeoisie aufrechterhalten, an ihm festhalten, einen Pakt, den sie zur Zeit durch Vermittlung der Arbeiter- und Deputiertenräte nicht nur formell, sondern auch faktisch geschlossen haben.

Möglich ist Verschiedenes. Es wäre der gröbste Fehler, die Agrarbewegung und das Agrarprogramm außer acht zu lassen. Ein nicht minder grober Fehler aber wäre es, die Wirklichkeit zu vergessen, die uns die Tatsache der Verständigung zeigt – oder, um einen genaueren, weniger juristischen, mehr ökonomisch-klassenmäßigen Ausdruck zu gebrauchen – die Tatsache der Klassenzusammenarbeit der Bourgeoisie und der Bauernschaft.

Wenn diese Tatsache aufhören wird, eine Tatsache zu sein, wenn sich die Bauernschaft von der Bourgeoisie loslösen, sich des Grund und Bodens und der Macht im Kampfe gegen die Bourgeoisie bemächtigen wird, – dann beginnt eine neue Etappe der bürgerlich-demokratischen Revolution, und darüber wird besonders zu sprechen sein.

Ein Marxist, der im Hinblick auf die Möglichkeit einer solchen zukünftigen Etappe seine Pflichten heute, wo die Bauernschaft mit der Bourgeoisie paktiert, vergisst, würde sich in einen Kleinbürger verwandeln. Würde er doch dem Proletariat im Grunde Vertrauen zur Kleinbourgeoisie predigen („sie, diese Kleinbourgeoisie, diese Bauernschaft muss sich von der Bourgeoisie noch im Rahmen der bürgerlich-demokratischen Revolution trennen"). Er würde im Hinblick auf die „Möglichkeit" einer angenehmen und lieblichen Zukunft, wo die Bauernschaft nicht mehr im Schwanze der Bourgeoisie trotten wird, wo die Sozialrevolutionäre, die Tschcheïdse, Zeretelli, Steklow nicht mehr ein Anhängsel der bürgerlichen Regierung sein werden, vollständig die unangenehme Gegenwart vergessen, in der die Bauernschaft vorläufig noch im Schwanze der Bourgeoisie einher trottet, die Sozialrevolutionäre und Sozialdemokraten ihre Rolle eines Anhängsels der bürgerlichen Regierung Lwows, einer Opposition „seiner Majestät"1, noch nicht aufgegeben haben.

Ein solcher Mensch wäre ein süßlicher Louis Blanc, ein nicht minder süßlicher Kautskyaner, nicht aber ein revolutionärer Marxist.

Laufen wir aber nicht Gefahr, in Subjektivismus zu verfallen, in den Wunsch, „hinüber zu springen" über die unvollendete Revolution bürgerlich-demokratischen Charakters, die die Bauernbewegung noch nicht zum Abschluss gebracht hat, in die sozialistische Revolution.

Hätte ich gesagt: „keinen Zaren, her mit der Arbeiterregierung"2, so würde mir diese Gefahr drohen. Doch ich habe das nicht gesagt, ich habe etwas anderes gesagt. Ich habe gesagt, dass es eine andere Regierung in Russland (von der bürgerlichen abgesehen) außer den Räten der Arbeiter-, Landarbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten nicht geben kann. Ich habe gesagt, dass die Macht in Russland jetzt von Gutschkow und Lwow nur auf diese Räte übergehen kann. In diesen aber überwiegt gerade die Bauernschaft, überwiegen die Soldaten, überwiegt – um einen wissenschaftlichen, marxistischen Terminus zu gebrauchen und statt der gewöhnlichen Berufsbezeichnungen des Alltagslebens den Klassencharakter zu betonen – das Kleinbürgertum.

Ich habe mich in meinen Thesen absolut gesichert gegen jedes Überspringen der noch nicht überwundenen bäuerlichen oder überhaupt kleinbürgerlichen Bewegung, gegen jedes Spiel mit der „Machtergreifung" durch eine Arbeiterregierung, gegen jedes blanquistische Abenteuer, denn ich habe direkt auf die Erfahrung der Pariser Kommune hingewiesen. Diese Erfahrung aber hat, wie bekannt und wie Marx 1871 und Engels 1891 ausführlich nachgewiesen haben, gezeigt, dass für den Blanquismus kein Platz da war, dass die direkte, unmittelbare, unbedingte Herrschaft der Mehrheit und die Aktivität der Massen nur in dem Maße gesichert war, wie die Mehrheit selbst bewusst auftrat.

