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Wladimir I. Lenin 19170723 Die politische Lage

Wladimir I. Lenin: Die politische Lage1

[Geschrieben am 23. (10.) Juli 1917 Zum ersten Mal veröffentlicht 1926 im „Leninski Sbornik", Nr. 4. Nach Sämtliche Werke, Band 21, Wien-Berlin 1931, S. 27-30]

Die Konterrevolution hat sich organisiert, gefestigt und faktisch die Macht im Staat in ihre Hände genommen.

Die völlige Organisierung und Festigung der Konterrevolution besteht in dem wohlüberlegten, bereits verwirklichten Zusammenschluss der drei Hauptkräfte der Konterrevolution: 1. die Partei der konstitutionellen Demokraten, d. h. die wahre Führerin der organisierten Bourgeoisie, hat mit ihrem Austritt aus der Regierung ein Ultimatum gestellt und das Feld für den Sturz dieser Regierung durch die Konterrevolution frei gemacht; 2. der Generalstab und die Kommandospitzen der Armee haben mit bewusster oder halb bewusster Hilfe Kerenskis, den sogar die prominentesten Sozialrevolutionäre jetzt einen Cavaignac nannten, die tatsächliche Staatsmacht ergriffen und sind dazu übergegangen, die revolutionären Truppenteile an der Front zu füsilieren, die revolutionären Truppen und Arbeiter in Petrograd und Moskau zu entwaffnen, und in Nischni-Nowgorod blutig niederzuschlagen,2 die Bolschewiki zu verhaften und ihre Zeitungen nicht nur ohne Gerichtsverfahren, sondern auch ohne Regierungsbeschluss zu schließen. Tatsächlich ist die eigentliche Staatsmacht in Russland jetzt eine Militärdiktatur; diese Tatsache ist noch durch eine Reihe in Worten revolutionärer, in Wirklichkeit aber ohnmächtiger Institutionen verschleiert, aber es ist eine unzweifelhafte Tatsache, und zwar eine so grundlegende, dass man ohne sie begriffen zu haben, die politische Lage nicht begreifen kann; 3. die schwarzhundertlerisch-monarchistische und die bürgerliche Presse, die bereits von der wütenden Hetze gegen die Bolschewiki zur Hetze gegen die Räte, gegen den „Brandstifter" Tschernow usw. übergegangen ist, hat überaus klar gezeigt, dass das wahre Wesen der Politik der Militärdiktatur, die heute herrscht und von den Kadetten und Monarchisten unterstützt wird, in der Vorbereitung der Auseinanderjagung der Räte besteht. Viele Führer der Sozialrevolutionäre und Menschewiki, d. h. der jetzigen Mehrheit der Räte, haben dies in den letzten Tagen bereits anerkannt und ausgesprochen, aber wie echte Kleinbürger setzen sie sich über diese drohende Wirklichkeit mit leeren tönenden Phrasen hinweg.

Die Führer der Räte und der Parteien der Sozialrevolutionäre und Menschewiki, mit Zeretelli und Tschernow an der Spitze, haben die Sache der Revolution endgültig verraten, indem sie sie in die Hände der Konterrevolutionäre überlieferten und sich und ihre Parteien, sowie die Räte in ein Feigenblatt der Konterrevolution verwandelten.

Diese Tatsache ist dadurch bewiesen, dass die Sozialrevolutionäre und Menschewiki die Bolschewiki ausgeliefert und stillschweigend die Zerstörung ihrer Zeitungen bestätigt haben, ohne sogar den Mut zu finden, dem Volke direkt und offen zu sagen, dass sie es tun und warum sie es tun. Indem sie die Entwaffnung der Arbeiter und der revolutionären Regimenter legalisierten, beraubten sie sich jeder realen Macht. Sie sind zu hohlen Schwätzern geworden, die der Reaktion helfen, die Aufmerksamkeit des Volkes zu „beschäftigen", bis sie ihre letzten Vorbereitungen zum Auseinanderjagen der Räte getroffen hat. Ohne diesen vollständigen und endgültigen Bankrott der Parteien der Sozialrevolutionäre und Menschewiki und der jetzigen Mehrheit der Räte erkannt zu haben, ohne die vollständige Fiktion ihres „Direktoriums" und der sonstigen Maskerade erkannt zu haben, kann man von der ganzen jetzigen politischen Lage rein gar nichts begreifen.

