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Wladimir I. Lenin 19170606 Die Parteien bei den Wahlen zu den Petrograder Bezirksdumas

Wladimir I. Lenin: Die Parteien bei den Wahlen zu den Petrograder Bezirksdumas1

[„Prawda" Nr. 64, 6. Juni (24. Mai) 1917. Nach Sämtliche Werke, Band 20.2, Wien-Berlin 1928, S. 33-37]

Die Kandidatenlisten für die Bezirksdumas sind veröffentlicht worden (Gratisbeilage zu den „Mitteilungen der Öffentlichen Stadthauptmannschaft" vom 17. Mai2). Leider werden nur über zehn und nicht über alle Bezirke Angaben gemacht; dennoch geben diese Listen ein sehr deutliches und klares Bild über das Parteiwesen, ein Bild, das aufmerksam studiert werden muss, sowohl für die Wahlagitation als auch zur Aufdeckung des Zusammenhanges zwischen den Parteien und den Klassen.

Bekanntlich ist die Entwicklung des Parteiwesens zu gleicher Zeit Vorbedingung und Gradmesser der politischen Reife. Je entwickelter, geschulter und bewusster die betreffende Bevölkerung oder die betreffende Klasse in politischer Hinsicht ist, um so höher ist in der Regel ihre parteimäßige Entwicklung. Diese allgemeine Regel wird durch die Erfahrungen aller zivilisierten Länder bestätigt. Es ist auch vom Standpunkt des Klassenkampfes verständlich, dass es so sein muss: Parteilosigkeit oder Mangel an parteimäßiger Bestimmtheit, an parteimäßiger Organisation bedeutet klassenmäßige Unbeständigkeit (so ist es im besten Falle; im schlimmsten Falle bedeutet es, dass die Massen von politischen Hochstaplern betrogen werden – eine Erscheinung, die in den parlamentarischen Ländern nur allzu gut bekannt ist).

Was zeigen nun die Kandidatenlisten in Petrograd in Hinsicht auf das Parteiwesen?

Im ganzen sind in zehn Bezirken 71 Listen aufgestellt worden. Es fällt sofort auf, dass sie in fünf große Gruppen zerfallen:

1. Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands – die Bolschewiki. In allen zehn Bezirken sind Listen aufgestellt worden. Unsere Partei marschiert in einem Block mit zwei Gruppen: mit den Meschrayonzy3 und mit den internationalistischen Menschewiki. Dieser Block ist auf einer streng grundsätzlichen Grundlage geschlossen und durch die Resolutionen der Petrograder sowie der Allrussischen Konferenz unserer Partei offen angekündigt worden. Die Grundfrage des gegenwärtigen politischen Lebens, für Russland sowohl wie für die ganze Welt, ist die Frage des Kampfes des proletarischen Internationalismus gegen den Chauvinismus (oder das „Oboronzentum") der großen und kleinen Bourgeoisie. Und unsere Partei hat vor aller Welt erklärt, dass sie entschlossen ist, die „Annäherung und Vereinigung" aller Internationalisten zu verwirklichen (siehe die Resolution der Allrussischen Konferenz über die Vereinigung der Internationalisten gegen den kleinbürgerlichen Oboronzenblock).

Die Partei des Proletariats ist bei den Wahlen klar, offen und einheitlich aufgetreten.

2. Ein nicht minder klares Klassengesicht zeigt die Partei der „Volksfreiheit", d. h. der Kadetten, die in Wirklichkeit die Partei der konterrevolutionären Bourgeoisie ist. Sie hat ebenfalls zehn reine Parteilisten in allen zehn Bezirken aufgestellt. Bekanntlich unterstützen alle Parteien der Grundbesitzer und der Kapitalisten heute die Kadetten, sie tun das aber einstweilen versteckt.