Ich habe in den Thesen mit vollster Eindeutigkeit alles zugespitzt auf den Kampf um den Einfluss innerhalb der Räte der Arbeiter-, Landarbeiter-, Bauern- und Soldatendeputierten. Um auch nicht den kleinsten Zweifel in dieser Beziehung zuzulassen, habe ich in den Thesen zweimal die Notwendigkeit der geduldigen, hartnäckigen, sich „den praktischen Bedürfnissen der Massen anpassenden" „Aufklärungsarbeit" betont.

Mögen Unwissende oder Renegaten des Marxismus vom Schlage des Herrn Plechanow und seinesgleichen über Anarchismus, Blanquismus und ähnliches mehr zetern. Wer denken und lernen will, der kann gar nicht übersehen, dass Blanquismus die Ergreifung der Macht durch eine Minderheit bedeutet, während es doch von den Räten der Arbeiterdeputierten feststeht, dass sie die direkte und unmittelbare Organisation der Mehrheit des Volkes sind. Die Arbeit, die auf den Kampf um den Einfluss innerhalb solcher Räte gerichtet ist, kann nicht, sie kann gar nicht in den Sumpf des Blanquismus führen. Sie kann auch nicht in den Sumpf des Anarchismus führen, denn der Anarchismus ist die Verneinung der Notwendigkeit des Staates und der Staatsgewalt für die Epoche des Überganges von der Herrschaft der Bourgeoisie zum Sozialismus. Ich aber trete mit einer Klarheit, die jede Möglichkeit eines Missverständnisses ausschließt, für die Notwendigkeit des Staates in dieser Epoche ein, allerdings – in Übereinstimmung mit Marx und den Erfahrungen der Pariser Kommune – nicht des üblichen parlamentarisch-bürgerlichen Staates, sondern eines Staates ohne stehendes Heer, ohne eine gegen das Volk gerichtete Polizei, ohne ein über das Volk gestelltes Beamtentum.

Wenn Herr Plechanow in seinem „Jedinstwo" aus Leibeskräften über Anarchismus schreit, so ist das nur ein weiterer Beweis für seinen Bruch mit dem Marxismus. Auf meine Aufforderung in der „Prawda" (Nr. 26), doch darzulegen, was Marx und Engels in den Jahren 1871, 1872, 1875 über den Staat gelehrt haben, bleibt Herrn Plechanow nichts anderes übrig – und es wird ihm auch in Zukunft nichts anderes übrigbleiben –, als über den Kern der Sache mit Schweigen hinwegzugehen und ganz wie die wutschnaubende Bourgeoisie mit Geschrei zu antworten.

Die Lehre des Marxismus vom Staat hat der ehemalige Marxist Herr Plechanow absolut nicht verstanden. Die Keime dieses Nichtverstehens sind unter anderem auch in seiner deutschen Broschüre über den Anarchismus3 wahrzunehmen.

Untersuchen wir nun, wie Genosse J. Kamenew in der Notiz in Nr. 27 der „Prawda" seine „Meinungsverschiedenheiten" mit meinen Thesen und den oben dargelegten Ansichten formuliert. Das wird sie uns klarer werden lassen.

Was das allgemeine Schema des Genossen Lenin anbelangt“ – schreibt Genosse Kamenew –, „so halten wir es für unannehmbar, insoweit es davon ausgeht, dass die bürgerlich-demokratische Revolution abgeschlossen sei, und insoweit es auf die sofortige Umwandlung dieser Revolution in eine sozialistische berechnet ist72…"

Hierin sind zwei große Fehler enthalten.

Der erste. Die Frage des „Abgeschlossenseins" der bürgerlich-demokratischen Revolution ist falsch gestellt. Man hat dieser Frage eine abstrakte, simple, einfarbige – wenn man sich so ausdrücken darf – Form gegeben, die der objektiven Wirklichkeit nicht entspricht. Wer die Frage so stellt, wer heute fragt: „ist die bürgerlich-demokratische Revolution abgeschlossen?" und sich darauf beschränkt, – der nimmt sich die Möglichkeit, die außerordentlich verwickelte, zumindest „zweifarbige" Wirklichkeit zu verstehen. Dies in der Theorie. Und in der Praxis kapituliert er hilflos vor dem kleinbürgerlichen Revolutionarismus.

