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Wladimir I. Lenin 19170512 I. G. Zeretelli und der Klassenkampf

Wladimir I. Lenin: I. G. Zeretelli und der Klassenkampf

[„Prawda" Nr. 44, 12. Mai (29. April) 1917 gez.: N. Lenin. Nach Sämtliche Werke, Band 20.1, Wien-Berlin 1928, S. 418-422]

Alle Zeitungen bringen, vollständig oder in Auszügen, die Rede, die I. G. Zeretelli am 27. April in der feierlichen Sitzung der Abgeordneten aller vier Reichsdumas gehalten hat.1

Es war allerdings eine Ministerrede. Es sprach ein Minister ohne Portefeuille. Wir glauben aber, dass sogar wenn Minister ohne Portefeuille Ministerreden halten, es nicht schadet, an den Sozialismus, den Marxismus, den Klassenkampf zu erinnern. Jedem das Seine: der Bourgeoisie ziemt es, Auseinandersetzungen über den Klassenkampf, der Analyse, dem Studium dieses Kampfes, einer Begründung der Politik vom Standpunkt dieses Kampfes aus dem Wege zu gehen. Der Bourgeoisie ziemt es, diese „unangenehmen" oder, wie es in der Sprache der Salons heißt, taktlosen Themen zu meiden und die „Einheit" „aller Freunde der Freiheit" zu preisen. Der proletarischen Partei aber ziemt es, den Klassenkampf nicht zu vergessen.

Jedem das Seine.

Zwei politische Hauptgedanken liegen der Rede I. G. Zeretellis zugrunde: der erste, man könne und müsse zwei „Teile" der Bourgeoisie unterscheiden. Der eine Teil habe sich „mit der Demokratie verständigt"; die Lage dieser Bourgeoisie sei „fest". Der andere Teil, das seien die „verantwortungslosen Kreise der Bourgeoisie, die den Bürgerkrieg provozieren"; Zeretelli charakterisierte diesen Teil noch folgendermaßen: „viele aus der Reihe der sogenannten gemäßigten Mitte."

Der zweite politische Gedanke des Redners ist: „Der Versuch, die Diktatur des Proletariats und der Bauern schon jetzt zu verkünden" (!!?), wäre ein „Verzweiflungs"versuch, und er, Zeretelli, würde nur dann diesen Verzweiflungsversuch mitmachen, wenn er auch nur eine Minute lang glauben müsste, dass die Ideen Schulgins „die Ideen der gesamten Zensus-Bourgoisie" seien.

Untersuchen wir nun die beiden politischen Gedanken I. G. Zeretellis, der, wie es sich für einen Minister ohne Portefeuille oder einen Ministerkandidaten auch gehört, eine „Mittelstellung" eingenommen hat: weder Reaktion noch Revolution, weder mit Schulgin noch mit den Anhängern von „Verzweiflungsversuchen"!

Welche Klassenunterschiede zwischen den beiden von ihm genannten Teilen der Bourgeoisie hat Zeretelli festgestellt?

Gar keine. Es ist Zeretelli gar nicht in den Sinn gekommen, dass es nützlich wäre, die Politik vom Standpunkt des Klassenkampfes zu begründen. Die beiden „Teile" der Bourgeoisie sind ihrer Klassenlage nach die Kapitalisten und die Grundbesitzer. Dass Schulgin nicht dieselben Klassen oder Untergruppen von Klassen vertrete, wie Gutschkow (ein Mitglied der Provisorischen Regierung, und zwar eines der maßgebendsten…), das sagt Zeretelli mit keinem Wort. Zeretelli macht einen Unterschied zwischen den Ideen Schulgins und den Ideen der „gesamten" Zensus-Bourgeoisie, er hat aber keinen einzigen Grund dafür angeführt. Er konnte das auch nicht. Die „Ideen" Schulgins sind: für die Alleinherrschaft der Provisorischen Regierung, gegen ihre Überwachung durch die bewaffneten Soldaten, gegen die „englandfeindliche Propaganda", gegen die „Aufhetzung" der Soldaten gegen den „Offiziersstand", gegen die Propaganda der „Petrogradskaja Storona"2 usw. – diesen Ideen begegnet der Leser tagtäglich in den Spalten der „Rjetsch", in den Reden und Kundgebungen der Minister mit Portefeuilles usw.

Der Unterschied besteht nur darin, dass Schulgin etwas „forscher" spricht, während die Provisorische Regierung als Regierung etwas bescheidener spricht: Schulgin im Bass, Miljukow im Fistelton. Miljukow ist für eine Verständigung mit dem Arbeiter- und Soldatendeputiertenrat, Schulgin ist auch nicht gegen eine Verständigung. Schulgin und Miljukow sind beide für „andere Mittel der Kontrolle" (nicht so, dass die bewaffneten Soldaten kontrollieren).

