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Wladimir I. Lenin 19170808 Eine Antwort

Wladimir I. Lenin: Eine Antwort

[„Rabotschij i Soldat", Nr. 3 und 4, 8. und 9. August (26. und 27. Juli) 1917, Gezeichnet: N. Lenin. Nach Sämtliche Werke, Band 21, Wien-Berlin 1931, S. 45-57]

Die Zeitungen vom 22. Juli brachten eine Mitteilung „vom Staatsanwalt des Petrograder Obergerichtshofes" über die Untersuchung der Ereignisse vom 3. bis 5. Juli und die Anklageerhebung gegen mich sowie eine Reihe anderer Bolschewiki wegen Landesverrat und Organisierung eines bewaffneten Aufstandes.1

Die Regierung war gezwungen, diese Mitteilung zu veröffentlichen, weil diese niederträchtige Angelegenheit, die, wie jeder halbwegs intelligente Mensch sehen muss, unter Mitwirkung des Verleumders Alexinski in Ausführung der lang gehegten Wünsche und Forderungen der konterrevolutionären Kadettenpartei gefälscht worden ist, schon ein zu großer Skandal ist.

Aber durch die Veröffentlichung der Mitteilung blamiert die Regierung Zeretelli und Co. sich nur noch mehr, da die Plumpheit der Fälschung jetzt besonders drastisch zutage tritt.

Ich habe wegen einer Erkrankung Petrograd am Donnerstag, den 29. Juni verlassen und bin erst am Dienstag früh, den 4. Juli, zurückgekehrt. Selbstverständlich übernehme ich aber die volle und unbedingte Verantwortung für sämtliche Schritte und Maßnahmen des Zentralkomitees unserer Partei als auch unserer ganzen Partei überhaupt. Der Hinweis auf meine Abwesenheit war notwendig, um verständlich zu machen, weshalb ich über manche Einzelheiten nicht orientiert bin und mich in der Hauptsache auf Dokumente berufe, die in der Presse erschienen sind.

Es ist klar, dass der Staatsanwalt vor allem gerade Dokumente, dieser Art, besonders wenn sie in der bolschewistenfeindlichen Presse erschienen sind, sorgfältig sammeln, zusammenstellen und untersuchen musste. Aber der „republikanische" Staatsanwalt, der die Politik des „sozialistischen" Ministers Zeretelli durchführt, hatte keine Lust, gerade diese seine wichtigste Pflicht zu erfüllen.

Kurz nach dem 4. Juli gab das Regierungsblatt „Djelo Naroda" als Tatsache zu, dass die Bolschewiki am 2. Juli im Grenadierregiment gesprochen und gegen die Aktion agitiert haben.

War der Staatsanwalt berechtigt, dieses Dokument zu verschweigen? Hatte er Grund, die Aussage eines solchen Zeugen außer acht zu lassen?

Stellt doch diese Aussage die äußerst wichtige Tatsache fest, dass die Bewegung sich spontan entwickelte und dass die Bemühungen der Bolschewiki dahin gingen, nicht die Aktion zu beschleunigen, sondern sie hinauszuschieben.

Weiter. Dasselbe Blatt veröffentlichte ein noch wichtigeres Dokument, nämlich den Text des vom Zentralkomitee unserer Partei unterzeichneten und am 3. Juli nachts verfassten Aufrufes.2 Dieser Aufruf wurde verfasst und in Druck gegeben, nachdem die Bewegung bereits trotz unseren Bemühungen, sie aufzuhalten oder, richtiger, zu regulieren, die Dämme durchbrach – nachdem die Aktion bereits zur Tatsache geworden war.

Die ganze ungeheure Niedertracht und Gemeinheit, die ganze Tücke des Zeretellischen Staatsanwalts zeigt sich gerade darin, dass er die Frage umgeht, wann denn, an welchem Tage und zu welcher Stunde, ob vor oder nach dem bolschewistischen Aufruf, die Aktion begonnen hat.

In diesem Aufruf aber wird davon gesprochen, dass man der Bewegung einen friedlichen, organisierten Charakter verleihen müsse.