In der Tat. Die Wirklichkeit zeigt uns sowohl den Übergang der Macht auf die Bourgeoisie („abgeschlossene" bürgerlich-demokratische Revolution des üblichen Typus) als auch neben der eigentlichen Regierung die Existenz einer Nebenregierung, die die „revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft" darstellt. Diese letztere „Auch-Regierung" hat selber die Macht an die Bourgeoisie abgetreten, hat selber sich an die bürgerliche Regierung gekettet.

Wird die altbolschewistische Formel des Genossen Kamenew „die bürgerlich-demokratische Revolution ist nicht abgeschlossen" dieser Wirklichkeit gerecht?

Nein, die Formel ist veraltet. Sie taugt zu nichts. Sie ist tot. Vergeblich werden die Bemühungen sein, sie zu neuem Leben zu erwecken.

Der zweite Fehler. Eine praktische Frage. Es steht noch dahin, ob in Russland jetzt noch eine besondere, von der bürgerlichen Regierung losgelöste „revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft" möglich ist. Die marxistische Taktik auf etwas zu basieren, das noch dahinsteht, ist unmöglich.

Sollte sich das aber noch ereignen können, so ist der Weg dazu einzig und allein der: sofortige, entschlossene, unwiderrufliche Loslösung der proletarischen, kommunistischen Elemente der Bewegung von den kleinbürgerlichen Elementen.

Warum?

Weil die gesamte Kleinbourgeoisie nicht zufällig, sondern zwangsläufig umgeschwenkt ist zum Chauvinismus (= Oboronzentum), zur „Unterstützung" der Bourgeoisie, zur Abhängigkeit von ihr, weil sie Angst davor hat, ohne sie auskommen zu müssen usw. und dgl.

Wie kann man die Kleinbourgeoisie zur Macht „drängen", wenn sie jetzt schon die Macht ergreifen kann, sie jedoch nicht ergreifen will?

Nur durch die Loslösung der proletarischen, kommunistischen Partei, durch den proletarischen Klassenkampf, der frei ist von der Furchtsamkeit dieser Kleinbürger. Nur der Zusammenschluss der Proletarier – die nicht in Worten, sondern in der Tat frei sind von dem Einfluss der Kleinbourgeoisie – ist imstande, den Boden unter den Füßen des Kleinbürgertums so „heiß" werden zu lassen, dass es unter gewissen Voraussetzungen die Macht wird ergreifen müssen ; es ist sogar nicht ausgeschlossen, dass Gutschkow und Miljukow – wiederum unter gewissen Umständen – für die uneingeschränkte Herrschaft, für die Alleinherrschaft Tschcheïdses, Zeretellis, der Sozialrevolutionäre, Steklows sein werden, denn diese sind doch immerhin „Vaterlandsverteidiger".

Wer jetzt sofort, unverzüglich und unwiderruflich die proletarischen Elemente der Räte (d. h. die proletarische, kommunistische Partei) von den kleinbürgerlichen Elementen loslöst, der vertritt die Interessen der Bewegung richtig für beide möglichen Fälle: sowohl für den Fall, dass Russland noch eine besondere, selbständige, der Bourgeoisie nicht untergeordnete „Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft" durchmacht, als auch für den Fall, dass die Kleinbourgeoisie sich von der Bourgeoisie nicht loszulösen vermag und ewig (d. h. bis zum Sozialismus) zwischen ihr und uns schwanken wird.

Wer sich in seiner Tätigkeit nur von der simplen Formel leiten lässt: „die bürgerlich-demokratische Revolution ist nicht abgeschlossen", der übernimmt damit eine Art Bürgschaft dafür, dass die Kleinbourgeoisie ganz bestimmt fähig ist, unabhängig von der Bourgeoisie zu sein. Der kapituliert damit im gegebenen Moment hilflos auf Gnade und Ungnade vor der Kleinbourgeoisie.

Im Übrigen würde es nichts schaden, wenn man sich bei der „Formel" Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft daran erinnerte, was ich in der Schrift „Zwei Taktiken" (Juli 1905) besonders hervorgehoben habe (Seite 435 des Sammelbuches „Zwölf Jahre"4):

Die revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft hat wie alles in der Welt eine Vergangenheit und eine Zukunft. Ihre Vergangenheit sind Absolutismus, Leibeigenschaft, Monarchie, Privilegien … Ihre Zukunft ist der Kampf gegen das Privateigentum, der Kampf des Lohnarbeiters gegen den Unternehmer, der Kampf um den Sozialismus…"

Der Fehler des Genossen Kamenew ist, dass er auch im Jahre 1917 nur die Vergangenheit der revolutionär-demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft sieht. In Wirklichkeit aber hat für diese Diktatur bereits die Zukunft begonnen, denn die Interessen und die Politik des Lohnarbeiters und die des Kleineigentümers haben sich in Wirklichkeit bereits voneinander getrennt, und zwar in einer so überaus wichtigen Frage, wie die der „Vaterlandsverteidigung", der Stellung zum imperialistischen Krieg.