3. An dritter Stelle im Sinne einer klar ausgeprägten Parteistellung steht die neu gebackene radikal-demokratische Partei, die nur in sechs von zehn Bezirken Listen aufgestellt hat. Das ist eine völlig unbekannte Partei, die offenkundig auch eine kapitalistische Partei ist, und die darauf spekuliert, die Stimmen der Spießbürger durch Versprechungen, die zu nichts verpflichten, „fangen" zu können – eine Art verkleideter Kadetten.

4. An vierter Stelle steht eine Gruppe von 17 Listen in neun Bezirken, die von den Narodniki (Trudowiki4, Sozialrevolutionäre, Volkssozialisten5) und den Menschewiki, zusammen mit der übel beleumundeten Gruppe „Jedinstwo"6 aufgestellt worden sind, wobei diese Gruppen in den allerbuntesten Kombinationen miteinander auftreten.

Ein wahres Musterbild kleinbürgerlicher Konfusion und kleinbürgerlicher Grundsatzlosigkeit. Keine einzige dieser Gruppen und Parteien hat sich entschließen können, vorher irgendeine offene, prinzipiell begründete Erklärung über ihren Entschluss zur Annäherung und Vereinigung zu veröffentlichen. Sie haben sich von den Ereignissen fortreißen lassen und sind dem chauvinistischen Strom gefolgt. Sie sind in den gleichen Sumpf geraten und zappeln nun darin, wie echte Spießbürger, indem sie versuchen, in jedem Bezirk auf eine andere Weise „durchzukommen", so wie es halt geht! Wie man durchkommt, ist Nebensache, nur durchkommen – das ist ihr Wahlspruch.

Wenn sie grundsätzlich in der Frage der Landesverteidigung und der Unterstützung der Koalitionsregierung einig sind, weshalb sollten sie sich nicht zu einem einheitlichen, wirklich grundsätzlichen, in der gegenwärtigen Wahlkampagne offen auftretenden politischen Block zusammenschließen.

Aber das ist es ja eben, dass es dem Kleinbürgertum, d. h. den Narodniki und den Menschewiki sowohl an Grundsatzfestigkeit wie an einer klar ausgeprägten Parteistellung mangelt. Sie alle sind Oboronzen und Ministerialisten. Aber sie trauen einander nicht. In dem einen Bezirk treten die Sozialrevolutionäre gesondert auf, in dem anderen in einem Block mit den Volkssozialisten und den Trudowiki (mit Leuten, die eine Entschädigung für zulässig halten!!), mit Parteien, denen die Sozialrevolutionäre Wichljajew, Tschernow und Konsorten in den Jahren 1906 und 1907 offen den Vorwurf machten, dass sie sich von Eigentumsinstinkten leiten lassen!! Am häufigsten treten sie in einem Block mit den Menschewiki auf, manchmal in einem Block mit dem „Jedinstwo", demselben „Jedinstwo", von dem das „Djelo Naroda" entweder in feindseligem oder verächtlichem Tone zu sprechen pflegt.

Tut nichts! Der Spießbürger wird alles fressen! Der Kleinbürger kümmert sich nicht um eine ausgeprägte Parteistellung, er kümmert sich nicht um Grundsatztreue. In der Zeitung sind „wir" gegen das „Jedinstwo", um aber in die Duma zu kommen, sind „wir" eben – dafür

Ganz genau so machen es die Menschewiki. In der Zeitung sind sie gegen das „Jedinstwo", auf der Allrussischen Konferenz der Menschewiki wurde der berüchtigte Deutsch mit einem Sturm der Entrüstung empfangen, so dass sich das „Jedinstwo" offen darüber beschwerte. Tut nichts, der Spießbürger ist vergesslich, wir machen es wie die Spießbürger! „Im Prinzip" sind wir gegen die Deutsch und Jordanski, wir schämen uns ihrer vor den Arbeitern, aber um Pöstchen zu bekommen, sind wir bereit, mit diesen Herrschaften auf derselben Liste zu stehen!

So mögen denn alle klassenbewussten Arbeiter wissen, mögen sie die gesamte Arbeitermasse darüber aufklären, dass der Block der Sozialrevolutionäre und aller Narodniki mit den Menschewiki ein Block von Leuten ist, die die Helden, aus dem „Jedinstwo" feige durchschmuggeln, ein Block von Leuten, die sich ihrer Bundesgenossen schämen!

