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Wladimir I. Lenin 19170330 Die Machenschaften der republikanischen Chauvinisten

Wladimir I. Lenin: Die Machenschaften der republikanischen Chauvinisten1

[Zum ersten Mal veröffentlicht 1924 im „Lenin-Sammelbuch" Nr. 2. Nach Sämtliche Werke Band 20.1, Wien-Berlin 1928, S. 75-78]

30. (17.) März 1917

In der heutigen „Neuen Züricher Zeitung" vom 30. III., Nr. 750, in der ersten Morgenausgabe, lese ich folgendes:

Mailand, 29. März. Der Petersburger Korrespondent berichtet über die Verhaftung eines gewissen Tschernomasow, des Direktors des nach Ausbruch der Revolution erschienenen sozialistischen Blattes ,Prawda'. Tschernomasow habe unter dem alten Regime zu den Agenten der Geheimpolizei gehört und monatlich 200 Rubel bezogen. Das von ihm geleitete Blatt, das die sozialistische Republik befürwortet, habe die Provisorische Regierung heftig angegriffen, mit dem durchsichtigen Zweck, der Reaktion zu nützen. Überhaupt erwecke die gegen die Regierung gerichtete Agitation unverantwortlicher Kreise den Verdacht der Komplizenschaft mit dem alten Regime und dem Feinde. Sogar das Arbeiter- und Soldatenkomitee, das doch im Vergleiche zur Provisorischen Regierung ausgesprochen radikale Tendenzen vertrete, habe sich von diesen Kreisen abgewandt."

Diese Meldung ist die Wiedergabe eines Telegrammes aus der chauvinistischen italienischen Zeitung „Corriere della Sera", Mailand, 29. III., das dieser Zeitung aus Petersburg am 26. III., 10,30 abends, gesandt wurde. Um den Lesern klarzumachen, worin diesmal die bei den Chauvinisten überhaupt übliche Unterschiebung besteht, muss ich ziemlich weit zurückgreifen.

Unter dem alten Regime", und zwar in der Zeit vom April 1912 bis zum Juli 1914, erschien in Petersburg die sozialdemokratische Tageszeitung „PIrawda". Diese Zeitung war faktisch das Organ des Zentralkomitees unserer Partei, der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands. Ich schrieb fast täglich aus Krakau, wo ich damals als politischer Emigrant lebte, für diese Zeitung. Die sozialdemokratischen Duma-Abgeordneten, die unserer Partei angehörten und die vom Zaren wegen ihrer Agitation gegen den imperialistischen Krieg nach Sibirien verbannt wurden, Badajew, Muranow, Petrowski, Schagow, Samoilow (bis zum Sommer 1914 gehörte auch Malinowski zu dieser Gruppe), kamen regelmäßig nach Krakau und wir berieten über die Richtung der Zeitung.

Selbstverständlich hat die Zarenregierung die „Prawda", die eine Auflage bis zu 60.000 Exemplaren hatte, nicht nur von allen Seiten mit Spitzeln umgeben, sondern sie bemühte sich auch, Lockspitzel unter ihre Angestellten zu bringen. Zu den Lockspitzeln gehörte auch Tschernomasow, der in den Parteikreisen den Namen „Miron" führte. Er erschlich sich das Vertrauen der Genossen und wurde im Jahre 1913 Sekretär der „Prawda".

Als wir zusammen mit der Gruppe der Abgeordneten die Tätigkeit Tschernomasows beobachteten, kamen wir erstens zu dem Schluss, dass er unsere Richtung in seinen Artikeln kompromittiere, und zweitens, dass er in punkto politischer Ehrlichkeit verdächtig sei. Es war aber schwer, Ersatz zu finden, um so mehr, als die Beziehungen zwischen der Gruppe der Abgeordneten und Krakau entweder illegal waren oder durch Reisen der Abgeordneten bewerkstelligt wurden und diese Reisen nicht sehr oft gemacht werden konnten. Endlich gelang es uns im Frühjahr 1914, Rosenfeld (Kamenew) nach Petrograd zu bringen; auch er wurde Ende 1914, zusammen mit unseren Abgeordneten, vom Zaren nach Sibirien verbannt.

Rosenfeld (Kamenew) hatte den Auftrag, Tschernomasow zu entfernen und er hat ihn vollständig von jeder Arbeit entfernt. Tschernomasow wurde entlassen. Unser Zentralkomitee leitete eine Untersuchung der Verdachtsgründe gegen Tschernomasow ein, es gelang aber nicht, genaue Daten zu sammeln, deshalb konnten sich die Petersburger Genossen nicht dazu entschließen, ihn als Lockspitzel öffentlich anzuzeigen. Man musste sich mit der Entfernung Tschernomasows aus der „Prawda" begnügen.