Hier komme ich zum zweiten Fehler in der oben angeführten Argumentation des Genossen Kamenew. Er wirft mir vor, mein Schema sei „berechnet" auf die „sofortige Umwandlung dieser (der bürgerlich-demokratischen) Revolution in eine sozialistische".

Das ist nicht richtig. Ich „rechne" nicht nur nicht mit einer „sofortigen Umwandlung" unserer Revolution in eine sozialistische, sondern warne geradezu davor, erkläre ausdrücklich in These Nr. 8: … „Nicht ,Einführung' des Sozialismus als unsere unmittelbare Aufgabe …"

Ist es nicht klar, dass ein Mensch, der auf die sofortige Umwandlung unserer Revolution in eine sozialistische rechnet, sich nicht gegen die unmittelbare Aufgabe der Einführung des Sozialismus wenden könnte?

Mehr als das. Selbst ein „Kommunestaat" (d. h. ein nach dem Vorbild der Pariser Kommune organisierter Staat) lässt sich in Russland nicht „sofort" einführen, denn dazu ist erforderlich, dass die Mehrheit der Deputierten in allen (bzw. den meisten) Räten klar erkennt, wie verkehrt und wie schädlich die Taktik und die Politik der Sozialrevolutionäre, der Tschcheïdse, Zeretelli, Steklow usw. ist. Ich habe aber ganz eindeutig erklärt, dass ich hierbei nur auf eine „geduldige" (wozu braucht man Geduld, wenn man die Änderung „sofort" verwirklichen kann?) Aufklärungsarbeit „rechne"!

Genosse Kamenew hat sich in seiner „Ungeduld" hinreißen lassen und hat das bürgerliche Vorurteil hinsichtlich der Pariser Kommune wiederholt, dass sie „sofort" den Sozialismus habe einführen wollen. Dem ist nicht so. Leider hat die Kommune mit der Einführung des Sozialismus viel zu lange gezögert. Das wirkliche Wesen der Kommune liegt nicht da, wo es gewöhnlich die Bourgeois suchen, sondern in der Schaffung eines besonderen Staatstypus. Ein solcher Staat ist aber in Russland bereits entstanden, es sind eben die Räte der Arbeiter- und Soldatendeputierten!

Genosse Kamenew hat sich nicht in die Tatsache, in die Bedeutung der existierenden Räte hineingedacht, hat nicht gesehen, dass sie ihrem Typus, ihrem sozialen und politischen Charakter nach mit dem Kommunestaat identisch sind; anstatt die Tatsache zu untersuchen, redet er von Dingen, auf die ich angeblich als auf eine „sofortige" Zukunft „rechne". Dies läuft leider hinaus auf eine Wiederholung des Kniffs vieler Bourgeois: von der Frage, was sind die Räte der Arbeiter- und Soldatendeputierten, sind sie von einem höheren Typus als die parlamentarische Republik, sind sie für das Volk nützlicher, sind sie demokratischer, sind sie geeigneter für den Kampf z. B. gegen die Lebensmittelnot usw., – von dieser aktuellen, realen, vom Leben selbst auf die Tagesordnung gestellten Frage wird die Aufmerksamkeit abgelenkt auf die leere, angeblich wissenschaftliche, in Wirklichkeit inhaltslose, professorenhafte tote Frage des „Rechnens mit einer sofortigen Umwandlung".

Eine hohle, falsch gestellte Frage. Ich „rechne" nur damit, ausschließlich damit, dass die Arbeiter, Soldaten und Bauern besser als die Beamten, besser als die Polizisten mit den praktischen schwierigen Fragen der Steigerung der Getreideproduktion, der besseren Brotverteilung, der besseren Versorgung der Soldaten usw. usf. fertig werden.

