Wladimir I. Lenin 19170428 Entwurf einer Resolution über den Krieg

Wladimir I. Lenin: Entwurf einer Resolution über den Krieg1

[Geschrieben am 28.-29. (15.-16.) April 1917Zum ersten Mal veröffentlicht 1925 in dem Buche: ,Die Petrograder Stadtkonferenz und die Allrussische Konferenz der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands im April 1917" (russisch). Nach Sämtliche Werke, Band 20.1, Wien-Berlin 1928, S. 244-250]

I

Der gegenwärtige Krieg ist auf Seiten beider Gruppen der kriegführenden Mächte ein imperialistischer Krieg, d. h. ein Krieg, den die Kapitalisten führen um die Weltherrschaft, um die Aufteilung der kapitalistischen Beute, um günstige Märkte für das Finanz- und Bankkapital, um die Erdrosselung schwacher Völkerschaften.

Der Übergang der Staatsgewalt in Russland von Nikolaus II. auf die Regierung der Gutschkow, Lwow u. a., auf die Regierung der Grundbesitzer und Kapitalisten, hat an diesem Klassencharakter und an der Bedeutung des Krieges auf Seiten Russlands nichts geändert und konnte daran nichts ändern.

Besonders anschaulich ist die Tatsache, dass die neue Regierung denselben, einen ebensolchen imperialistischen, d. h. räuberischen Eroberungskrieg führt, in folgendem Umstand zum Ausdruck gekommen: die neue Regierung hat nicht nur die Geheimverträge nicht veröffentlicht, die der Exzar Nikolaus II. mit den kapitalistischen Regierungen Englands, Frankreichs usw. abgeschlossen hat, sondern diese Verträge auch formell bestätigt. Das hat man getan, ohne das Volk zu befragen und in der offensichtlichen Absicht, es zu betrügen, denn es ist allgemein bekannt, dass diese Geheimverträge des Exzaren durch und durch räuberische Verträge sind, die den russischen Kapitalisten die Ausplünderung Chinas, Persiens, der Türkei, Österreichs usw. versprechen.

Darum darf eine proletarische Partei, wenn sie mit dem Internationalismus, d. h. mit der brüderlichen Solidarität der Arbeiter aller Länder im Kampfe gegen das Joch des Kapitals nicht ganz brechen will, auf keinen Fall den jetzigen Krieg oder die jetzige Regierung oder ihre Anleihen unterstützen, welche Prunknamen diese Anleihen auch haben mögen.

Keinerlei Vertrauen verdient auch das Versprechen der jetzigen Regierung, auf Annexionen zu verzichten, d. h. auf die Eroberung fremder Länder oder das gewaltsame Festhalten irgendwelcher Völkerschaften innerhalb der Grenzen Russlands.

Denn erstens können die Kapitalisten, die durch Tausende von Fäden des russischen, englischen und französischen Bankkapitals miteinander verflochten sind, die die Interessen des Kapitals vertreten, auf Annexionen in diesem Kriege nicht verzichten, ohne aufzuhören, Kapitalisten zu sein, ohne auf die Profite aus den in Anleihen, Konzessionen, Kriegsindustriebetrieben usw. angelegten Milliarden zu verzichten. Zweitens hat die neue Regierung, nachdem sie, um das Volk zu betrügen, auf Annexionen verzichtete, durch den Mund Miljukows am 9. April 1917 in Moskau erklärt, dass sie auf Annexionen nicht verzichtet. Drittens hat Miljukow, wie „Djelo Naroda", die Zeitung, an der der Minister Kerenski mitarbeitet, enthüllt, seine Erklärung über den Verzicht auf Annexionen nicht einmal ins Ausland gesandt.

Indem die Konferenz das Volk vor den Versprechungen der Kapitalisten warnt, erklärt sie, dass man streng unterscheiden muss zwischen einem Verzicht auf Annexionen in Worten und einem Verzicht auf Annexionen in der Tat, d. h. durch sofortige Veröffentlichung aller geheimen Raubverträge, aller Dokumente der Außenpolitik und durch die sofortige Inangriffnahme der völligen Befreiung sämtlicher Völkerschaften, die die Kapitalistenklasse unterjocht oder gewaltsam an Russland kettet oder im Zustand der Rechtsungleichheit hält, indem sie die unser Volk schändende Politik des Exzaren Nikolaus II. fortsetzt.

II

Das sogenannte „revolutionäre Oboronzentum", das jetzt in Russland fast alle volkstümlerischen Parteien (Volkssozialisten, Trudowiki, Sozialrevolutionäre) und die opportunistische Sozialdemokratische Partei der Menschewiki (Organisationskomitee, Tschcheïdse, Zeretelli u. a.), sowie die Mehrheit der parteilosen Revolutionäre erfasst hat, stellt seiner Klassenbedeutung nach einerseits die Interessen und den Standpunkt des Kleinbürgertums, der Kleinbesitzer, der wohlhabenden Bauern dar, die, ebenso wie die Kapitalisten, aus der Vergewaltigung schwacher Völker Gewinne ziehen, – andererseits ist es das Resultat der Beschwindelung der Volksmassen durch die Kapitalisten, die die Geheimverträge nicht veröffentlichen und sich auf Versprechungen und schöne Redensarten beschränken.

