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Wladimir I. Lenin 19170515 Finnland und Russland

Wladimir I. Lenin: Finnland und Russland

[„Prawda" Nr. 46, 15. (2.) Mai 1917. Nach Sämtliche Werke, Band 20.1, Wien-Berlin 1928, S. 423-426-430]

Die Frage des Verhältnisses zwischen Finnland und Russland ist aktuell geworden. Die Provisorische Regierung hat es nicht verstanden, das finnische Volk zufrieden zu stellen, das einstweilen noch nicht die Lostrennung, sondern lediglich weitgehende Autonomie fordert.

Die undemokratische, annexionistische Politik der Provisorischen Regierung hat dieser Tage die „Rabotschaja Gazeta" formuliert und „verteidigt". Wollte sie den Schützling „hereinlegen", sie könnte es nicht mit größerem Erfolge tun. Es ist wirklich eine grundlegende Frage von allgemein-staatlicher Bedeutung, und es ist notwendig, dass man ihr die allerernsteste Aufmerksamkeit schenkt.

Das Organisationskomitee ist der Ansicht – schreibt die „Rabotschaja Gazeta" in Nr. 42 , dass die Frage der gegenseitigen Beziehungen zwischen Finnland und dem russischen Reich im Ganzen nur durch eine Verständigung zwischen dem finnischen Landtag und der Konstituante gelöst werden kann und muss. Bis dahin aber müssen die finnischen Genossen" (das Organisationskomitee hat mit den finnischen Sozialdemokraten eine Besprechung gehabt) „sich dessen bewusst sein, dass ein Erstarken der separaten Tendenzen in Finnland die zentralistischen Bestrebungen der russischen Bourgeoisie stärken würde."

Das ist der Standpunkt der Kapitalisten, der Bourgeoisie, der Kadetten, aber keinesfalls der des Proletariats. Die menschewistischen Sozialdemokraten haben das Programm der Sozialdemokratischen Partei, namentlich Punkt neun desselben1, der allen zum Staatsbereiche gehörenden Nationen das Selbstbestimmungsrecht zuspricht, über Bord geworfen. Sie haben praktisch dies Programm preisgegeben, indem sie faktisch auf die Seite der Bourgeoisie übergetreten sind – genau so, wie sie das in der Frage der Ersetzung des stehenden Heeres durch die allgemeine Volksbewaffnung usw. getan haben.

Die Kapitalisten, die Bourgeoisie, auch die Partei der Kadetten, haben das politische Selbstbestimmungsrecht der Völker, d. h. ihr freies Recht auf Lostrennung von Russland, niemals anerkannt.

Die Sozialdemokratische Partei hat in Punkt 9 ihres im Jahre 1903 angenommenen Parteiprogramms dies Recht anerkannt.

Wenn das Organisationskomitee die finnischen Sozialdemokraten auf eine „Verständigung" zwischen dem finnischen Landtag und der Konstituante „verwies", so bedeutet es eben, dass die Menschewiki in dieser Frage auf die Seite der Bourgeoisie übergegangen sind. Um sich davon vollkommen zu überzeugen, genügt es, die Stellung aller wichtigen Klassen und Parteien miteinander zu vergleichen.

Der Zar, die Rechten, die Monarchisten sind nicht für eine Verständigung zwischen Landtag und Konstituante, sondern für die direkte Unterwerfung Finnlands unter das russische Volk. Die republikanische Bourgeoisie ist für eine Verständigung zwischen dem finnischen Landtag und der Konstituante. Das klassenbewusste Proletariat und die ihrem Programm treu gebliebenen Sozialdemokraten sind für die Freiheit der Lostrennung Finnlands wie aller anderen nicht voll berechtigten Nationalitäten von Russland. Das ist das unbestreitbar klare, präzise Bild der Lage. Unter der Losung der „Verständigung", die rein gar nichts entscheidet – denn was soll geschehen, wenn eine Verständigung nicht zustande kommt? – führt die Bourgeoise dieselbe zaristische Unterwerfung, dieselbe Annexionspolitik durch.

Denn Finnland wurde von den russischen Zaren annektiert auf Grund von Abmachungen mit dem Henker der französischen Revolution, Napoleon, usw. Wenn wir wirklich gegen Annexionen sind, müssen wir sagen: Freiheit der Lostrennung für Finnland! Erst wenn wir das gesagt und verwirklicht haben, dann – und nur dann! – wird die „Verständigung" mit Finnland eine wirklich freiwillige, freie sein, eine wirkliche Verständigung, und kein Betrug.

Sich verständigen können nur Gleiche. Damit die Verständigung eine wirkliche Verständigung ist, und nicht eine mit Worten maskierte Unterwerfung, dazu ist die wirkliche Gleichberechtigung beider Kontrahenten notwendig, d. h. dass sowohl Russland als auch Finnland das Recht haben, sich nicht zu verständigen. Das ist sonnenklar.

Nur die „Freiheit der Lostrennung" bringt dies zum Ausdruck: nur ein Finnland, das das Recht zur Lostrennung hat, ist wirklich imstande, sich mit Russland darüber zu „verständigen", ob es sich lostrennen soll. Wer ohne diese Bedingung, ohne Anerkennung der Freiheit der Lostrennung, über die „Verständigung" Phrasen drischt, der betrügt sich und das Volk.