Kann man sich etwas Lächerlicheres vorstellen als die Beschuldigung der „Organisierung eines bewaffneten Aufstandes" gegen eine Organisation, die in der Nacht zum 4., d. h. in der Nacht vor dem entscheidenden Tag, einen Aufruf zu einer „friedlichen und organisierten Demonstration" erlassen hat? Und eine weitere Frage: Wodurch unterscheidet sich der „republikanische" Staatsanwalt des „sozialistischen" Ministers Zeretelli, der Staatsanwalt, der diesen Aufruf völlig verschweigt, von den Staatsanwälten im Dreyfus- oder im Beilisprozess?

Weiter. Der Staatsanwalt verschweigt, dass in der Nacht nach dem 4. Juli das Zentralkomitee unserer Partei einen Aufruf erließ, die Demonstration abzubrechen, und diesen Aufruf in der „Prawda" veröffentlichte, die gerade in derselben Nacht von einer Abteilung konterrevolutionärer Truppen demoliert wurde.

Weiter. Der Staatsanwalt verschweigt, dass Trotzki und Sinowjew in mehreren Ansprachen die Soldaten und die Arbeiter, die am 4. Juli zum Taurischen Palais marschiert waren, zum Auseinandergehen aufgefordert hatten, nachdem sie ihren Willen demonstriert hatten.

Diese Ansprachen haben Hunderte und Tausende von Menschen mit angehört. Mag also jeder ehrliche Bürger, der nicht will, dass sein Land durch die Inszenierung von „Beilis-Prozessen" geschändet wird, dafür sorgen, dass die Ohrenzeugen dieser Ansprachen unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit dem Staatsanwalt entsprechende schriftliche Erklärungen zugehen lassen und sich eine Abschrift behalten. Erklärungen darüber, ob Trotzki und Sinowjew in ihren Reden die Demonstranten zum Auseinandergehen aufgefordert haben. Ein anständiger Staatsanwalt hätte selbst die Bevölkerung dazu aufgefordert, aber wo sollen denn in einer Regierung der Kerenski, Jefremow, Zeretelli und Co. anständige Staatsanwälte herkommen. Und sollten nicht endlich die russischen Bürger selber dafür sorgen, dass „Beilis-Prozesse" in ihrem Lande unmöglich werden?

Nebenbei. Ich persönlich hielt am 4. Juli, infolge meines leidenden Zustandes nur einmal eine Ansprache vom Balkon des Hauses der Kschessinskaja aus. Der Staatsanwalt erwähnt diese Rede, versucht ihren Inhalt wiederzugeben, aber nicht nur, dass er keine Zeugen nennt, er verschweigt sogar die in der Presse veröffentlichten Zeugenaussagen. Ich besitze bei weitem nicht die Möglichkeit, alle Zeitungen zu haben, aber immerhin habe ich in der Presse zwei Darstellungen gefunden: 1. im bolschewistischen „Proletarskoje Djelo" (Kronstadt) und 2. im menschewistischen Regierungsblatt „Rabotschaja Gazeta".3 Weshalb wird der Inhalt meiner Rede nicht an Hand dieser Dokumente und durch eine öffentliche Aufforderung an die Bevölkerung nachgeprüft?

Der ganze Inhalt meiner Rede war folgender: 1. Entschuldigung, dass ich mich wegen Unpässlichkeit auf einige Worte beschränken muss; 2. Gruß an die revolutionären Kronstädter im Namen der Petrograder Arbeiter; 3. Ausdruck der Gewissheit, dass unsere Losung: „Alle Macht den Räten" siegen muss und siegen wird, trotz aller Auf und Nieder des geschichtlichen Weges; 4. Aufforderung zur „Beharrlichkeit, Standhaftigkeit und Wachsamkeit".

Ich verweile bei diesen Einzelheiten, um das winzige, wirkliche Tatsachenmaterial nicht zu übergehen, das vom Staatsanwalt so flüchtig, nachlässig, schlampig gestreift, kaum gestreift worden ist. Aber natürlich sind die Hauptsache nicht die Einzelheiten, sondern das Gesamtbild, die allgemeine Bedeutung des 4. Juli. Der Staatsanwalt zeigte sich vollkommen unfähig, darüber auch nur nachzudenken.

