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Wladimir I. Lenin 19170720 Drei Krisen

Wladimir I. Lenin: Drei Krisen1

[Geschrieben am 20. (7.) Juli 1917 Veröffentlicht am 1. August (19. Juli) 1917 in der Zeitschrift „Rabotniza", Nr. 7. Nach Sämtliche Werke, Band 21, Wien-Berlin 1931, S. 19-24]

Je wütender in diesen Tagen über die Bolschewiki gelogen wird, je wütender sie verleumdet werden, um so ruhiger müssen wir uns, unter Zurückweisung der Lügen und Verleumdungen, in den historischen Zusammenhang der Ereignisse und in die politische, das heißt klassenmäßige Bedeutung des bisherigen Verlaufs der Revolution hineindenken.

Zur Widerlegung der Lügen und Verleumdungen haben wir hier nur den Hinweis auf den „Listok Prawdy" vom 6. Juli zu wiederholen und die Aufmerksamkeit der Leser besonders auf den weiter unten folgenden Artikel zu lenken, der den dokumentarischen Beweis dafür erbringt, dass die Bolschewiki am 2. Juli (nach dem Eingeständnis der Zeitung der Partei der Sozialrevolutionäre) gegen die Aktion agitierten; dass am 3. Juli die Stimmung der Massen zum Überschäumen gekommen war und die Aktion entgegen unseren Ratschlägen begann; dass wir am 4. Juli in einem Flugblatt (das von derselben Zeitung der Sozialrevolutionäre „Djelo Naroda" nachgedruckt worden war) zu einer friedlichen und organisierten Demonstration aufforderten, und dass wir in der Nacht des 4. Juli den Beschluss fassten, die Demonstration zu beenden.2 Verleumdet nur drauf los, Verleumder! Ihr werdet diese Tatsachen und ihre ausschlaggebende Bedeutung in ihrem ganzem Zusammenhang niemals aus der Welt schaffen!

Wir gehen nun zur Frage des historischen Zusammenhanges der Ereignisse über. Als wir uns bereits Anfang April gegen die Unterstützung der Provisorischen Regierung wandten wurden wir sowohl von den Sozialrevolutionären als auch von den Menschewiki angegriffen. Und was hat das Leben bewiesen? Was haben die drei politischen Krisen, die vom 20. und 21. April vom 10. und 18. Juni, vom 3. und 4. Juli, bewiesen?

Sie haben erstens die wachsende Unzufriedenheit der Massen mit der bürgerlichen Politik der bürgerlichen Mehrheit der Provisorischen Regierung bewiesen.

Es ist nicht uninteressant, festzustellen, dass die Zeitung der regierenden Partei der Sozialrevolutionäre, „Djelo Naroda" vom 6. Juli, obwohl sie den Bolschewiki ganz feindlich gegenübersteht, gezwungen ist, tiefgehende ökonomische und politische Ursachen für die Bewegung vom 3. und 4. Juli zuzugeben.3 Die dumme, plumpe und gemeine Lüge, dass diese Bewegung künstlich hervorgerufen worden sei, dass die Bolschewiki für die Aktion agitiert hätten, wird mit jedem Tage immer mehr und mehr entlarvt.

Die allgemeine Ursache, die allgemeine Quelle, die allgemeine tiefe Wurzel aller drei erwähnten politischen Krisen ist klar, besonders, wenn man sie in ihrem Zusammenhang betrachtet, wie die Wissenschaft die Politik betrachtet wissen will. Es ist ein unsinniger Gedanke, anzunehmen, dass drei Krisen dieser Art künstlich hervorgerufen werden könnten.

Zweitens ist es lehrreich, zu ergründen, was alle diese Krisen miteinander gemeinsam hatten und was an ihnen individuell war.

Das gemeinsame ist die überschäumende Unzufriedenheit der Massen, ihre Erregung gegen die Bourgeoisie und deren Regierung. Wer diesen Kernpunkt vergisst oder verschweigt oder verkleinert, der verleugnet die ABC-Wahrheiten des Sozialismus über den Klassenkampf.

Der Kampf der Klassen in der russischen Revolution – mögen hierüber die sich Sozialisten nennenden Leute nachdenken, die einiges darüber wissen, was der Kampf der Klassen in den europäischen Revolutionen war.

Das Besondere an diesen Krisen ist ihre Erscheinungsform: das erste Mal (am 20.–21. April) äußert sie sich stürmisch-spontan, gar nicht organisiert, es kommt zu einer Schießerei der Schwarzhunderter gegen die Demonstranten und zu unerhört wüsten und verlogenen Anschuldigungen gegen die Bolschewiki. Der Explosion folgt eine politische Krise.

Das zweite Mal – Festsetzung einer Demonstration durch die Bolschewiki, ihre Absage dieser Demonstration nach einem drohenden Ultimatum und direktem Verbot durch den Rätekongress, und eine allgemeine Demonstration am 18. Juni, bei der die bolschewistischen Losungen offenkundig überwiegen.

