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Wladimir I. Lenin 19151013 Einige Thesen

Wladimir I. Lenin: Einige Thesen

Von der Redaktion vorgelegt

[Sozialdemokrat Nr. 47 13. Oktober 1915. Nach Sämtliche Werke, Band 18, Wien-Berlin 1929, S. 412-415]

Das in dieser Nummer gebrachte Material zeigt, welch umfassende Tätigkeit das Petersburger Komitee unserer Partei entfaltet hat. Für Russland und die gesamte Internationale ist dies ein wahrhaftes Vorbild sozialdemokratischer Arbeit in einem reaktionären Kriege, unter den allerschwersten Bedingungen. Die Arbeiter von Petersburg und von ganz Russland werden diese Arbeit mit allen Kräften unterstützen und sie auf derselben Linie noch energischer, kräftiger, umfassender fortführen.

Indem wir den Hinweisen der Genossen aus Russland Rechnung tragen, formulieren wir einige Thesen über die aktuellen Fragen der sozialdemokratischen Arbeit: 1. Die Losung „Konstituierende Versammlung“ ist als selbständige Losung falsch, da die ganze Frage jetzt darum geht, wer sie einberufen wird. Die Liberalen akzeptierten diese Losung im Jahre 1905, da sie im Sinne einer vom Zaren einberufenen und mit ihm paktierenden Konstituante gedeutet werden konnte. Das Richtigste sind die drei Hauptlosungen (demokratische Republik, Beschlagnahme des Gutsbesitzerlandes und Achtstundentag) mit Hinzunahme (vgl. Nr. 9) des Appells an die internationale Solidarität der Arbeiter im Kampfe für den Sozialismus, für die revolutionäre Niederwerfung der kriegführenden Regierungen und gegen den Krieg. – 2. Wir sind gegen die Beteiligung an den Kriegsindustriekomitees, die nur die Weiterführung des imperialistischen, reaktionären Kriegs fördern. Wir sind für die Ausnutzung der Wahlkampagne, z. B. für die Beteiligung am ersten Stadium der Wahlen lediglich zu agitatorischen und organisatorischen Zwecken. – Von einem Boykott der Reichsduma kann nicht die Rede sein. Die Beteiligung an den Neuwahlen ist unbedingt notwendig. Solange in der Reichsduma keine Abgeordneten unserer Partei sitzen, muss man alles, was in der Duma vorgeht, vom Standpunkte der revolutionären Sozialdemokratie ausnützen. – 3. Als die dringendsten und wesentlichsten Aufgaben betrachten wir die Konsolidierung und Erweiterung der sozialdemokratischen Arbeit unter dem Proletariat, und weiter ihre Ausdehnung auf das ländliche Proletariat, auf die Dorfarmut und auf die Armee. – Wichtigste Aufgabe der revolutionären Sozialdemokratie ist die Weiterentwicklung der begonnenen Streikbewegung, und zwar unter der Losung der drei Grundforderungen. In der Agitation ist der Forderung nach sofortiger Beendigung des Kriegs der gebührende Platz einzuräumen. Unter den übrigen Punkten darf von den Arbeitern auch die Forderung nicht vergessen werden: unverzügliche Freilassung der verschickten Arbeiterdeputierten, der Mitglieder der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiter-Fraktion. – 4. Arbeiterdeputierten-Räte und ähnliche Institutionen müssen als Organe des Aufstands, als Organe der revolutionären Macht betrachtet werden. Nur im Zusammenhang mit der Entfaltung des politischen Massenstreiks und im Zusammenhang mit dem Aufstand, je nach dem Grad seiner Vorbereitung, seiner Entwicklung und seines erfolgreichen Fortschreitens können diese Institutionen von dauerhaftem Nutzen sein. – 5. Der soziale Inhalt der nächsten Revolution in Russland kann nur die revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft sein. Die Revolution kann in Russland nicht siegen, ohne die Monarchie und die feudalen Gutsbesitzer gestürzt zu haben. Sie können aber nicht gestürzt werden ohne Unterstützung des Proletariats durch die Bauernschaft. Die Differenzierung der Landbevölkerung in „Einzelhof-Besitzer“ und Landproletarier, so sehr sie einen Schritt vorwärts bedeutet, hat die Unterjochung der Landbevölkerung durch die Markow und Co. nicht aufgehoben. Für die Notwendigkeit einer besonderen Organisation der ländlichen Proletarier treten wir nach wie vor, unter allen und jeden Umständen ein. – 