Es muss anerkannt werden, dass sehr breite Massen der „revolutionären Vaterlandsverteidiger" es ehrlich meinen, d. h. dass sie tatsächlich keine Annexionen, keine Eroberungen, keine Vergewaltigung schwacher Völker wünschen, dass sie tatsächlich einen demokratischen und keinen Gewaltfrieden zwischen allen kriegführenden Ländern anstreben. Das muss deshalb anerkannt werden, weil infolge der Klassenlage der Proletarier und Halbproletarier in Stadt und Land (d. h. der Leute, die ganz oder zum Teil vom Verkauf ihrer Arbeitskraft an die Kapitalisten leben) diese Klassen am Profit der Kapitalisten nicht interessiert sind. Indem die Konferenz daher anerkennt, dass irgendwelche Zugeständnisse an das „revolutionäre Oboronzentum" absolut unzulässig sind und in Wirklichkeit den völligen Bruch mit dem Internationalismus und Sozialismus bedeuten, erklärt sie gleichzeitig: Solange die russischen Kapitalisten und ihre Provisorische Regierung sich nur auf Gewaltandrohungen gegen das Volk beschränken (z. B. der zu trauriger Berühmtheit gelangte Befehl Gutschkows, der den Soldaten für die eigenmächtige Absetzung ihrer Vorgesetzten Strafe androht), solange die Kapitalisten nicht übergegangen sind zur Gewalt gegen die sich frei organisierenden und frei alle Behörden absetzenden und wählenden Räte der Arbeiter-, Soldaten-, Bauern-, Landarbeiter- usw. Deputierten, – so lange wird unsere Partei den Verzicht auf die Gewalt propagieren und gegen die schweren und verhängnisvollen Fehler der Anhänger des „revolutionären Oboronzentums" ausschließlich mit den Methoden kameradschaftlicher Überzeugung ankämpfen, mit der Klarlegung der Wahrheit, dass die blinde Vertrauensseligkeit der breiten Massen gegenüber der Regierung der Kapitalisten, der schlimmsten Feinde des Friedens und des Sozialismus, im gegenwärtigen Augenblick in Russland das Haupthindernis einer raschen Beendigung des Krieges ist.

III

Was die wichtigste Frage anbelangt, wie man diesen verbrecherischen Raubkrieg der Kapitalisten, der die ganze Menschheit an den Rand des Ruins, des Hungers, des Verderbens gebracht hat, am raschesten beendigen kann, und zwar nicht durch einen Gewaltfrieden, sondern durch einen wahrhaft demokratischen Frieden, – so erkennt die Konferenz an und beschließt:

Vollkommen sinnlos wäre die Annahme, dass man diesen Krieg beendigen könnte durch einseitige Weigerung der Soldaten irgendeines Landes, den Krieg fortzusetzen, durch die einseitige Einstellung der Kriegshandlungen, dadurch, dass man einfach die „Bajonette in die Erde stößt".

Unsere Partei wird geduldig, aber beharrlich dem Volke die Wahrheit klarzumachen suchen, dass Kriege von Regierungen geführt werden, dass Kriege untrennbar verknüpft sind mit der Politik bestimmter Klassen, dass darum der Krieg, der von gekrönten und ungekrönten Räubern – von Monarchen vom Schlage eines Nikolaus II. und von Kapitalisten – begonnen wurde, nur dann durch einen wirklich demokratischen und keinen Gewaltfrieden beendigt werden kann, wenn die gesamte Staatsgewalt in die Hände der Klasse übergeht, die am Schutz der kapitalistischen Profite nicht interessiert ist, der Klasse, die wirklich imstande ist, der Unterdrückung durch das Kapital ein Ende zu bereiten, nämlich der Klasse der Proletarier und Halbproletarier.

Nur diese Klasse ist imstande, auf Annexionen tatsächlich zu verzichten, sich aus dem Netz des Finanz- und Bankkapitals zu befreien, unter bestimmten Bedingungen den Raubkrieg nicht nur mit Worten, sondern in der Tat in einen revolutionär-proletarischen Krieg umzuwandeln, in einen Krieg nicht um die Erdrosselung schwacher Völker, sondern um die Befreiung der Arbeiter und Bauern der ganzen Welt vom Joch des Kapitals.

Die Konferenz protestiert erneut mit allem Nachdruck gegen die niederträchtige Verleumdung, die die Kapitalisten gegen unsere Partei verbreiten, als seien wir für einen Separatfrieden mit Deutschland. Wir halten die deutschen Kapitalisten für ebensolche Räuber wie die russischen, englischen, französischen u. a. Kapitalisten, und den Kaiser Wilhelm für einen ebensolchen gekrönten Räuber wie Nikolaus II. und die Monarchen Englands, Italiens, Rumäniens usw. Diese unsere Ansicht haben wir nicht nur in russischer, sondern auch in deutscher Sprache vertreten, in der deutschen Übersetzung der Broschüre Sinowjews und Lenins „Sozialismus und Krieg".