In zwei Bezirken, im Kasanski- und im Spasskibezirk, gibt es weder Menschewiki noch Sozialrevolutionäre: sie haben sich offenbar in den Listen der Bezirksräte der Arbeiter- und Soldatendeputierten, d. h. in parteilosen Listen versteckt (in beiden Fällen ist die Zahl der Kandidaten sehr unvollständig: 38 und 28 gegenüber 54 und 44 bei den Kadetten, und gegenüber 43 und 46, die wir aufgestellt haben). In zwei Bezirken also sind die kleinbürgerlichen Parteien selbst mit ihrer bunten und halben Parteimäßigkeit nicht fertig geworden und endgültig in den Sumpf der Parteilosigkeit hinab gesunken: „Man soll uns nur wählen, wozu brauchen wir einen ausgeprägten Parteistandpunkt?" Das ist stets und überall der Wahlspruch der bürgerlichen Parlamentarier.

5. Die fünfte Gruppe, das ist das Reich der vollkommenen Parteilosigkeit. In zehn Bezirken sind 28 solcher Listen aufgestellt worden, wobei die Mehrzahl der Gruppen nur in einem Bezirk besteht. Das ist nicht nur Spießbürgertum, sondern ein örtlich beschränktes Spießbürgertum. Was gibt es da nicht alles! Da ist die Liste „der Hausmeister", die „Gruppe der Angestellten in den Erziehungsanstalten", die „Gruppe für Ehrlichkeit, Kontrolle und Gerechtigkeit" (wem es nicht gefällt, der höre nicht zu …) und „die demokratischen Republikaner und Sozialisten, die von den parteilosen werktätigen Demokraten und Republikanern aus den Mieterräten aufgestellt werden" …

Arbeiter, Genossen! Alle ohne Ausnahme an die Arbeit! Besucht die Wohnungen der Armen, rüttelt und klärt die Dienstboten, die rückständigeren Arbeiter usw. usw. auf! Auf zur Agitation gegen die Kapitalisten und Kadetten, die sich als „radikale Demokraten" verkleiden, sowie gegen jene, die sich hinter den Kadetten verstecken! Auf zur Agitation gegen den kleinbürgerlichen Oboronzensumpf der Narodniki und Menschewiki, gegen ihren Block der Parteilosigkeit und Prinzipienlosigkeit, gegen die Leute, die in ihren gemeinsamen Listen sowohl die Trudowiki, die Anhänger der Entschädigung, mitschleppen als auch die Helden des Plechanowschen „Jedinstwo", deren sich sogar die ministeriellen Zeitungen „Djelo Naroda"7 und „Rabotschaja Gazeta"8 schämen.

1 Versammlungen der Bezirksverordneten.

2 „Mitteilungen der öffentlichen Stadthauptmannschaft" („Wjedomosti Obschtschestwennowo Gradonatschalstwa"). – Amtliches Blatt in Petrograd, worin die offiziellen Regierungsverordnungen und amtlichen Bekanntmachungen veröffentlicht wurden. Der Zusatz „öffentlichen" wurde erst nach der Februarrevolution 1917 hinzugefügt; vorher lautete der Titel einfach: „Mitteilungen der Stadthauptmannschaft" („Wjedomosti Gradonatschalstwa").