Die politische Krise wäre, nach dem eigenen Eingeständnis der Sozialrevolutionäre und Menschewiki am Abend des 18. Juni, sicher ausgebrochen, wäre sie nicht durch die Offensive an der Front unterbunden worden.

Die dritte Krise entfaltet sich spontan am 3. Juli, ungeachtet der Anstrengungen der Bolschewiki am 2. Juli, sie zurückzudämmen, und führt, nachdem sie am 4. Juli ihren Höhepunkt erreicht hatte, am 5. und 6. zu einem Höhepunkt der Konterrevolution. Die Schwankungen bei den Sozialrevolutionären und den Menschewiki kommen darin zum Ausdruck, dass Spiridonowa und eine Reihe anderer Sozialrevolutionäre sich für den Übergang der Macht an die Räte aussprechen, und im selben Sinne äußern sich auch die menschewistischen Internationalisten, die sich bisher dagegen gewandt haben.

Schließlich besteht die letzte – und vielleicht lehrreichste – Schlussfolgerung aus der Betrachtung der Ereignisse in ihrem Zusammenhang darin, dass alle drei Krisen uns eine gewisse, in der Geschichte unserer Revolution neue Form einer Demonstration komplizierteren Typus zeigen, bei wellenartiger Bewegung, raschem Ansteigen und jähem Abstieg, bei Verschärfung von Revolution und Konterrevolution, unter „Wegspülung" der Elemente der Mitte für eine mehr oder weniger geraume Zeit.

Der Form nach war die Bewegung während aller dieser drei Krisen eine Demonstration. Eine gegen die Regierung gerichtete Demonstration – das wäre formell die genaueste Umschreibung der Ereignisse. Aber das ist es ja eben, dass es keine übliche Demonstration war. Es ist etwas, das bedeutend mehr ist als eine Demonstration und weniger als eine Revolution Es ist der Ausbruch der Revolution und der Konterrevolution zugleich, es ist das heftige, mitunter fast plötzliche Wegspülen" der Elemente der Mitte in Verbindung mit einem' stürmischen Hervortreten der proletarischen und der bürgerlichen Elemente.

Überaus charakteristisch in dieser Hinsicht ist es, dass alle Elemente der Mitte gegen beide bestimmte Klassenkräfte die proletarische und die bürgerliche, wegen jeder dieser Bewegungen Vorwürfe erheben. Man sehe sich die Sozialrevolutionäre und die Menschewiki an: sie sind außer sich und schreien aus Leibeskräften, dass die Bolschewiki durch ihre extreme Haltung der Konterrevolution helfen, und zugleich gestehen sie immer wieder ein, dass die Kadetten (mit denen sie eine Regierungskoalition haben) Konterrevolutionäre sind.

Wir müssen uns – schrieb gestern das ,Djelo Naroda' – durch einen tiefen Graben von allen Elementen rechts von uns, einschließlich dem kriegerisch gestimmten ,Jedinstwo'" (mit dem, fügen wir hinzu, die Sozialrevolutionäre bei den Wahlen einen Block bildeten) „abgrenzen – das ist unsere dringendste Aufgabe."4

Man vergleiche damit das „Jedinstwo" von heute (dem 7. Juli), wo Plechanow im Leitartikel gezwungen ist, die unbestreitbare Tatsache festzustellen, dass die Räte (d. h. die Sozialrevolutionäre und Menschewiki) sich „zwei Wochen Bedenkzeit" genommen haben und dass, wenn die Macht auf die Räte übergehen sollte, dies gleichbedeutend wäre mit dem Siege der Leninleute.

Wenn die Kadetten nicht dem Grundsatz: je schlimmer, desto besser, huldigen … " schreibt Plechanow – „so werden sie selbst zugeben müssen dass sie einen schweren Fehler" (mit ihrem Austritt aus der Regierung) „begangen haben, indem sie den Leninleuten ihre Arbeit erleichterten.“5

Ist das nicht charakteristisch? Die Elemente der Mitte bezichtigen die Kadetten, dass sie den Bolschewiki, und die Bolschewiki, dass sie den Kadetten die Arbeit erleichtern!! Sollte es schwer sein, zu begreifen, dass wir, wenn wir an die Stelle der politischen Bezeichnungen die der Klassen setzen, die Träumereien des Kleinbürgertums vom Verschwinden des Klassenkampfes zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie vor uns haben? Das Wehklagen des Kleinbürgertums über den Klassenkampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie? Sollte es schwer sein, zu begreifen, dass kein Bolschewik der Welt imstande gewesen wäre, auch nur eine „Volksbewegung", geschweige denn drei „hervorzurufen", wenn nicht sehr tiefgehende ökonomische und politische Ursachen das Proletariat in Bewegung gebracht hätten? Dass alle Kadetten und Monarchisten zusammen nicht imstande gewesen wären, irgendeine Bewegung „von rechts" hervorzurufen, wenn nicht ebenso tiefe Ursachen die konterrevolutionäre Stellung der Bourgeoisie als Klasse erzeugt hätten?