Zeretelli hat jeden Gedanken an den Klassenkampf über Bord geworfen! Er hat weder die Klassenunterschiede zwischen den „beiden Teilen" der Bourgeoisie noch sonst ernsthafte politische Unterschiede festgestellt, er hat das nicht einmal versucht!

Unter „Demokratie" verstand Zeretelli in dem einen Teil seiner Rede „das Proletariat und die revolutionäre Bauernschaft". Halten wir uns an diese Klassendefinition. Die Bourgeoisie ist auf eine Verständigung mit dieser Demokratie eingegangen. Es fragt sich, worauf beruht diese Verständigung? Auf welchem Klasseninteresse?

Bei Zeretelli finden wir darüber keinen Laut! Er spricht nur von der „allgemein demokratischen Plattform, die sich im gegenwärtigen Augenblick für das ganze Land als annehmbar erwiesen" habe, d. h. offenbar für die Proletarier und Bauern, denn das „Land" ohne die „Zensus-Bourgeoisie", das sind eben die Arbeiter und Bauern.

Schließt diese Plattform, sagen wir, die Landfrage ein? Nein. Die Plattform schweigt sich darüber aus. Verschwindet aber die Gegensätzlichkeit der Klasseninteressen deswegen, weil man sie in diplomatischen Dokumenten, in den „Verständigungs"kundgebungen, in den Reden und Erklärungen der Minister verschweigt?

Zeretelli „vergaß" diese Frage zu stellen, er vergaß eine „Kleinigkeit": er vergaß „nur" die Klasseninteressen und den Klassenkampf …

Alle Aufgaben der russischen Revolution – so flötete I. G. Zeretelli –, ihr ganzes Wesen (!!??) hängt davon ab, ob die besitzenden Zensus-Klassen (d. h. die Grundbesitzer und Kapitalisten) begreifen werden, dass dies die Plattform des ganzen Volkes und keine spezifisch-proletarische ist …“

Arme Grundbesitzer und Kapitalisten! Sie sind „schwer von Begriff". Sie „begreifen nicht". Ein besonderer Minister aus der Demokratie tut Not, um sie zu belehren …

Oder ist es nicht vielmehr dieser Vertreter der „Demokratie", der den Klassenkampf vergessen, den Standpunkt eines Louis Blanc eingenommen hat, und versucht, sich mit Phrasen über die Gegensätzlichkeit der Klasseninteressen hinwegzusetzen?

Sind es die Schulgin, Gutschkow und Miljukow, die „nicht begreifen", dass es möglich sei, den Bauern mit dem Grundbesitzer auf einer Plattform, die die Landfrage totschweigt, zu versöhnen? Oder ist es I. G. Zeretelli, der „nicht begreift", dass das unmöglich ist?

Arbeiter und Bauern, begnügt euch mit dem, was für die Grundbesitzer und Kapitalisten „annehmbar" ist – das ist das wahre Wesen (das Klassenwesen, und nicht das formelle) der Stellung Schulgins, Miljukows, Plechanows. Und sie „begreifen" das besser als I. G. Zeretelli.

Hier kommen wir zum zweiten politischen Gedanken Zeretellis: die Diktatur des Proletariats und des Bauerntums (nebenbei bemerkt, die Diktatur wird nicht „verkündet", sondern erkämpft…) wäre ein Verzweiflungsversuch. Erstens: so einfach soll man diese Diktatur heute nicht abtun! Zeretelli könnte da leicht in das Archiv der „alten Bolschewiki"* geraten … Zweitens – und das ist die Hauptsache – sind etwa die Bauern und Arbeiter nicht die übergroße Mehrheit der Bevölkerung? Heißt denn „Demokratie" nicht Verwirklichung des Willens der Mehrheit?

Wie kann man also, wenn man Demokrat bleiben will, gegen die „Diktatur des Proletariats und des Bauerntums" sein? Wie kann man davon den „Bürgerkrieg" fürchten? (Was für einen Bürgerkrieg? Den einer Handvoll von Grundbesitzern und Kapitalisten gegen die Arbeiter und Bauern? Einer verschwindenden Minderheit gegen die erdrückende Mehrheit?)

I. G. Zeretelli ist ganz konfus geworden. Er hat sogar vergessen, dass, wenn die Lwow u. Co. ihr Versprechen, die Konstituante einzuberufen, erfüllen, diese eben die „Diktatur" der Mehrheit sein wird! Oder sollen sich die Arbeiter und Bauern auch in der Konstituante mit dem begnügen, was für die Großgrundbesitzer und Kapitalisten „annehmbar" ist?

