Lenin‎ > ‎1917‎ > ‎

Wladimir I. Lenin 19170317 Thesenentwurf vom 17. März 1917

Wladimir I. Lenin: Thesenentwurf vom 17. März 19171

[Zum ersten Mal veröffentlicht 1924 im „Lenin-Sammelbuch" Nr. 2. Nach Sämtliche Werke, Band 20.1. Wien-Berlin 1928, S. 8-13]

Die Nachrichten, die bis zum heutigen Tage, d. h. bis zum 17. III. 1917, in Zürich aus Russland eingelaufen sind, sind so dürftig, die Ereignisse in unserem Lande aber überstürzen sich jetzt so sehr, dass man bei der Beurteilung der Lage die größte Vorsicht üben muss.

Nach den Telegrammen von gestern schien es, als hätte der Zar bereits abgedankt und die neue oktobristisch-kadettische Regierung bereits ein Übereinkommen mit anderen Vertretern der Dynastie Romanow getroffen. Heute liegt eine Nachricht aus England vor, wonach der Zar noch nicht abgedankt habe, und sein Aufenthaltsort unbekannt sei. Der Zar versucht also Widerstand zu leisten, eine Partei und vielleicht eine Armee der Restauration zu organisieren. Wenn es dem Zaren gelingt, aus Russland zu flüchten oder einen Teil der Truppen für sich zu gewinnen, so ist es nicht ausgeschlossen, dass er, um das Volk irrezuführen, ein Manifest erlassen wird über einen sofortigen Sonderfrieden mit Deutschland!

Bei einer solchen Lage der Dinge sind die Aufgaben des Proletariats ziemlich verwickelt. Es unterliegt keinem Zweifel, dass das Proletariat sich möglichst gut organisieren, seine Kräfte sammeln, sich bewaffnen und sein Bündnis mit allen Schichten der werktätigen Masse in Stadt und Land festigen und ausbauen muss, um der zaristischen Reaktion den entschiedensten Widerstand entgegenzusetzen und die Zaren-Monarchie endgültig niederzuwerfen.

Anderseits besteht die neue Regierung, die in Petersburg die Macht ergriffen, oder richtiger gesagt, dem Proletariat nach seinem siegreichen, heldenmütigen und blutigen Kampfe aus den Händen gerissen hat, aus liberalen Bourgeois und Grundbesitzern, in deren Kielwasser Kerenski segelt, der Vertreter der demokratischen Bauernschaft und vielleicht auch eines Teiles der Arbeiter, die den Lockrufen der Bourgeoisie gefolgt sind und den Internationalismus vergessen haben. Die neue Regierung besteht aus notorischen Anhängern und Verteidigern des imperialistischen Krieges mit Deutschland, d. h. des Krieges im Bunde mit den imperialistischen Regierungen Englands und Frankreichs, des Raubkrieges, dessen Ziel die Eroberung fremder Länder – Armeniens, Galiziens, Konstantinopels usw. ist.

Die neue Regierung kann den Völkern Russlands (wie auch den durch den Krieg mit Russland verbündeten Nationen) weder Frieden noch Brot noch volle Freiheit geben und deshalb muss die Arbeiterklasse ihren Kampf für Sozialismus und Frieden fortsetzen, sie muss die neue Situation dazu ausnützen und die breitesten Volksmassen darüber aufklären.

Die neue Regierung kann keinen Frieden bringen sowohl deswegen, weil sie die Kapitalisten und Grundbesitzer vertritt, als auch deswegen, weil sie durch Verträge und finanzielle Verpflichtungen an die Kapitalisten Englands und Frankreichs gebunden ist. Die Sozialdemokratie Russlands muss deshalb, wenn sie dem Internationalismus die Treue halten will, die Volksmassen, die den Frieden ersehnen, vor allem und in erster Linie darüber aufklären, dass der Friede unmöglich ist, solange die gegenwärtige Regierung am Ruder bleibt. Diese Regierung hat in ihrem ersten Manifest an das Volk (am 17. III.)2 kein Wort über den Frieden, diese wichtigste und brennendste Frage der Gegenwart, gesagt. Sie hält die Raubverträge geheim, die der Zarismus mit England, Frankreich, Italien, Japan usw. geschlossen hat. Die Regierung will dem Volke die Wahrheit über ihr Kriegsprogramm vorenthalten, die Wahrheit darüber, dass sie für den Krieg, für den Sieg über Deutschland ist. Sie ist nicht imstande das zu tun, was die Völker jetzt brauchen: unverzüglich und offen allen kriegführenden Ländern vorzuschlagen, sofort einen Waffenstillstand und dann einen Frieden auf der Grundlage der völligen Befreiung der Kolonien und aller abhängigen und nicht gleichberechtigten Nationen zu schließen. Das kann nur eine Arbeiterregierung verwirklichen im Bündnis 1. mit den Massen der armen ländlichen Bevölkerung und 2. mit den revolutionären Arbeitern aller kriegführenden Länder.