Alle Hoffnungen auf eine friedliche Entwicklung der russischen Revolution sind endgültig verschwunden. Die objektive Lage ist: entweder Sieg der Militärdiktatur mit allen seinen Folgen, oder der Sieg des entscheidenden Kampfes der Arbeiter, der nur möglich ist, wenn er mit einem machtvollen Massenaufschwung gegen die Regierung und gegen die Bourgeoisie auf Grund der wirtschaftlichen Zerrüttung und der Verlängerung des Krieges zusammenfällt.

Die Losung des Überganges aller Macht auf die Räte war die Losung einer friedlichen Entwicklung der Revolution, die möglich war im April, im Mai, im Juni bis zum 5.9. Juli, d. h. bis zum Übergang der faktischen Macht in die Hände der Militärdiktatur. Jetzt ist diese Losung bereits falsch, denn sie lässt diesen erfolgten Übergang und den vollständigen tatsächlichen Verrat der Sozialrevolutionäre und Menschewiki an der Revolution außer acht. Nicht Abenteuer, nicht Revolten, nicht partieller Widerstand, nicht aussichtslose Versuche, der Reaktion stückweise zu widerstehen, können der Sache abhelfen, sondern nur das klare Erkennen der Lage, die Beharrlichkeit und Standhaftigkeit der Arbeiteravantgarde, die Vorbereitung der Kräfte zum entscheidenden Kampf, für dessen Sieg die Bedingungen jetzt furchtbar schwierig, aber dennoch bei einem Zusammentreffen der hier angedeuteten Tatsachen und Strömungen möglich sind. Keine konstitutionellen und republikanischen Illusionen, keine Illusionen mehr über einen friedlichen Weg, keine zersplitterten Aktionen, jetzt nicht auf die Provokationen der schwarzen Hundert und der Kosaken hereinfallen, sondern die Kräfte sammeln, sie umorganisieren und beharrlich zum entscheidenden Kampf vorbereiten, wenn der Verlauf der Krise es in wirklich massenhaftem, nationalem Umfange gestatten sollte. Der Übergang des Grund und Bodens an die Bauern ist jetzt ohne den entscheidenden Kampf unmöglich, denn die Konterrevolution hat sich, nachdem sie die Macht ergriffen hatte, mit den Grundbesitzern als Klasse vollständig vereinigt.

Das Ziel des Kampfes kann nur sein der Übergang der Macht in die Hände des von der armen Bauernschaft unterstützten Proletariats zur Durchführung des Programms unserer Partei.

Die Partei der Arbeiterklasse muss, ohne die Legalität preiszugeben, aber ohne diese auch nur einen Augenblick zur überschätzen, die legale Arbeit mit der illegalen vereinigen, wie in den Jahren 1912–1914.

Nicht eine Stunde lang die legale Arbeit im Stich lassen. Aber auch an die konstitutionellen und „friedlichen" Illusionen nicht glauben. (Sofort überall und für alles illegale Organisationen oder Zellen gründen, für die Herausgabe von Flugblättern usw.) Sich sofort umstellen, konsequent, beharrlich, auf der ganzen Linie.

So vorgehen, wie in den Jahren 1912–1914, wo wir es verstanden haben, vom Sturz des Zarismus durch die Revolution zu sprechen, ohne den legalen Boden, weder in der Reichsduma noch in den Versicherungskassen noch in den Gewerkschaften usw., zu verlieren.

1 Im Artikel „Die politische Lage" stellt Lenin zum ersten Mal nach der Februarrevolution die Frage der Vorbereitung des bewaffneten Aufstands. Um die Veröffentlichung des Artikels in der legalen Presse zu ermöglichen, ersetzte Lenin überall im Manuskript die Worte „bewaffneter Aufstand" durch die Worte „entschiedener Kampf". Infolge der Terrorakte gegen die bolschewistische Presse konnte der Artikel nicht rechtzeitig veröffentlicht werden. Die Hauptthesen dieses Artikels sind in den Artikeln „Zu den Losungen" und „Über konstitutionelle Illusionen" enthalten.

Der letzte Absatz des Artikels ist im Manuskript gestrichen.

2 In Nischni-Nowgorod fand eine Soldatenaktion statt, die zeitlich mit der Juli-Aktion in Petrograd zusammenfiel. Die Bewegung begann am 17. (4.) Juli 1917 mit einer friedlichen Demonstration der von der Front zurückgeschickten Soldaten, gegen die das Militärkommando Junker aufbot. Die Soldaten wurden von zwei Infanterieregimentern unterstützt. Beim bewaffneten Zusammenstoß erwies sich das Übergewicht auf der Seite der revolutionären Truppen. Die Gewalt ging in der Stadt in die Hände der revolutionären Demokratie über. Am 20. (7.) Juli kam aus Moskau eine Strafexpedition und unterdrückte die Bewegung.

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