Dass Tschernomasow und selbstverständlich auch andere Lockspitzel dem Zaren geholfen haben, unsere Abgeordneten nach Sibirien zu bringen, ist zweifellos.

Mit dem Datum vom 13. November 1916 bekamen wir vom Petersburger „Büro des Zentralkomitees" unserer Partei die Mitteilung, dass Tschernomasow wiederum versuche, in die illegale Organisation einzudringen und dass das „Büro" „Miron" und eine Person, die mit ihm in Verbindung stand, aus der Organisation entfernt habe und dass sie so „mit jedem verfahren werde, der mit ihm weiter verkehrt".

Wir haben selbstverständlich geantwortet, dass Tschernomasow nicht in der Partei geduldet werden könne, denn er war durch einen Beschluss des Zentralkomitees, der unter Teilnahme der oben erwähnten Abgeordneten gefasst worden war, entfernt worden.

Das ist die Geschichte der alten „Prawda", die unter dem alten zaristischen Regime erschien und die vom Zaren vor dem Kriege, im Juli 1914, abgewürgt wurde. Es entsteht die Frage, ob Tschernomasow nicht auch an der neuen „Prawda", die in Petrograd nach der Revolution zu erscheinen begann, direkt oder indirekt mitgewirkt hat. Darüber weiß ich nichts, denn seit der Revolution lässt die Regierung Gutschkow-Miljukow weder meine Telegramme an die „Prawda" durch noch – natürlich – die Telegramme der „Prawda" an mich. Ich weiß nicht einmal, ob das Büro des ZK unversehrt geblieben ist, ob Kamenew und die Abgeordneten nach Petrograd gekommen sind, die Miron kennen und ihn sofort entfernt hätten, falls er den Personenwechsel sich zunutze gemacht und sich von neuem eingeschlichen haben sollte.

Die französische sozialchauvinistische Zeitung „Humanité"2 bringt am 28. III. ein Telegramm, das der „Petit Parisien" angeblich aus Petrograd erhalten hat. In diesem Telegramm wird Tschernomasow als „früherer Redakteur der extremistischen sozialdemokratischen Zeitung ,Prawda'" bezeichnet.

Der Leser wird jetzt hoffentlich begreifen, worin die Niedertracht und Erbärmlichkeit der Kampfmethoden der Regierung Gutschkow-Miljukow und ihrer Freunde besteht, die unsere Partei, als angeblich mit dem alten Regime und dem Feind im Einvernehmen stehend, in schlechtes Licht rücken sollen. Diese Regierung und ihre Freunde hassen unsere Partei und verleumden sie, weil wir schon am 13. X. 1915 in Nr. 47 unserer Zeitung „Sozialdemokrat" (Genf) erklärt haben, dass wir sogar in dem Fall unbedingt gegen einen imperialistischen Krieg sein werden, wenn dieser Krieg nicht von der Zarenregierung, sondern von einer Chauvinistisch-revolutionären, chauvinistisch-republikanischen russischen Regierung geführt werden sollte.

Die Regierung Gutschkow-Miljukow ist eben eine solche Regierung, denn sie hat die Raubvertrage des Zarismus mit dem englisch-französischen Imperialismus bestätigt und verfolgt in diesem Krieg räuberische Ziele (Eroberung Armeniens, Galiziens, Konstantinopels usw.).

N. Lenin

(Ich schicke dies morgen an das „Volksrecht"3 und an den „Avanti"4.)

1 Diesen Artikel schrieb Lenin am 30. (17.) März 1917 in der Schweiz und sandte ihn in Form eines Briefes an die Redaktion an den „Avanti" (s. u.) und an das Züricher „Volksrecht" (s. u.). Eine Abschrift des Artikels schickte Lenin nach Stockholm. Diese Abschrift wurde im Archiv von Schljapnikow gefunden.

2 L'Humanité" („Die Menschheit") – früher Zentralorgan der französischen Sozialistischen Partei (1904 von Jean Jaures gegründet); während des Krieges sozialpatriotisch. Seit der Spaltung der französischen Sozialistischen Partei 1920 Zentralorgan der Kommunistischen Partei Frankreichs.

3 „Volksrecht" in Zürich – sozialdemokratisches Blatt, vertrat während des Krieges einen internationalistischen Standpunkt.

4 „Avanti" („Vorwärts") – Zentralorgan der Italienischen Sozialistischen Partei" erschien in Mailand. Vertrat die internationalistische Richtung. Chefredakteur während des Krieges war Serrati.

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