Während der Bewegung vom 20.–21. April zieh man sowohl uns wie die Kadetten der Unbeständigkeit, der Übertreibung, der Überspitzung; es ging so weit, dass man die Bolschewiki (so unsinnig das ist) beschuldigte, die Schießerei auf dem Newski angezettelt zu haben; und als die Bewegung zu Ende war, da schrieben dieselben Sozialrevolutionäre und Menschewiki in ihrem vereinigten und offiziellen Organ „Iswestija", die „Volksbewegung" habe „die Imperialisten Miljukow usw. kühn hinweggefegt", d. h. sie priesen die Bewegung!! Ist das nicht charakteristisch? Zeigt das nicht besonders klar die Verständnislosigkeit des Kleinbürgertums für den Mechanismus, für das Wesen des Klassenkampfes des Proletariats gegen die Bourgeoisie?

Die objektive Lage ist so: die übergroße Mehrheit der Bevölkerung ist ihrer Lebenslage nach und noch mehr ihrem Denken nach kleinbürgerlich. Aber im Lande herrscht das Großkapital, in erster Linie durch die Banken und die Syndikate. Es gibt im Lande ein städtisches Proletariat, das entwickelt genug ist, um seinen eigenen Weg zu gehen, aber noch nicht imstande ist, sofort die Mehrheit der Halbproletarier auf seine Seite zu ziehen. Aus dieser grundlegenden klassenmäßigen Tatsache ergibt sich die Unvermeidlichkeit solcher Krisen, wie der drei von uns untersuchten, und ebenso ihrer Formen.

Die Formen der Krisen können sich in Zukunft natürlich ändern, aber das Wesentliche wird bleiben, z. B. auch dann, wenn im Oktober eine Sozialrevolutionäre Konstituierende Versammlung zusammentritt. Die Sozialrevolutionäre haben den Bauern versprochen: 1. Aufhebung des Privateigentums am Grund und Boden; 2. Übergabe des Bodens an die Werktätigen; 3. Konfiskation der gutsherrlichen Ländereien und ihre entschädigungslose Übergabe an die Bauern. Die Durchführung dieser gewaltigen Umgestaltungen ist absolut unmöglich ohne die entschiedensten revolutionären Maßnahmen gegen die Bourgeoisie, ohne Maßnahmen, die nur durch den Anschluss der ärmsten Bauernschaft an das Proletariat, nur durch die Nationalisierung der Banken und Syndikate durchgeführt werden können.

Die vertrauensseligen Bauern, die vorübergehend glaubten, dass man diese schönen Dinge erreichen könne durch Paktieren mit der Bourgeoisie, werden unausbleiblich enttäuscht und … „unzufrieden" (gelinde gesprochen) sein, sie werden mit dem scharfen Klassenkampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie für die tatsächliche Verwirklichung der Versprechungen der Sozialrevolutionäre sein. So war es, so wird es sein.

1 Den Artikel „Drei Krisen" hatte Lenin für die „Prawda" geschrieben, er erschien aber erst am 3. August (21. Juli) in der Kronstädter Zeitung „Proletarskoje Djelo" (Nr. 7) mit unbedeutenden textlichen Änderungen rein redaktionellen Charakters.

2 Der Aufruf mit der Überschrift: „Genossen Arbeiter und Soldaten Petrograds!" wurde am Morgen des 4. Juli 1917 verbreitet.

3 Der Artikel „Der Augenblick verpflichtet", der eine Einschätzung der Juli-Bewegung gibt und sich mit der Provisorischen Regierung, die diese Bewegung unterdrückt hat, vollkommen einverstanden erklärt, enthält folgende Worte: „Es gehört nicht zu unseren Gewohnheiten, die Augen gegenüber Tatsachen zu verschließen und ihre beredte Beweiskraft zu übersehen. Die Unzufriedenheit mit der Koalitionsregierung aber ist eine Tatsache, sie ist längst zutage getreten und wächst ständig …"

4 Lenin zitiert den Leitartikel aus Nr. 93 des „Djelo Naroda" vom 19. (6.) Juli 1917.

5 Das Zitat ist dem Artikel Plechanows „Zwei Wochen Bedenkzeit" („Jedinstwo", Nr. 83 vom 20. [7.] Juli 1917) entnommen; der Artikel war der Resolution der Exekutivkomitees der Räte der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten vom 17. (4.) Juli 1917 gewidmet, die beschlossen hatten, innerhalb von zwei Wochen eine vereinigte Sitzung der Exekutivkomitees mit Vertretungen aus der Provinz einzuberufen, um über die Frage der Reorganisierung der Regierungsmacht zu entscheiden, die durch die Krise im Juli und den Rücktritt der Kadetten-Minister akut geworden war.

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