Über diese Frage haben wir vor allem eine äußerst wertvolle Darstellung in der Presse von einem geschworenen Feind des Bolschewismus, der einen Hagel von Beschimpfungen und Gehässigkeiten auf uns niederprasseln lässt, nämlich dem Berichterstatter des Regierungsblattes „Rabotschaja Gazeta". Dieser veröffentlichte kurz nach dem 4. Juli seine persönlichen Beobachtungen.4 Die von ihm genau festgestellten Tatsachen lassen sich dahin zusammenfassen, dass die Beobachtungen und Erlebnisse des Verfassers in zwei scharf voneinander getrennte Hälften zerfallen, von denen der Autor die zweite der ersten mit den Worten gegenüberstellt: Die Sache habe für ihn „eine günstige Wendung genommen".

Die erste Hälfte der Erlebnisse besteht darin, dass der Autor vor der aufgeregten Menge die Minister zu verteidigen sucht. Er muss deshalb Beschimpfungen, Tätlichkeiten über sich ergehen lassen und wird zuguterletzt festgenommen. Er hört höchst aufgeregte Rufe und Losungen; ganz besonders prägte sich seinem Gedächtnis der Ruf ein: „Tod Kerenski" (weil er die Offensive unternahm, „vierzigtausend Menschen hinschlachten ließ" usw.).

Die zweite Hälfte der Erlebnisse des Autors, die der Sache, wie er sich ausdrückt, eine „günstige" Wendung gab, beginnt mit dem Augenblick, wo die tobende Menge ihn „zur Aburteilung" in das Haus der Kschessinskaja führt. Dort wird er unverzüglich in Freiheit gesetzt.

Das sind die Tatsachen, die den Verfasser veranlassen, die Bolschewiki mit endlosen Beschimpfungen zu überschütten. Es ist ganz natürlich, dass ein politischer Gegner schimpft, zumal dieser Gegner ein Menschewik ist, der spürt, dass die vom Kapital und dem imperialistischen Krieg unterjochten Massen nicht zu ihm, sondern gegen ihn stehen. Doch das Geschimpfe ändert nichts an den Tatsachen, die auch in der Darstellung des wütendsten Feindes des Bolschewismus bezeugen, dass die erregten Massen sich bis zur Losung: „Tod Kerenski" hinreißen ließen, während die bolschewistische Organisation der Bewegung im Großen und Ganzen die Losung: „Alle Macht den Räten" gab, dass einzig und allein die bolschewistische Organisation bei den Massen moralische Autorität besaß und sie bewog, von Gewalttaten abzusehen.

Das sind die Tatsachen. Mögen die freiwilligen und unfreiwilligen Lakaien der Bourgeoisie gegen uns zetern und schimpfen und die Bolschewiki beschuldigen, dass sie „dem Elementaren schmeicheln" usw., usw.

Wir, die Vertreter der Partei des revolutionären Proletariats, antworten darauf, dass unsere Partei stets und überall mit den unterdrückten Massen war und stets sein wird, wenn sie ihre tausendmal gerechte und berechtigte Empörung über die Teuerung, über die Untätigkeit und den Verrat der „sozialistischen Minister", über den imperialistischen Krieg und seine Verlängerung zum Ausdruck bringen. Unsere Partei tat ihre unbedingte Pflicht, als sie am 4. Juli mit den mit Recht empörten Massen ging und bemüht war, ihrer Bewegung, ihrer Aktion einen möglichst friedlichen und organisierten Charakter zu verleihen. Denn am 4. Juli war ein friedlicher Übergang der Macht an die Räte, eine friedliche Vorwärtsentwicklung der russischen Revolution noch möglich.

Wie dumm das Märchen des Staatsanwalts von der „Organisierung eines bewaffneten Aufstandes" ist, beweist folgendes: Niemand wird bestreiten, dass am 4. Juli die überwältigende Mehrheit der bewaffneten Soldaten und Matrosen, die sich auf den Straßen Petrograds befanden, zu unserer Partei hielt. Es wäre also für unsere Partei ein leichtes gewesen, zur Absetzung und Verhaftung von Hunderten von Regierungspersonen, zur Besetzung von Dutzenden von Staats- und Regierungsgebäuden und -institutionen usw. überzugehen.

