Lenin‎ > ‎1917‎ > ‎

Wladimir I. Lenin 19171205 Rede auf dem I. Allrussischen Kongress der Kriegsflotte

Wladimir I. Lenin: Rede auf dem I. Allrussischen Kongress der Kriegsflotte

5. Dezember (22. November) 1917, Protokollarische Aufzeichnungen1

[„Iswestija" Nr. 235, 8. Dezember (25. November) 1917. Nach Sämtliche Werke, Band 22, Zürich 1934, S. 94-100]

Im Auftrage des Rates der Volkskommissare begrüßt Lenin den Kongress als Vertreter der Armee und Flotte, die sich als Vorhut der Kämpfer für die Befreiung der werktätigen Klassen erwiesen haben-

Dann geht Lenin zur Charakteristik der gegenwärtigen Lage über. Er stellt fest, dass die Kompromisspolitik der Kerenskiregierung, die nicht darauf gerichtet war, die Nöte der breiten Volksmassen zu befriedigen und deren Grundsatz es war, die Interessen der Bourgeoisie, die Interessen der Unterdrückerklasse vollkommen unangetastet zu lassen, unvermeidlich zum Bankrott dieser Regierung führen musste. Der Redner fährt dann fort:

Neben der Provisorischen Regierung bestanden die Arbeiter- und Soldatenräte, die ein Produkt der revolutionären schöpferischen Kraft des aufständischen Volkes waren und immer breitere Schichten der werktätigen Massen um sich zusammenschlossen. Nur dank den Räten ist Russland gelungen, was, keiner einzigen der europäischen Revolutionen gelungen ist: das Volk hat eine Grundlage für eine wirkliche Volksregierung geschaffen. Vor den unterdrückten Massen erstand die außerordentlich schwierige Aufgabe, den Staat selbst aufzubauen. Ihr seht, welche Schärfe der Widerstand der Bourgeoisie angenommen hat, wie man unsere Tätigkeit durch Sabotage zu untergraben versucht, welche Lügen und Verleumdungem bei jedem Anlass und ohne jeden Anlass gegen uns losgelassen werden.

Wir werden mit einem Hagel von Beschuldigungen überschüttet, dass wir Terror und Gewalt anwenden, aber wir lassen uns durch diese Angriffe nicht beunruhigen. Wir sagen: wir sind keine Anarchisten, wir sind Anhänger des Staates. Aber der kapitalistische Staat muss zerstört, die kapitalistische Staatsmacht vernichtet werden. Unsere Aufgabe besteht darin, einen neuen Staat aufzubauen, einen sozialistischen Staat. In dieser Richtung; werden wir unermüdlich arbeiten, und keinerlei Hindernisse werden uns schrecken oder zurückhalten. Die ersten Schritte der neuen Regierung haben das bereits bewiesen. Aber der Übergang; zur neuen Ordnung ist ein außerordentlich komplizierter Prozess, und zur Erleichterung dieses Überganges ist eine starke Staatsmacht notwendig. Bisher befand sich die Macht in den Händen der Monarchen und der Statthalter der Bourgeoisie. Alle ihre Anstrengungen und ihre ganze Politik waren darauf gerichtet, einen Zwang auf die Volksmassen auszuüben. Wir dagegen sagen: wir brauchen eine starke Staatsmacht, wir brauchen Gewalt und Zwang, aber wir werden sie gegen das Häuflein Kapitalisten, gegen die Klasse der Bourgeoisie richten, Wir werden, stets Zwangsmaßnahmen anwenden als Antwort auf die unsinnigen, aussichtslosen Versuche, sich der Sowjetmacht entgegenzustellen. Und in allen diesen Fällen fällt die Verantwortung dafür auf diejenigen, die Widerstand leisten.

Lenin geht dann zu der Frage der Schaffung eines Staatsapparats über, der im Interesse des Volkes von jedem Bürokratismus frei sein muss, der breiteste Möglichkeiten für die Erweckung aller schöpferischen Kräfte des Landes schaffen muss, und sagt:

Die Bourgeoisie und die bürgerlichen Intellektuellenkreise sabotieren die Volksregierung in jeder Weise. Die werktätigen Massen können sich auf niemand anders verlassen, als auf sich selbst. Zweifellos sind die Aufgaben, vor denen das Volk steht, unendlich schwierig und gewaltig. Aber man muss an seine eigenen Kräfte glauben. Alles, was im Volke erwacht ist, zur schöpferischen Arbeit fähig ist, muss in unsere Organisationen hinein, die bereits vorhanden sind und in Zukunft von den werktätigen Massen ausgebaut werden sollen, Die Massen sind hilflos, wenn sie zersplittert sind; sie sind stark, wenn sie geschlossen dastehen. Die Massen haben dem Glauben an ihre eigenen Kräfte gewonnen und, ohne sich an die Hetze der Bourgeoisie zu kehren, selbständig die Verwaltung des Staates in Angriff genommen. Bei den ersten Schritten können Schwierigkeiten entstehen, kann sich die Schulung als ungenügend erweisen. Aber man muss an Hand der Praxis lernen, das Land zu verwalten, muss erlernen, was früher das Monopol der Bourgeoisie war. In dieser Hinsicht haben wir in der Flotte ein glänzendes Vorbild der schöpferischen Möglichkeiten der werktätigen Massen, in dieser Hinsicht hat die Flotte sich als Vortrupp gezeigt.

Lenin geht dann zu der Beleuchtung der wichtigsten Fragen des gegenwärtigen Augenblicks über, zur Landfrage, zur Frage der Arbeiterpolitik, zum nationalen Problem und zur Friedensfrage und geht ausführlich auf jede dieser Fragen ein.

Der II. Allrussische Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte hat ein Dekret über Grund und Boden angenommen, in dem die Bolschewiki vollständig die Grundsätze wiederholen, die in den Anweisungen der Bauern enthalten sind. Das war eine Abweichung von dem Programm der Sozialdemokraten, denn die Anweisungen der Bauern entsprechen dem Geist des Programms der Sozialrevolutionäre. Das aber ist ein Beweis dafür, dass die Volksregierung dem Volke nicht ihren Willen aufzwingen wollte, sondern bestrebt war, ihm entgegenzukommen.

Wie die Agrarfrage auch entschieden werden mag, welches Programm auch der Verwirklichung des Überganges des Landes an die Bauern zugrunde gelegt werden mag, das wird kein Hindernis für ein festes Bündnis der Bauern und Arbeiter sein. Wichtig ist lediglich: wenn die Bauern Jahrhunderte hindurch hartnäckig die Abschaffung des Eigentums an Land verlangen, so muss dieses Eigentum abgeschafft werden.

Der Redner weist ferner darauf hin, dass mit der Agrarfrage die Frage der Industrie eng verknüpft ist, dass neben der Agrarrevolution ein radikales Zerbrechen der kapitalistischen Verhältnisse vor sich gehen muss, und betont die außerordentliche Wichtigkeit eines festen Bündnisses der Arbeiter und Bauern.

Die Entwicklung der russischen Revolution hat gezeigt, dass die Politik des sklavischen Paktierens mit den Gutsbesitzern und Kapitalisten wie eine Seifenblase auseinander geflogen ist. Der Wille der Mehrheit soll herrschen; dieser Wille der Mehrheit wird durch das Bündnis der Werktätigen, durch die ehrliche Koalition der Arbeiter und Bauern auf dem Boden der gemeinsamen Interessen verwirklicht werden. Die Parteien wechseln sich und gehen unter. Die werktätigen Massen aber bleiben. Deshalb fordert der Redner auf, vor allen Dingen für die Festigkeit dieses Bündnisses zu sorgen.

Möge die Flotte – erklärt der Redner – alle ihre Kräfte einsetzen, damit dieses Bündnis die Grundlage des staatlichen Lebens bleibe: wenn dieses Bündnis stark sein wird, so wird nichts imstande sein, den Übergang zum Sozialismus zu verhindern.

Wenn wir die nationale Frage nehmen – erklärt Lenin –, so muss man die besonders bunte Zusammensetzung der Nationalitäten Russlands hervorheben, in dem die Großrussen nur ungefähr 40 Prozent ausmachen, während die übrige Mehrheit zu den anderen Nationalitäten gehört. Unter dem Zarismus war die nationale Unterdrückung dieser Völker von unerhörter Grausamkeit und Unsinnigkeit, sie schürte unter den nicht gleichberechtigten Völkern den stärksten Hass gegen die Monarchen. Man braucht sich also nicht darüber zu wundern, dass dieser Hass gegen diejenigen, die sogar den Gebrauch der Muttersprache untersagten und die Massen des Volkes zum Analphabetentum verurteilten, sich auch auf alle Großrussen übertragen hat. Man glaubte, dass die Großrussen als privilegierte Nation nur die Privilegien für sich behalten wollen, die Nikolaus II. und Kerenski für sie so eifrig gehütet hatten.

Man sagt uns, dass Russland sich zersplittern, in einzelne Republiken zerfallen werde, aber wir brauchen davor keine Angst zu haben. Wie viel selbständige Republiken auch entstehen mögen, wir brauchen davor keine Angst zu haben. Für uns ist nicht wichtig, wo die Staatsgrenze verläuft, sondern für uns ist wichtig, dass das Bündnis zwischen den Werktätigen aller Nationen zum Kampf gegen die Bourgeoisie aller Nationen erhalten bleibe.