6. Es ist die Aufgabe des russischen Proletariats, die bürgerlich-demokratische Revolution in Russland zu Ende zu führen, zu dem Zwecke, die sozialistische Revolution in Europa zu entfachen. Diese zweite Aufgabe ist der ersten jetzt außerordentlich nahe gerückt, doch bleibt sie immer noch als besondere und als zweite Aufgabe bestehen, da es sich um verschiedene Klassen handelt, die mit dem Proletariat in Russland zusammenarbeiten: für die erste Aufgabe ist es die kleinbürgerliche Bauernschaft Russlands, für die zweite – das Proletariat der anderen Länder. – 7. Die Beteiligung der Sozialdemokraten an einer provisorischen revolutionären Regierung gemeinsam mit dem demokratischen Kleinbürgertum halten wir nach wie vor für zulässig, jedoch nicht mit den chauvinistischen Revolutionären. – 8. Als chauvinistische Revolutionäre betrachten wir die Leute, die den Sieg über den Zarismus zum Zwecke des Siegs über Deutschland wollen, – zur Plünderung anderer Länder, – zur Konsolidierung der Herrschaft der Großrussen über die übrigen Völker Russlands, usw. Grundlage des revolutionären Chauvinismus ist die Klassenstellung des Kleinbürgertums. Das Kleinbürgertum schwankt stets zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat. Gegenwärtig schwankt es zwischen dem Chauvinismus (der es davon abhält, auch nur im Sinne der demokratischen Revolution konsequent revolutionär zu sein) und dem proletarischen Internationalismus. Die politischen Repräsentanten dieses Kleinbürgertums in Russland sind in diesem Moment die Trudowiki, die Sozialrevolutionäre, „Nascha Sarja, die Fraktion Tschcheïdse, das Organisationskomitee, Herr Plechanow u. a. m. – 9. Würden in Russland die chauvinistischen Revolutionäre siegen, so wären wir gegen die Verteidigung ihres „Vaterlandes“ in diesem Kriege. Unsere Parole ist: gegen die Chauvinisten, mögen sie sogar Revolutionäre und Republikaner sein, gegen sie und für das Bündnis des internationalen Proletariats zum Zwecke der sozialistischen Revolution. – 10. Auf die Frage, ob die Führerrolle des Proletariats in der russischen bürgerlichen Revolution möglich sei, antworten wir: jawohl, sie ist möglich, wenn das Kleinbürgertum in den entscheidenden Momenten nach links schwenken wird; es wird aber nach links getrieben nicht nur durch unsere Propaganda, sondern auch durch eine Reihe von objektiven Faktoren ökonomischer, finanzieller (die Kriegslasten), militärischer, politischer u. a. Art. – 11. Auf die Frage, was die Partei des Proletariats tun würde, wenn die Revolution sie im jetzigen Kriege ans Ruder brächte, antworten wir: wir würden allen Kriegführenden den Frieden anbieten unter folgender Bedingung: Befreiung der Kolonien und aller abhängigen, unterdrückten und nicht voll berechtigten Völker. Weder Deutschland noch England oder Frankreich würden unter ihren jetzigen Regierungen diese Bedingung annehmen. Dann müssten wir den revolutionären Krieg vorbereiten und führen, d. h. wir würden nicht nur mit den entschlossensten Mitteln unser ganzes Minimalprogramm zur Gänze durchführen, sondern uns auch systematisch daranmachen, alle jetzt von den Großrussen unterdrückten Völker, alle Kolonien und abhängigen Länder Asiens (Indien, China, Persien usw.) zum Aufstand zu bringen, wir würden ebenso – und dies in erster Linie – das sozialistische Proletariat Europas seinen Sozialchauvinisten zum Trotz gegen seine Regierungen in den Aufstand treiben. Es unterliegt keinem Zweifel, dass der Sieg des Proletariats in Russland für die Entwicklung der Revolution in Asien wie in Europa ungewöhnlich günstige Bedingungen schaffen würde. Das hat sogar das Jahr 1905 bewiesen. Die internationale Solidarität des revolutionären Proletariats ist aber eine Tatsache, – allem Opportunismus und Sozialchauvinismus, diesem schmutzigen Abschaum, zum Trotz. – Wir legen diese Thesen den Genossen zum Meinungsaustausch vor und werden in den folgenden Nummern des Zentralorgans unsere Auffassungen weiter entwickeln.

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