Nichts dergleichen geschah. Nur Leute, die so sehr in Verwirrung geraten sind, dass sie alle von den konterrevolutionären Kadetten ausgestreuten Märchen nachplappern, vermögen nicht zu sehen, wie lächerlich und unsinnig die Behauptung ist, am 3. oder 4. Juli habe die „Organisierung eines bewaffneten Aufstandes" stattgefunden.

Eine gerichtliche Untersuchung, die einer Untersuchung halbwegs ähnlich sähe, müsste vor allem fragen: wer hat mit der Schießerei begonnen, wie viel Tote und Verwundete hat es auf der einen und auf der anderen Seite gegeben, unter welchen Umständen hat sich jeder einzelne Fall von Tötung oder Verwundung abgespielt?

Hätte die gerichtliche Untersuchung auch nur einigermaßen Ähnlichkeit mit einer Untersuchung (und nicht mit einem verleumderischen Artikel in den Organen der Dan, Alexinski usw.), so wäre es die Pflicht der Untersuchungsrichter, eine öffentliche, dem Publikum zugängliche Zeugenvernehmung über diese Frage zu veranstalten und die Vernehmungsprotokolle sofort zu veröffentlichen.

So pflegten stets die englischen Untersuchungskommissionen zu verfahren, als England noch ein freies Land war. So oder ungefähr so fühlte sich das Exekutivkomitee der Räte im ersten Augenblick verpflichtet zu handeln, als die Angst vor den Kadetten sein Gewissen noch nicht gänzlich getrübt hatte. Man weiß, dass das Exekutivkomitee damals in der Presse versprach, zweimal täglich Bulletins über die Tätigkeit seiner Untersuchungskommission herauszugeben. Man weiß auch, dass das Exekutivkomitee (d. h. die Sozialrevolutionäre und Menschewiki) das Volk betrog, denn es hielt sein Versprechen nicht. Aber der Wortlaut dieses Versprechens geht in die Geschichte ein als Eingeständnis unserer Feinde, als Eingeständnis, was ein einigermaßen ehrlicher Untersuchungsrichter hätte tun müssen.

Es ist jedenfalls lehrreich, festzustellen, dass eine der ersten bürgerlichen, den Bolschewismus wütend hassenden Zeitungen, die einen Bericht über die Schießerei am 4. Juli brachte, die Abendausgabe der „Birschewyje Wjedomosti" vom gleichen Tage war. Und gerade aus dem Bericht dieser Zeitung geht hervor, dass nicht die Demonstranten die Schießerei begonnen hatten, dass die ersten Schüsse gegen die Demonstranten gerichtet waren! Der „republikanische" Staatsanwalt des „sozialistischen" Minimums zog es selbstverständlich vor, diese Zeugenaussage der „Birschewyje Wjedomosti" zu verschweigen!! Und doch entspricht diese Aussage der dem Bolschewismus absolut feindlich gegenüberstehenden „Birschewyje Wjedomosti" dem Gesamtbild der Ereignisse, wie es sich unserer Partei darstellt. Wäre es ein bewaffneter Aufstand, dann hätten die Aufständischen natürlich nicht auf Gegendemonstranten geschossen, sondern bestimmte Kasernen, bestimmte Gebäude umzingelt, bestimmte Truppenteile vernichtet usw. Umgekehrt, wenn es eine Demonstration gegen die Regierung mit einer Gegendemonstration der Regierungsanhänger war, so ist es ganz natürlich, dass die Konterrevolutionäre zuerst geschossen haben, teils aus Wut gegen die gewaltige Masse der Demonstranten, teils zu provokatorischen Zwecken, und es ist ebenso natürlich, dass die Demonstranten auf die Schüsse mit Schüssen antworteten.