Wenn die finnlandische Bourgeoisie Waffen bei den Deutschen kauft, um sie gegen ihre eigenen Arbeiter zu richten, so schlagen wir diesen Arbeitern ein Bündnis mit den russischen Werktätigen vor. Möge die Bourgeoisie den schändlichen, kläglichen Streit und Schacher um die Grenzen anfangen, die Arbeiter aller Länder und aller Nationen aber werden sich durch solche schändlichen Dinge nicht auseinanderbringen lassen.

Wir „erobern" jetzt – das ist kein gutes Wort – Finnland, aber nicht so, wie es die internationalen Räuber, die Kapitalisten, tun. Wir erobern Finnland dadurch, dass wir ihm die volle Freiheit einräumen, im Bunde mit uns oder mit anderen zu leben, und dass wir die volle Unterstützung der Werktätigen aller Nationalitäten gegen die Bourgeoisie aller Länder garantieren. Dieses Bündnis gründet sich nicht auf Verträgen, sondern auf der Solidarität der Ausgebeuteten gegen die Ausbeuter.

Wir beobachten jetzt die nationale Bewegung in der Ukraine und sagen: wir sind unbedingt für die völlige und uneingeschränkte Freiheit des ukrainischen Volkes. Wir müssen mit jener alten, blutigen und schmutzigen Vergangenheit brechen, wo das Russland der kapitalistischen Unterdrücker die Rolle des Henkers gegenüber den anderen Völkern spielte. Diese Vergangenheit werden wir beseitigen. Von dieser Vergangenheit werden wir keinen Stein auf dem anderen lassen.

Wir sagen den Ukrainern: als Ukrainer könnt ihr euer Leben einrichten, wie ihr wollt. Aber wir strecken den ukrainischen Arbeitern die Bruderhand entgegen und sagen ihnen: mit euch zusammen werden wir gegen eure und unsere Bourgeoisie kämpfen. Nur ein sozialistisches Bündnis der Werktätigen aller Länder wird jede Grundlage für die nationale Hetze und den nationalen Hader beseitigen.

Ich gehe jetzt zu der Frage des Krieges über. Gegen den Krieg, der durch den Zusammenstoß der Räuber wegen der Verteilung der Beute hervorgerufen worden ist, haben wir einen entschiedenen Kampf aufgenommen. Alle Parteien haben bisher von diesem Kampf geredet, aber über Worte und Heuchelei sind sie nicht hinausgekommen. Jetzt hat der Kampf für den Frieden begonnen. Das ist ein schwieriger Kampf. Wer glaubte, dass der Frieden leicht zu erlangen sei, dass man bloß ein paar Worte über den Frieden zu verlieren brauche, damit die Bourgeoisie ihn uns auf dem Teller präsentiere, muss ein sehr naiver Mensch sein. Wer den Bolschewiki eine solche Auffassung unterstellte, ist ein Betrüger. Die Kapitalisten haben wegen der Teilung der Beute einen Kampf auf Tod und Leben begonnen. Es ist klar: den Krieg vernichten, heißt das Kapital besiegen, und in diesem Sinne hat die Sowjetmacht den Kampf begonnen.

Wir haben die Geheimverträge veröffentlicht und werden sie auch weiter veröffentlichen. Keine Wutausbrüche und keine Verleumdungen werden uns davon abhalten. Die Herren Bourgeois sind erbost darüber, dass das Volk sieht, weshalb man es zur Schlachtbank getrieben hat. Sie schrecken das Land mit der Perspektive eines neuen Krieges, in dem Russland isoliert bleiben würde. Aber jener tolle Hass, den die Bourgeoisie gegen uns, gegen unsere Arbeit für den Frieden an den Tag legt, wird uns nicht davon abhalten. Möge sie im vierten Kriegsjahr versuchen, die Völker gegeneinander zu treiben! Das wird ihr nicht gelingen. Nicht nur bei uns, sondern in allen kriegführenden Ländern reift der Kampf gegen die eigenen imperialistischen Regierungen heran. Sogar in Deutschland, das die Imperialisten jahrzehntelang versuchten, in ein Kriegslager zu verwandeln, wo der ganze Regierungsapparat darauf eingestellt ist, die geringste Äußerung der Volksempörung im Keime zu unterdrücken, sogar dort ist es bis zu einem offenen Aufstand in der Flotte gekommen. Man muss die unerhörte Polizeiwillkür in Deutschland kennen, um zu begreifen, welche Bedeutung dieser Aufstand hat. Aber die Revolution wird nicht auf Bestellung gemacht; die Revolution ist die Folge des Ausbruchs der Empörung der Volksmassen. Wenn es so leicht war, mit einer Bande solcher kläglichen, verrückten Leute wie Romanow und Rasputin fertig zu werden, so ist es dafür unendlich schwieriger, gegen die organisierte und starke Clique der deutschen gekrönten und ungekrönten Imperialisten zu kämpfen. Man kann und muss aber Hand in Hand mit der revolutionären Klasse der Werktätigen aller Länder zusammenarbeiten. Und diesen Weg hat die Sowjetregierung beschritten, als sie die Geheimverträge veröffentlichte und zeigte, dass die Herrschenden aller Länder Räuber sind. Das ist keine Propaganda des Wortes, sondern der Tat.