Ich bin der festen Überzeugung, dass die Räte der Arbeiter- usw. Deputierten die Selbsttätigkeit der Masse des Volkes schneller und besser zur Entfaltung bringen werden als die parlamentarische Republik (Ausführlicheres über den Vergleich der beiden Staatstypen in einem andern Brief). Sie werden besser, praktischer, richtiger entscheiden, welche Schritte man zum Sozialismus tun kann und wie man sie tun kann. Die Kontrolle der Banken, die Verschmelzung aller Banken zu einer einzigen, das ist noch kein Sozialismus, aber ein Schritt zum Sozialismus. Solche Schritte tut heute der Junker und der Bourgeois in Deutschland gegen das Volk. Viel besser wird sie morgen für das Volk der Arbeiter- und Soldatendeputiertenrat tun können, wenn die ganze Staatsmacht in seinen Händen liegen wird.

Doch was erzwingt solche Schritte?

Der Hunger, die Zerrüttung der Wirtschaft, der drohende Zusammenbruch, die Schrecken des Krieges, die entsetzlichen Wunden, die der Krieg der Menschheit schlägt.

Genosse Kamenew schließt seine Notiz mit der Erklärung, er „hoffe, in einer breiten Diskussion seinen Standpunkt durchzusetzen, als den einzig möglichen für die revolutionäre Sozialdemokratie, insofern sie gewillt und verpflichtet ist, bis zu Ende die Partei der revolutionären Massen des Proletariats zu bleiben und sich nicht in eine Gruppe kommunistischer Propagandisten zu verwandeln".

Mir scheint, dass diese Worte eine grundfalsche Einschätzung der Lage verraten. Genosse Kamenew stellt die „Partei der Massen" einer „Gruppe von Propagandisten" entgegen. Aber die „Massen" sind ja gerade jetzt dem Taumel des „revolutionären" Oboronzentums erlegen. Ist es in einem solchen Augenblick nicht für Internationalisten geziemender, der „Massen"-Psychose zu widerstehen, als bei den Massen „bleiben zu wollen", d. h. mit dem Strom zu schwimmen? Haben wir nicht in allen kriegführenden europäischen Ländern gesehen, wie die Chauvinisten sich damit zu rechtfertigen suchen, dass es ihr Wunsch gewesen sei, „bei den Massen zu bleiben"? Ist es nicht unsere Pflicht, dem „Massen"taumel zu widerstehen, auch wenn wir eine gewisse Zeitlang in der Minderheit bleiben? Ist denn nicht gerade die Arbeit der Propagandisten im gegenwärtigen Augenblick der Angelpunkt, um die proletarische Linie frei zu machen von der kleinbürgerlichen Massenpsychose der Vaterlandsverteidigung? Gerade das Ineinanderfließen der Massen, der proletarischen wie der nichtproletarischen, ohne Rücksicht auf ihre Klassenunterschiede, war eine der Ursachen der Vaterlandsverteidigungspsychose. Es ist wirklich wenig angebracht, verächtlich von einer „Gruppe Propagandisten" der proletarischen Linie zu reden.

* In einer gewissen Form und bis zu einem gewissen Grade.

** Um Missdeutungen vorzubeugen, will ich von vornherein feststellen: ich bin unbedingt dafür, dass die Landarbeiter- und Bauernräte sofort den gesamten Grund und Boden in ihre Hände nehmen, dass sie aber hierbei selbst aufs strengste Ordnung und Disziplin wahren, dass sie nicht die geringste Beschädigung von Maschinen, Gebäuden und Vieh zulassen, dass sie unter keinen Umständen die Wirtschaft und die Getreideproduktion desorganisieren, sondern sie heben, denn die Soldaten brauchen das Doppelte an Brot, und auch das Volk soll nicht hungern.

1 „Opposition seiner Majestät" – damit ist die Kadettenpartei gemeint, deren Führer Miljukow in London anlässlich des Besuches einer Dumadelegation in England erklärte, seine Partei sei nicht eine Opposition gegen seine Majestät, sondern die „Opposition seiner Majestät".

2 Die Formel von Parvus im Jahre 1905 über die Organisation der revolutionären Macht.

3 Siehe Georg Plechanow, „Anarchismus und Sozialismus", Berlin 1894.

4 Unter dem Pseudonym Wl. Iljin ließ Lenin 1908 eine Sammlung seiner Aufsätze erscheinen; siehe: Wl. Iljin, „Zwölf Jahre. Gesammelte Aufsätze", Bd. I. „Zwei Richtungen im russischen Marxismus und in der russischen Sozialdemokratie", Petersburg 1908 (russisch).

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