Die Listen der Toten wurden, wenn auch wahrscheinlich nicht ganz vollständig, doch von einigen Blättern (ich glaube, in der „Rjetsch" und im „Djelo Naroda")5 veröffentlicht. Die direkte und erste Pflicht der Untersuchung wäre es, diese Listen zu prüfen, zu ergänzen und offiziell zu veröffentlichen. Dies unterlassen, heißt die Beweise dafür verheimlichen, dass die Konterrevolutionäre die Schießerei begonnen haben.

In der Tat, schon die flüchtige Durchsicht der veröffentlichten Listen zeigt, dass die zwei hauptsächlichsten und besonders deutlichen Gruppen, die Kosaken und die Matrosen, ungefähr die gleiche Zahl an Toten aufweisen. Wäre diese Erscheinung möglich, wenn die zehntausend bewaffneten Matrosen, die am 4. Juli nach Petrograd gekommen waren und sich mit den Arbeitern und Soldaten, besonders mit den Maschinengewehrabteilungen, die über viele Maschinengewehre verfügten, vereinigt hatten, den bewaffneten Aufstand beabsichtigt hätten?

Es ist klar, dass dann die Zahl der Toten auf Seiten der Kosaken und der anderen Gegner des Aufstandes zehnmal größer gewesen wäre, denn niemand bestreitet, dass die Bolschewiki am 4. Juli unter den bewaffneten Massen in den Straßen Petrograds ein gewaltiges Übergewicht hatten. Dafür liegen zahlreiche, in der Presse erschienene Zeugenaussagen von Gegnern unserer Partei vor, und jede einigermaßen ehrliche Untersuchung hätte zweifellos alle diese Bekundungen gesammelt und publiziert.

Wenn die Zahl der Toten auf beiden Seiten ungefähr die gleiche ist, so beweist dies, dass eben die Konterrevolutionäre mit der Schießerei gegen die Demonstranten begonnen und die Demonstranten die Schüsse nur erwidert haben. Anders konnte Gleichheit in der Zahl der Toten nicht eintreten.

Endlich ist es überaus wichtig, aus den Pressenachrichten folgendes hervorzuheben: Ermordungen von Kosaken sind am 4. Juli festgestellt, wo es zu einer offenen Schießerei zwischen Demonstranten und Gegendemonstranten kam. Solche Schießereien kommen sogar in nichtrevolutionären Zeiten bei einer gewissen Erregung der Bevölkerung vor; sie sind z. B. in romanischen Ländern, besonders im Süden, gar nicht selten. Ermordungen von Bolschewiki dagegen wurden auch nach dem 4. Juli bekannt, wo es keinen Zusammenstoß zwischen erregten Demonstranten und Gegendemonstranten mehr gab, wo also die Ermordung eines Wehrlosen durch einen Bewaffneten schon geradezu eine Henkertat war. So die Ermordung des Bolschewiks Woinow in der Spalernaja-Straße am 6. Juli.

Was ist das nun für eine Untersuchung, die nicht einmal das in der Presse erschienene Material über die Zahl der Toten auf beiden Seiten, über den Zeitpunkt und die Begleitumstände jedes einzelnen Todesfalls vollständig sammelt. Das ist keine Untersuchung, das ist ein Hohn.

Selbstverständlich kann man von einer solchen „Untersuchung" nicht erwarten, dass sie auch nur den Versuch machen wird, den 4. Juli historisch zu werten. Eine solche Abschätzung ist aber für jeden unerlässlich, der denkend an die Politik herangehen will.

Wer versuchen will, den 3. und 4. Juli historisch zu werten, kann sich nicht die völlige Gleichartigkeit dieser Bewegung mit der vom 20. und 21. April verhehlen.

In beiden Fällen ein spontaner Empörungsausbruch der Massen.

In beiden Fällen gehen die bewaffneten Massen auf die Straße.

In beiden Fällen eine Schießerei zwischen Demonstranten und Gegendemonstranten, mit einer gewissen (ungefähr gleichen) Zahl von Opfern auf beiden Seiten.

In beiden Fällen eine regierungsfeindliche Demonstration von besonderer Art (diese Besonderheiten wurden oben aufgezählt), verbunden mit einer tiefgehenden und langwierigen Krise der Regierung.