Die Arbeiter und Bauern sind die übergroße Mehrheit. Alle Macht dieser Mehrheit – das soll ein „Verzweiflungsversuch" sein …

Zeretelli ist konfus geworden, weil er den Klassenkampf vollständig vergessen hat. Er hat den Standpunkt des Marxismus vollständig mit dem Louis Blancs vertauscht, der mit Redensarten den Klassenkampf zu „beschwören" suchte.

Die Aufgabe eines proletarischen Führers ist: den Unterschied der Klasseninteressen herauszuarbeiten und gewisse Schichten des Kleinbürgertums (nämlich der ärmsten Bauern) zu bewegen, zwischen den Arbeitern und Kapitalisten zu wählen und sich auf die Seite der Arbeiter zu stellen.

Die Aufgabe der kleinbürgerlichen Louis Blancs ist: den Unterschied der Klasseninteressen zu vertuschen und gewisse Schichten der Bourgeoisie (vornehmlich der Intellektuellen und Parlamentarier) zu bewegen, sich mit den Arbeitern zu „verständigen", die Arbeiter zu bewegen, sich mit den Kapitalisten zu „verständigen", die Bauern zu bewegen, sich mit den Grundbesitzern zu „verständigen".

Louis Blanc hat sich eifrig bemüht, die Pariser Bourgeoisie zu überzeugen, und bekanntlich soll es ihm beinahe gelungen sein, sie zu bewegen, von den Massenerschießungen in den Jahren 1848 und 1871 Abstand zu nehmen …

1 Die „feierliche Sitzung der Abgeordneten aller vier Reichsdumas" wurde vom Dumaausschuss am 10. Mai (27. April) 1917 im Zusammenhang mit der entstandenen Regierungskrise infolge der Ereignisse vom 3.-5. Mai (20. bis 22. April) einberufen. Zeretelli, der in seiner Eigenschaft als Abgeordneter der zweiten Reichsduma anwesend war, hielt als Antwort auf die Reden der Monarchisten Schulgin und Rodsjanko eine große politische Rede, in der er sich von der Konterrevolution „von rechts und von links" abgrenzte.

Das Volk hat den Zaren nicht dazu gestürzt, um an seine Stelle zwölf neue zu setzen (d. h. zwölf selbstherrliche Minister. Die Red.). Das Volk betrachtet sie nicht als unfehlbar." Der Redner verwies auf die Worte des Ministers Nekrassow, der die Kontrolle der gesellschaftlichen Organisationen begrüßte, und fuhr fort: „In einem demokratischen Lande kann es gar nicht anders sein. Notwendig ist eine Vereinigung aller, die imstande sind, sich konsequent auf den Boden der Demokratisierung des Landes in der Innen- und Außenpolitik zu stellen Die Hauptgefahr besteht darin, dass unsere Bourgeoisie nicht Nekrassow, sondern Schulgin folgen wird, dass sie der getroffenen Vereinbarung (mit der revolutionären Demokratie. Die Red.) untreu wird. Das wäre das Signal zum Bürgerkrieg, in dem die Revolution wie das Land zugrunde gehen werden." Andeutungen dieser Drohung erblickt der Redner in den Reden Schulgins sowohl wie Rodsjankos, die vom vollständigen Sieg reden. Mit dem Schlagwort der Zertrümmerung des deutschen Militarismus könne man jetzt niemand täuschen. Das Volk erkenne, dass die bewaffnete Zertrümmerung des fremden Militarismus das beste Mittel ist, das drückendste Joch des Militarismus auf den Nacken des eigenen Volkes zu legen. Deshalb sei das Volk durch Redensarten, wie die Rodsjankos, und Noten, wie die vom 18. April, so beunruhigt. Dies lasse sich nur dadurch vermeiden, indem man unentwegt und konsequent den Weg des in der Vereinbarung vom 2. März und in der Deklaration vom 27. März verkündeten Programms weitergehe. Redner glaubt, dass die russische Bourgeoisie genügenden politischen Sinn aufbringen werde, um diesen Weg zu gehen. Würde er das nicht glauben, so wäre er als erster mit denen gegangen, die von der Diktatur des Proletariats und der revolutionären Bauernschaft sprechen, obwohl er wisse, welche Gefahr dies bedeutet … (Siehe „Rabotschaja Gazeta" Nr. 42 vom 28. April 1917.)

2 Zu deutsch „Petrograder Seite": Stadtteil von Petersburg, wo sich das Kschessinski-Palais, der Sitz des ZK der Bolschewiki, befand.

* Siehe meine „Briefe über Taktik".

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