Mehr als das. Die genannten Genossen haben, als Redakteure des Zentralorgans unserer Partei, in Nr. 47 des „Sozialdemokrat" vom 13. Oktober 1915, der in Genf erschienen ist, im Namen unserer Partei erklärt, dass, falls die Revolution sie noch während des Krieges an die Macht bringen sollte, wir sofort und offen Deutschland und allen Völkern insgesamt einen demokratischen Frieden, d. h. keinen Gewaltfrieden vorschlagen würden, – und dass wir, falls die deutschen, die englischen, die französischen usw. Kapitalisten einen solchen Frieden ablehnen, allein einen revolutionären Krieg führen und die Arbeiter aller Länder zum Bündnis mit uns aufrufen werden.

Die Konferenz bestätigt diese Erklärung Wort für Wort.

Die Konferenz erkennt an, dass es in keinem einzigen kriegführenden Lande der Welt jetzt eine solche Freiheit gibt, wie in Russland, und solche revolutionäre Massenorganisationen, wie die Räte der Arbeiter-, Soldaten-, Bauern- usw. Deputierten; – dass darum nirgends in der Welt der Übergang der Staatsgewalt in die Hände der wirklichen Mehrheit des Volkes, d. h. der Arbeiter und der ärmsten Bauern so leicht und so friedlich vor sich gehen kann.

Die Konferenz erklärt, dass, solange die Mehrheit des Volkes – unter der Bedingung vollständiger Agitations- und Propagandafreiheit – den untrennbaren Zusammenhang zwischen diesem Krieg und den Interessen der Kapitalisten noch nicht begriffen hat, es nur ein praktisches Mittel gibt, die Einstellung des Völkergemetzels zu beschleunigen.

Dieses Mittel ist die Verbrüderung der Soldaten an der Front.

Die Konferenz stellt die Tatsache fest, dass selbst ein Blatt, das die Interessen der Kapitalisten bedingungslos vertritt, das „Nowoje Wremja", in einem Telegramm aus Kiew vom 13. April anerkennt, dass die Verbrüderung an der Front begonnen hat. Eine ganze Reihe von Mitteilungen der Soldatendelegierten an den Arbeiter- und Soldatendeputiertenrat in Petersburg bestätigt diese Tatsache.

Die Soldaten Russlands und Deutschlands, die in den Soldatenrock gesteckten Proletarier und Bauern beider Länder, haben durch den Beginn der Verbrüderung der ganzen Welt gezeigt, dass der sichere Instinkt der von den Kapitalisten unterdrückten Klassen den sicheren Weg zur Einstellung des Völkergemetzels diktiert hat.

Unter Verbrüderung verstehen wir erstens die Herausgabe von Aufrufen in russischer Sprache mit deutscher Übersetzung und ihre Verbreitung an der Front, zweitens die Veranstaltung von Versammlungen russischer und deutscher Soldaten, mit Hilfe von Übersetzern an der Front, und zwar so, dass die Kapitalisten und die meisten der Kapitalistenklasse angehörenden Generale und Offiziere beider Länder es nicht wagen, die Versammlungen zu stören, dass sie es nicht einmal wagen, ohne ausdrückliche besondere Erlaubnis der Soldaten selbst diesen Versammlungen beizuwohnen.

In solchen Aufrufen und in solchen Versammlungen müssen die oben dargelegten Ansichten über Krieg und Frieden auseinandergesetzt und darauf hingewiesen werden, dass, wenn in beiden Ländern, in Deutschland wie in Russland, die gesamte Staatsgewalt vollständig und ausschließlich in die Hände der Arbeiter- und Soldatendeputiertenräte übergeht, die ganze Menschheit sofort erleichtert aufatmen wird, denn dann wird tatsächlich das rascheste Ende des Krieges, der dauerhafteste, wahrhaft demokratische Friede zwischen allen Völkern, und damit auch der Übergang aller Länder zum Sozialismus gesichert sein.

Die Konferenz erklärt, dass das Geld für die Verpflegung der Soldaten nicht durch Anleihen, an denen sich die Kapitalisten bereichern, beschafft werden darf, sondern durch eine besonders hohe, den Kapitalisten auferlegte Einkommens- und Besitzsteuer.

1 Der „Entwurf einer Resolution über den Krieg" wurde von Lenin am 29. (16.) April 1917 in der von der Konferenz gewählten Kommission vorgeschlagen. Denselben Entwurf legte Lenin der Redaktionskommission der Allrussischen Aprilkonferenz vor. Dort wurde die Resolution wesentlich umgearbeitet und dann von der Konferenz angenommen. Im Protokoll der Petrograder Stadtkonferenz ist der Text dieses Entwurfes nicht angeführt, obwohl Lenin in seiner Rede auf der Aprilkonferenz zur Resolution über den Krieg ausdrücklich erklärt, dass er den ursprünglichen Entwurf der Resolution über den Krieg auch auf der Stadtkonferenz vorgelesen habe. Der Text des Entwurfes ist erhalten in einer Schreibmaschinenabschrift, die im Archiv des Lenin-Institutes aufbewahrt wird.

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