In beiden Fällen das Aufflammen einer äußersten Verschärfung im Kampfe zwischen den revolutionären Massen und den konterrevolutionären Elementen der Bourgeoisie, unter vorübergehender Verdrängung der zwischenstehenden, zum Paktieren neigenden Elemente der Mitte vom Kampfplatz.

Der Unterschied zwischen beiden Bewegungen besteht darin, das die zweite viel heftiger war als die erste, und dass die Parteien der Sozialrevolutionäre und der Menschewiki, die am 20. und 21. April neutral waren, seither sich (durch die Koalitionsregierung und durch die Politik der Offensive) in ihre Abhängigkeit von den konterrevolutionären Kadetten verstrickt hatten und deshalb am 3. und 4. Juli sich auf Seiten der Konterrevolutionäre erwiesen.

Die konterrevolutionäre Kadettenpartei log ebenso frech auch nach dem 20.–21. April, indem sie schrie: „Auf dem Newski haben die Leninanhänger geschossen", und ebenso heuchlerisch verlangte sie eine Untersuchung. Die Kadetten und ihre Freunde hatten damals die Mehrheit in der Regierung, die Untersuchung lag also völlig in ihrer Hand. Sie wurde eingeleitet, dann aber fallen gelassen, ohne dass etwas darüber veröffentlicht wurde.

Weshalb? Offenbar, weil die Tatsachen durchaus nicht das bestätigt hatten, was die Kadetten bestätigt wissen wollten. Mit anderen Worten: die Untersuchung über den 20.–21. April wurde „abgewürgt", weil die Tatsachen bestätigt haben, dass die Konterrevolutionäre, die Kadetten und ihre Freunde, die Schießerei begonnen hatten. Das ist klar.

Genau dasselbe war augenscheinlich am 3. und 4. Juli, und deshalb ist die Fälschung des Herrn Staatsanwalts so grobschlächtig und plump, der den Zeretelli und Co. zu Gefallen alle Regeln einer auch nur einigermaßen gewissenhaften Untersuchung verhöhnt.

Die Bewegung vom 3. und 4. Juli war der letzte Versuch, durch eine Demonstration die Räte zur Übernahme der Macht zu bewegen. Von diesem Augenblick an überlassen die Räte, d. h. die in ihnen herrschenden Sozialrevolutionäre und Menschewiki faktisch die Macht der Konterrevolution, die die Kadetten repräsentieren und die Sozialrevolutionäre und Menschewiki unterstützen. Jetzt ist eine friedliche Entwicklung der Revolution in Russland nicht mehr möglich, und die Frage ist von der Geschichte so gestellt: Entweder vollständiger Sieg der Konterrevolution oder neue Revolution.

II.

Die Beschuldigung der Spionage und der Beziehungen zu Deutschland, das ist schon die reinste Beilis-Affäre, bei der man sich nicht lange aufzuhalten braucht. Hier wiederholt die „Untersuchung" einfach die Verleumdungen des berüchtigten Verleumders Alexinski, wobei sie die Tatsachen besonders plump verdreht.

Es ist nicht wahr, dass ich und Sinowjew im Jahre 1914 in Österreich verhaftet wurden. Verhaftet wurde nur ich.

Es ist nicht wahr, dass ich verhaftet wurde, weil ich russischer Untertan war. Ich wurde wegen Spionageverdachts verhaftet. Der dortige Gendarm hielt agrarstatistische Diagramme in meinen Heften für „Pläne"! Offenbar stand jener österreichische Gendarm ganz auf dem Niveau des Alexinski und der Gruppe „Jedinstwo". Ich dürfte wohl, was die Verfolgung wegen Internationalismus anbelangt, den Rekord geschlagen haben, denn man verfolgt mich in beiden kriegführenden Koalitionen als Spion: in Österreich die Gendarmen, in Russland die Alexinski, Kadetten und Co.

Es ist nicht wahr, dass bei meiner Befreiung aus dem österreichischen Gefängnis Hanecki eine Rolle gespielt hat. Eine Rolle spielt dabei Viktor Adler, der die österreichischen Behörden auf die Schändlichkeit ihres Vorgehens hinwies. Eine Rolle spielten dabei die Polen, die sich schämten, dass in einem polnischen Lande eine so schmähliche Verhaftung eines russischen Revolutionärs möglich war.