Die neue Regierung kann dem Volke kein Brot geben. Keine Freiheit aber vermag die Massen zufriedenzustellen, die Hunger leiden, weil es an Lebensmitteln fehlt, weil diese, soweit vorhanden, schlecht verteilt werden oder, was die Hauptsache ist, von den Grundbesitzern und Kapitalisten zurückgehalten werden. Damit das Volk Brot erhält, müssen revolutionäre Maßnahmen gegen die Großgrundbesitzer und Kapitalisten ergriffen werden, das aber kann nur eine Arbeiterregierung tun.

Die neue Regierung ist auch nicht imstande, dem Volke volle Freiheit zu geben, obwohl sie in ihrem Manifest vom 17. III. 1917 ausschließlich von politischer Freiheit spricht, ohne auch nur ein Wort über die übrigen, nicht weniger wichtigen Fragen zu sagen. Die neue Regierung hat bereits versucht, sich mit der Dynastie Romanow zu verständigen, sie hat sich unter Missachtung des Volkswillens bereit erklärt, die Dynastie Romanow anzuerkennen auf der Grundlage der Abdankung Nikolaus II. und Ernennung eines Regenten aus dem Hause Romanow3 für seinen Sohn. Die neue Regierung verheißt in ihrem Manifest alle möglichen Freiheiten, hütet sich aber, ihre direkte und unbedingte Pflicht zu erfüllen und diese Freiheiten sofort zu verwirklichen: sie hat den Soldaten nicht das Recht gegeben, ihre Offiziere zu wählen, sie hat keine Wahlen zu den Stadtdumas in Petersburg, in Moskau usw. auf der Grundlage eines wirklich allgemeinen und nicht nur Männerstimmrechtes ausgeschrieben, sie hat die staatlichen und öffentlichen Gebäude nicht für Volksversammlungen freigegeben, sie hat keine Wahlen zu den lokalen Körperschaften und Semstwos auf der Grundlage eines ebensolchen wirklich allgemeinen Wahlrechtes ausgeschrieben; sie hat die Beschränkungen der Rechte der lokalen Selbstverwaltungen nicht aufgehoben; sie hat die Beamten, die von oben zur Beaufsichtigung der lokalen Selbstverwaltungsorgane ernannt worden waren, nicht abgesetzt; sie hat neben der Freiheit der Konfessionen nicht die Freiheit der Religionslosigkeit durchgeführt, sie hat die Schule nicht von der Kirche getrennt und sie nicht von der bürokratischen Bevormundung befreit.

Gegenüber dem Manifest der neuen Regierung vom 17. März ist das größte Misstrauen geboten, denn es besteht nur aus Versprechungen. Keine einzige dringende Maßnahme, die sofort durchgeführt werden könnte und müsste, wird verwirklicht.

Die neue Regierung sagt in ihrem Programm kein Wort über den Achtstundentag und andere Maßnahmen zur Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der Arbeiterschaft, sie sagt kein Wort davon, dass den Bauern Land zugeteilt werden muss, dass der gesamte adlige Grundbesitz entschädigungslos an die Bauern übergeben werden muss. Das Verschweigen dieser brennenden Fragen enthüllt den Charakter der Regierung als einer Regierung der Kapitalisten und Grundbesitzer.

Frieden, Brot und volle Freiheit kann das Volk nur von einer Arbeiterregierung erhalten, die sich stützt 1. auf die erdrückende Mehrheit der bäuerlichen Bevölkerung, die Landarbeiter und die armen Bauern; 2. auf das Bündnis mit den revolutionären Arbeitern aller kriegführenden Länder.

Das revolutionäre Proletariat kann deshalb in der Revolution vom 1. (14.) III. nur den ersten, bei weitem noch nicht vollständigen Sieg in seinem gewaltigen Kampfe sehen. Das Proletariat muss seinen Kampf für die demokratische Republik und den Sozialismus weiterführen.

Zu diesem Zwecke muss das Proletariat und die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands vor allem die relative und unvollständige Freiheit ausnützen, die die neue Regierung gewährt und die nur durch weiteren energischen und hartnäckigen revolutionären Kampf gesichert und erweitert werden kann.

Es ist notwendig, dass die werktätigen Massen in Stadt und Land und die Soldaten die Wahrheit über die gegenwärtige Regierung und ihre wirkliche Stellung zu den brennenden Fragen erfahren. Es müssen Arbeiterdeputiertenräte organisiert und die Arbeiter bewaffnet werden. Die proletarischen Organisationen müssen in der Armee, der die neue Regierung ebenfalls politische Rechte verspricht, und auf dem Lande Fuß fassen; vor allem ist eine besondere Klassenorganisation der landwirtschaftlichen Lohnarbeiter erforderlich.