3 „Zwischenbezirksorganisation der Vereinigten Sozialdemokraten", abgekürzt „Meschrayonzy" genannt. – Die Organisation entstand in Petrograd während des Krieges und existierte bis zum 6. Parteitag der Bolschewiki im Juli 1917, wo sie sich mit der bolschewistischen Partei verschmolz. Die Organisation trug offiziell einen außerfraktionellen Charakter; bis zur Februarrevolution zählte sie etwa 200 organisierte Arbeiter; sie verbreitete Flugblätter und brachte auch zwei Nummern einer illegalen Zeitung „Wperjod" („Vorwärts") heraus. In ihrer Stellung zum Kriege vertraten die „Meschrayonzy" einen internationalistischen Standpunkt und in ihrer Taktik standen sie den Bolschewiki nahe. Im Sommer 1917 gehörten der Organisation der „Meschrayonzy" Trotzki, Lunatscharski, Wolodarski, Uritzki u. a. an. Die Konferenz der „Meschrayonzy", auf der die Vereinigungsfrage behandelt wurde, fand am 23. (10.) Mai 1917 statt. Das bolschewistische Zentralkomitee war auf der Konferenz durch Lenin, Sinowjew und Kamenew vertreten. Die Konferenz lehnte die von Lenin beantragte Resolution ab und nahm die Resolution Trotzkis an.

4 Trudowiki – Arbeitsfraktion (man kann das Wort auch mit „Fraktion der Werktätigen" wiedergeben); bildete sich als Parlamentsfraktion 1906 in der ersten Reichsduma. Der Fraktion schlössen sich an die volkstümlerisch gestimmten Intellektuellen, die Volkssozialisten und die revolutionär gestimmten Bauernabgeordneten. Die Fraktion der Trudowiki bestand in allen vier Dumas. Die vereinzelten Abgeordneten der Sozialrevolutionäre, die in der dritten und vierten Reichsduma keine eigene Fraktion zustande bringen konnten, schlössen sich ebenfalls der Fraktion der Trudowiki an, indem sie restlos in ihr aufgingen (Kerenski war der Führer der Trudowiki in der vierten Duma). Die Stellung der Trudowiki zum Krieg, übrigens im allgemeinen eine äußerst unklare und verschwommene, war im wesentlichen sozialpatriotisch, teilweise sogar ausgesprochen chauvinistisch.

5 Partei der Volkssozialisten – ein Parteigebilde, das zwischen den Kadetten (Konstitutionelle Demokraten; aus den Anfangsbuchstaben KD entstand die Bezeichnung „Kadetten"; sie nannten sich auch „Partei der Volksfreiheit") und den Sozialrevolutionären stand, aber ohne Einfluss auf die Massen war. Die Partei der Volkssozialisten entstand durch Abspaltung von den Sozialrevolutionären im Jahre 1906. Der führende Kern der Volkssozialisten waren Pjeschechonow, Mjakotin, Annenski und andere Literaten die sich um die Zeitschrift „Russkoje Bogatstwo" („Russischer Reichtum ) gruppierten.

6 „Jedinstwo" („Einheit") hieß die von Georg Plechanow 1917 in Petrograd herausgegebene Zeitung. Die Richtung des Blattes war extrem-sozialchauvinistisch: es predigte den Sieg über Deutschland und die Unterstützung der Provisorischen Regierung. Das „Jedinstwo" trieb eine wütende Agitation gegen die Bolschewiki und befürwortete die Koalition mit den Kadetten. Später beteiligte sich die „Jedinstwo"-Gruppe zusammen mit den anderen bürgerlichen Parteien an den konterrevolutionären Organisationen und wirkte zugunsten von Denikin und Koltschak.

7 „Djelo Naroda" („Volkssache") – Tageszeitung, Organ des Zentralkomitees der Partei der Sozialrevolutionäre, erschien 1917 in Petrograd. Das Blatt vertrat die Ansichten des sogenannten „Tschernowschen Zentrums" im Gegensatz zur „Wolja Naroda", die das Organ des „rechten" Flügels der Partei war. Bei der in der Sozialrevolutionären Partei herrschenden „Freiheit" der politischen Meinungen und der Buntheit der politischen „Richtungen" erschienen zu gleicher Zeit in Petrograd mehrere Zeitungen dieser Partei, von denen jede eine andere „Richtung" vertrat

8 „Rabotschaja Gazeta" („Arbeiterzeitung") – menschewistische Tageszeitung, erschien 1917 in Petersburg; Organ des Organisationskomitees der SDAPR.

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