Es ist eine infame Lüge, dass ich mit Parvus Beziehungen unterhalten, Lager besucht habe usw. Nichts dergleichen ist geschehen und konnte auch nicht geschehen. Gleich nach den ersten Nummern seiner Zeitschrift „Die Glocke" wurde Parvus in unserer Zeitung „Sozialdemokrat" als Renegat, als deutscher Plechanow bezeichnet. Parvus ist genau so ein Sozialchauvinist auf deutscher Seite wie Plechanow auf russischer. Als revolutionäre Internationalisten hatten wir weder mit den deutschen noch mit den russischen oder ukrainischen Sozialchauvinisten („Bund zur Befreiung der Ukraine") irgend etwas gemein und konnten mit ihnen nichts gemein haben.

Steinberg ist Mitglied des Emigrantenkomitees in Stockholm. Dort sah ich ihn zum ersten Mal. Ungefähr am 20. April oder etwas später reiste Steinberg nach Petrograd und bemühte sich, soweit ich mich erinnere, um eine Subvention für den Emigrantenverein. Das könnte der Staatsanwalt leicht nachprüfen, wenn er überhaupt etwas nachprüfen wollte.

Der Staatsanwalt spielt den Umstand aus, dass Parvus mit Hanecki in Verbindung steht, und Hanecki mit Lenin. Das ist aber eine geradezu betrügerische Methode, denn alle Welt weiß, dass Hanecki mit Parvus Geldgeschäfte hatte. Wir mit Hanecki aber gar keine.

Hanecki war als Kaufmann bei Parvus angestellt, sie trieben Handel zusammen. Doch viele russische Emigranten, die sich selbst in der Presse gemeldet haben, waren in den Unternehmungen und Einrichtungen von Parvus angestellt.

Der Staatsanwalt spielt den Umstand aus, dass die Handelskorrespondenz ein Deckmantel für Spionageverkehr sein konnte. Es wäre interessant, gegen wie viele Mitglieder der Parteien der Kadetten, Menschewiki und Sozialrevolutionäre man nach diesem ausgezeichneten Rezept wegen ihrer Handelskorrespondenz Anklage erheben müsste.

Wenn der Staatsanwalt aber Telegramme von Hanecki an Frau Sumenson besitzt (diese Telegramme sind bereits veröffentlicht), wenn der Staatsanwalt weiß, bei welcher Bank, wie viel Geld und wann die Sumenson besaß (der Staatsanwalt veröffentlicht ein paar Zahlen dieser Art) – warum zieht er dann nicht zwei, drei Buchhalter oder Handelsangestellte zur Teilnahme an der Untersuchung hinzu? Sie hätten ihm doch in zwei Tagen einen vollständigen Auszug aus den Handels- und Bankbüchern angefertigt.

Der Charakter dieser „Beilis-Affäre" tritt durch nichts so anschaulich zutage, wie dadurch, dass der Staatsanwalt nur Bruchstücke von Zahlen anführt: „Die Sumenson hatte während eines halben Jahres von ihrem Konto 750.000 Rubel abgehoben, es verblieben ihr 180.000 Rubel." Wenn man schon Zahlen veröffentlicht, warum dann nicht vollständig: wann, von wem erhielt die Sumenson Geld während „eines halben Jahres?" Und an wen zahlte sie? Wann und welche Warenpartien sind eingegangen?

Nichts leichter, als solche vollständige Zahlen zu sammeln. Das hätte man in zwei, drei Tagen tun können und müssen! Das hätte den ganzen Komplex der Handelsgeschäfte von Hanecki und Sumenson aufgedeckt! Das hätte keinen Raum gelassen für dunkle Anspielungen, mit denen der Staatsanwalt operiert!

Die schmutzigste und gemeinste Verleumdung Alexinskis, auf eine „staatliche" Art umgeschrieben von Beamten des Ministeriums Zeretelli und Co. – so tief sind die Sozialrevolutionäre und Menschewiki gesunken!

III.