Der Redner kam zum Schluss auf die Frage der Friedensverhandlungen und sagte:

Als die Deutschen auf unsere Forderung, keine Truppen an die Westfront und die italienische Front zu werfen2, ausweichend antworteten, brachen wir die Verhandlungen ab und werden sie erst nach einiger Zeit wiederaufnehmen. Und wenn wir das aller Welt offen mitteilen, wird es keinen einzigen deutschen Arbeiter geben, der nicht wissen wird, dass die Friedensverhandlungen nicht durch unsere Schuld abgebrochen worden sind. Wenn der Fall eintreten sollte, dass die deutsche Arbeiterklasse mit ihrer Regierung der Räuber und Imperialisten zusammenginge, und wir vor der Notwendigkeit stünden, den Krieg fortzusetzen, so würde das russische Volk, das ohne Murren sein Blut vergoss, ohne zu wissen, weshalb und wofür, das den Willen der Regierung, die es unterdrückte, ausführte, – so würde das russische Volk mit zehnfacher Energie, mit zehnfachem Heldenmut den Kampf in einem solchen Fall aufnehmen; denn das wäre ein Kampf für den Sozialismus, für die Freiheit, gegen die die internationale Bourgeoisie ihre Bajonette richtet. Wir aber glauben an die internationale Solidarität der werktätigen Massen, die alle Hindernisse auf dem Wege des Kampfes für den Sozialismus überwinden werden.

1 Der I. Allrussische Kongress der Kriegsflotte ging am 2.-5. XII. (19.–22. XI.) 1917 vor sich. Seine Hauptaufgabe war die Schaffung eines Organs zur Leitung der Flotte. Zu diesem Zweck wählte der Kongress 13 Bolschewiki und 7 Parteilose in das Allrussische Zentralexekutivkomitee, wo sie eine Flottensektion bildeten, die alle Funktionen der früheren Admiralität übernahm. Bis zum Zusammentritt des Kongresses hatte das Revolutionäre Marinekomitee die Leitung der Flotte. Dieses Revolutionäre Marinekomitee war von Matrosendelegierten des II. Allrussischen Rätekongresses als Gegenstück zum „Zentroflot" gebildet worden, der auf selten der Provisorischen Regierung stand und vom Revolutionären Marinekomitee am 9. XI. (27.X.) aufgelöst wurde. In den Oktobertagen und unmittelbar nachher hatte die vom „Zentrobalt" gewählte Dreiergruppe F. Aweritschkin, N. Chowrin und P. Dybenko die Leitung der Flotte in der Hand.

2 Lenin meint den Vorschlag der russischen Friedensdelegation in Brest-Litowsk vom 4. Dezember (21. November), der von den Deutschen abgelehnt wurde: „Keine einzige militärische Einheit und keinerlei militärische Kampfmittel dürfen während der Dauer des Waffenstillstandes von einem Frontabschnitt an einen anderen Frontabschnitt, von einer Front an eine andere, von der Front in die Etappe und von der Etappe an die Front geworfen werden. Erlaubt ist nur die Umgruppierung folgender Kategorien von Militärpersonen: Kranke, Verwundete und Soldaten, die von der Etappe an die Front zurückkehren, Rekonvaleszenten und Urlauber."

Nachdem die deutsche Delegation diese Bedingung abgelehnt hatte, verlas die Sowjetdelegation eine Deklaration über die Unterbrechung der Verhandlungen auf sieben Tage und fuhr nach Petrograd. Auf Grund eines zeitweiligen Abkommens über die Einstellung der militärischen Operationen auf 10 Tage (das Abkommen wurde am 5. Dezember unterzeichnet) wurde die Abkommandierung von Streitkräften von einer Front an die andere eingestellt, mit Ausnahme derjenigen Verschiebungen, die bereits begonnen hatten. Das deutsche Oberkommando aber, das sich diese Klausel zunutze machte, warf faktisch die ganze Zeit hindurch Truppen von der Ostfront an die Westfront.

Kommentare