Der volle Sieg der nächsten Etappe der Revolution und die Eroberung der Macht durch eine Arbeiterregierung ist nur dann möglich, wenn die breitesten Massen der Bevölkerung über alles, was vor sich geht, informiert werden und wenn sie sich organisieren.

Die Partei des revolutionären Proletariats, die dem Internationalismus treu geblieben ist und sich von den verlogenen bürgerlichen Redensarten über die „Verteidigung des Vaterlandes" im gegenwärtigen imperialistischen Raubkrieg nicht hat einfangen lassen, muss ihre ideologische und organisatorische Selbständigkeit wahren, um diese Aufgabe erfüllen zu können, die heute in einer revolutionären Zeit und unter dem Einfluss der blutigen Lehren des Krieges dem Volke viel schneller einleuchtet als unter gewöhnlichen Umständen.

Weder die jetzige noch eine demokratisch-bürgerlich-republikanische Regierung, die nur aus Kerenski und anderen Narodniki und „marxistischen" Sozialpatrioten besteht, ist imstande, das Volk von dem imperialistischen Krieg zu erlösen und den Frieden herbeizuführen.

Deshalb dürfen wir uns auf keinerlei Blocks, Bündnisse oder auch nur Abmachungen für bestimmte Zwecke mit den Arbeiter-Oboronzy4 einlassen, weder mit der Richtung Gwosdew-Potressow, Tschchenkeli, Kerenski usw. noch mit Leuten, die wie Tschcheidse und andere in dieser wichtigsten Frage eine schwankende und unbestimmte Stellung einnehmen. Solche Abmachungen würden nicht nur die Massen irreführen und sie von der imperialistischen Bourgeoisie Russlands abhängig machen, sondern auch die führende Rolle des Proletariats in dem Kampf für die Befreiung des Volkes von imperialistischen Kriegen und für einen wirklich dauerhaften Frieden zwischen den Arbeiterregierungen aller Länder schwächen und untergraben.

1 Siehe den Brief an A. M. Kollontai vom 17. März 1917, in dem Lenin mitteilt, dass er zusammen mit G. Sinowjew Thesen ausarbeite, die eine Charakteristik der Situation enthalten und einen allgemeinen Umriss der nächsten Aufgaben der Bolschewistischen Partei geben sollen. Der Thesenentwurf fand sich im Archiv G. Sinowjews, der bei ihrer Abfassung mitgewirkt hat. Dieser Thesenentwurf kann als erste Skizze der Grundsätze der bolschewistischen Taktik in der Revolution von 1917 gelten.

2 Das Manifest des Provisorischen Vollzugsausschusses der Reichsduma „An die Bürger Russlands" teilte die Bildung der Provisorischen Regierung mit und verkündete folgendes Regierungsprogramm:

1. Vollständige und sofortige Amnestie für alle politischen und religiösen Strafsachen, darunter auch terroristische Attentate, Militärrevolten, Agrarunruhen usw.

2. Freiheit des Wortes, der Presse, der Vereine, der Versammlungen, der Streiks und Ausdehnung aller politischen Freiheiten auf die im Heeresdienst stehenden Personen in den Grenzen, die durch die kriegstechnischen Rücksichten geboten sind.

3. Abschaffung aller ständischen und nationalen Rechtseinschränkungen.

4. Sofortige Vorbereitung zur Einberufung einer Konstituierenden Nationalversammlung auf der Grundlage des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts. Diese Konstituante soll die Staatsform und die Verfassung des Landes bestimmen.

5. Bildung einer Volksmiliz mit gewählter Leitung, die den Organen der lokalen Selbstverwaltung unterstellt ist und an die Stelle der Polizei treten soll.

6. Wahlen zu den lokalen Selbstverwaltungsorganen auf der Grundlage des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts.

7. Die Truppenteile, die an der revolutionären Bewegung teilgenommen haben, werden nicht entwaffnet und bleiben in Petrograd.

8. Unter Aufrechterhaltung einer strengen militärischen Disziplin im Dienst, Beseitigung aller Bestimmungen, die die Soldaten daran hindern, die öffentlichen Rechte, die die übrigen Bürger besitzen, auszuüben."

3 Auf Vorschlag des Provisorischen Ausschusses der Reichsduma dankte Nikolaus II. zugunsten seines Bruders Michael Romanow ab. Der Duma-Ausschuss verhandelte mit diesem über seine Thronbesteigung, musste aber diesen Plan unter dem Druck der Petrograder Arbeiter und Soldaten fallen lassen. Michael Romanow verzichtete nunmehr gleichfalls auf den Thron und erklärte, dass er die Krone nur auf Vorschlag der Konstituante annehmen werde.

4 Oboronzy wurden die Anhänger der Vaterlandsverteidigung genannt. Die Red.

Kommentare