Es wäre natürlich die größte Naivität, die von der Regierung Zeretelli, Kerenski und Co. gegen die Bolschewiki eingeleiteten „Gerichtsverfahren" für wirkliche Gerichtsverfahren zu halten. Das wäre eine ganz unverzeihliche konstitutionelle Illusion.

Die Sozialrevolutionäre und Menschewiki, die am 6. Mai mit den konterrevolutionären Kadetten eine Koalition bildeten und die Politik der Offensive, d. h. die Politik der Wiederaufnahme und Verschleppung des imperialistischen Krieges akzeptierten, mussten unvermeidlich zu Gefangenen der Kadetten werden.

Als Gefangene sind sie gezwungen, die schmutzigsten Affären der Kadetten, ihre gemeinsten, verleumderischen Gaunereien mitzumachen.

Die „Affäre" Tschernow klärt allmählich auch die Rückständigen auf, d. h. sie bestätigt die Richtigkeit unserer Ansicht. Und nach Tschernow hetzt die „Rjetsch" bereits auch gegen Zeretelli als einen „Heuchler" und „Zimmerwaldisten".

Jetzt werden auch die Blinden sehen und die Steine sprechen.

Die Konterrevolution schließt sich zusammen. Die Kadetten – das ist ihre Grundlage. Der Stab und die Heerführer, Kerenski in ihren Händen, die Schwarzhunderter-Presse zu ihren Diensten – das sind die Verbündeten der bürgerlichen Konterrevolution.

Die infamen Verleumdungen gegen die politischen Gegner werden dazu beitragen, dass das Proletariat schneller erkennt, wo die Konterrevolution ist, und sie im Namen von Freiheit, Frieden, Brot den Hungernden, Land den Bauern! hinwegfegt.

1 Die Mitteilung unter dem Titel „Dokumente über Lenin und Genossen. Material der Untersuchung (vom Staatsanwalt des Petrograder Obersten Gerichtshofes)" war in Nr. 14 833 des „Nowoje Wremja" vom 4. August (22. Juli) 1917 veröffentlicht.

2 Am 16. (3.) Juli gab das Zentralkomitee der „Prawda" einen Aufruf zur Veröffentlichung, in dem die Massen aufgefordert wurden, sich der Aktion zu enthalten, aber schon am Abend desselben Tages nahm die Bewegung spontan einen Massencharakter an, und das Zentralkomitee verfasste einen neuen Aufruf, der zu einer friedlichen Demonstration aufforderte. Da es schon zu spät war, konnte der Aufruf des ZK in der „Prawda" nicht mehr erscheinen, darum wurde er als Flugblatt herausgegeben. Der zuerst verfasste Aufruf wurde aus der Stereotype der „Prawda" herausgeschnitten, die an dem Tage mit einer leeren weißen Fläche auf der ersten Seite erschien.

Am 17. (4.) Juli, nachts, verfasste das Zentralkomitee einen neuen Aufruf mit der Aufforderung, die Demonstrationen abzubrechen. Dieser Aufruf war in der „Prawda" vom 18. (5.) Juli abgedruckt, doch konnte diese Nummer nur in wenigen hundert Exemplaren verbreitet werden, da die Druckerei während der Arbeit von den Junkern zerstört wurde. Im „Listok Prawdy", der am 19. (6.) Juli erschien, war ein dritter Aufruf des ZK abgedruckt, der ebenfalls aufforderte, die Demonstrationen abzubrechen.

3 Lenin meint die Korrespondenz von Nik. Andrejew „Die Konterrevolution auf den Straßen Petrograds am 4. Juli", die in Nr. 100 der „Rabotschaja Gazeta" vom 20. (7.) Juli 1917 veröffentlicht war.

4 Lenin meint die Notiz „Unruhige Tage. Eindrücke vom 4. Juli", die in der „Rabotschaja Gazeta", Nr. 100 vom 20. (7.) Juli 1917 veröffentlicht war und die Unterschrift Sch. trug.

5 Die Listen der Getöteten und Verwundeten in den Julitagen sind in einer Reihe Petrograder Zeitungen veröffentlicht worden. Die „Rjetsch" brachte „Mitteilungen über 700 Opfer". Die Angaben sind jedoch sehr unvollständig.

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