Das Organisationskomitee musste den Finnen klipp und klar sagen, ob es die Freiheit der Lostrennung anerkennt oder nicht. Es hat dies aber auf Kadettenmanier vertuscht und damit die Freiheit der Lostrennung preisgegeben. Es musste die russische Bourgeoisie angreifen, weil sie den unterdrückten Nationen das Recht der Lostrennung verweigert; eine Verweigerung, die gleichbedeutend ist mit Annexionismus. Das Organisationskomitee greift aber statt dessen die Finnen an, indem es sie warnt, dass „separate" (es müsste heißen: separatistische) Tendenzen die zentralistischen Bestrebungen stärken würden!! Mit anderen Worten, das Organisationskomitee droht den Finnen mit einem Erstarken der annexionistischen großrussischen Bourgeoisie – gerade das taten stets die Kadetten, gerade unter dieser Flagge führen die Roditschew und Co. ihre Annexionspolitik durch.

Da haben wir eine anschauliche praktische Erläuterung der Frage der Annexionen, über die heute „alle" sprechen, wobei man fürchtet, die Frage eindeutig und präzis zu stellen. Wer gegen die Freiheit der Lostrennung ist, der ist für Annexionen.

Die Zaren führten die Annexionspolitik brutal durch, indem sie im Einvernehmen mit anderen Monarchen ein Volk gegen das andere austauschten (Teilung Polens, das Abkommen über Finnland mit Napoleon usw.), wie die Grundbesitzer untereinander die leibeigenen Bauern austauschten. Die Bourgeoisie, die republikanisch geworden ist, führt genau dieselbe Annexionspolitik raffinierter, versteckter durch, indem sie eine „Verständigung" verspricht, jedoch die einzige reale Garantie einer wirklichen Gleichberechtigung bei der Verständigung, nämlich die Freiheit der Lostrennung, vorenthält. Das Organisationskomitee trottet im Schwanz der Bourgeoisie, indem es sich praktisch auf ihre Seite stellt (die „Birschowka"2, die alle wesentlichen Stellen aus dem Artikel der „Rabotschaja Gazeta" nachdruckte und die Antwort des Organisationskomitees an die Finnen lobte, hatte daher vollkommen Recht, wenn sie diese Antwort als eine „Lektion der russischen Demokratie" an die Finnen bezeichnete. Die „Rabotschaja Gazeta" hat diesen Bruderkuss der „Birschowka" wohlverdient).

Die Partei des Proletariats (die „Bolschewiki") hat auf ihrer Konferenz in der Resolution über die Nationalitätenfrage erneut die Freiheit der Lostrennung bestätigt.

Die Gruppierung der Klassen und Parteien ist klar.

Die Kleinbürger lassen sich durch das Gespenst der erschreckten Bourgeoisie ins Bockshorn jagen – das ist der Sinn der Politik der menschewistischen Sozialdemokraten und der Sozialrevolutionäre. Sie „fürchten" die Lostrennung. Die klassenbewussten Proletarier fürchten sie nicht. Sowohl Norwegen als auch Schweden haben gewonnen, als Norwegen sich im Jahre 1905 von Schweden frei trennte: das Vertrauen der beiden Nationen zueinander ist gewachsen, die freiwillige Annäherung der beiden Völker hat gewonnen, die unsinnigen und schädlichen Reibungen haben aufgehört, in wirtschaftlicher, politischer und kultureller Beziehung sind beide Nationen einander näher gekommen, das brüderliche Band der Arbeiter beider Länder ist stärker geworden.

Genossen Arbeiter und Bauern! Lasst euch nicht einfangen von der Annexionspolitik der russischen Kapitalisten, der Gutschkow, Miljukow, der Provisorischen Regierung, gegenüber Finnland, Kurland, der Ukraine usw.! Fürchtet euch nicht, die Freiheit der Lostrennung für alle diese Nationen anzuerkennen. Nicht durch Gewalt soll man die anderen Völker zum Bunde mit den Großrussen heranziehen, sondern nur durch eine wirklich freiwillige, eine wirklich freie Verständigung, die ohne die Freiheit der Lostrennung unmöglich ist.

Je freier Russland sein wird, je entschiedener unsere Republik die Freiheit der Lostrennung für die nicht-großrussischen Nationen anerkennen wird, desto stärker werden die anderen Nationen nach einem Bündnis mit uns streben, desto weniger Reibungen wird es geben, desto seltener werden Fälle wirklicher Lostrennung sein, desto kürzer wird die Zeitspanne sein, für die sich einige Nationen lostrennen werden, desto enger und fester wird letzten Endes das brüderliche Bündnis der russischen proletarisch-bäuerlichen Republik mit den Republiken irgendeiner anderen Nation sein.

1 Punkt 9 des Programms der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands vom Jahre 1903 lautet: „Selbstbestimmungsrecht für alle Nationen, die dem Staatsbereich angehören". Im April 1917 schlug Lenin vor, diesen Punkt durch folgenden zu ersetzen: „Recht der freien Lostrennung und Bildung eines eigenen Staates für alle Nationen, die dem Staatsbereich angehören. Die Republik des russischen Volkes soll die andern Völker oder Völkerschaften nicht durch Gewalt an sich ziehen, sondern ausdrücklich durch eine freiwillige Verständigung über die Schaffung eines gemeinsamen Staates. Die Einheit und das brüderliche Bündnis der Arbeiter aller Länder vertragen sich weder mit der direkten noch mit der indirekten Vergewaltigung anderer Völkerschaften."

2 Populäre Abkürzung der Petersburger Zeitung „Birschewije Wjedomosti" („Börsenzeitung"). Die Red.

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