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Wladimir I. Lenin 19170316 Zwei Briefe an A. M. Kollontai

Wladimir I. Lenin: Zwei Briefe an A. M. Kollontai1

[Zum ersten Mal veröffentlicht 1924 im „Lenin-Sammelbuch" („Leninskij Sbornik") Nr. 2. Nach Sämtliche Werke, Band 20.1. Wien-Berlin 1928, S. 3-7]

I.

16. III. 1917.

Liebe A. M.! Soeben haben wir die zweiten amtlichen Telegramme über die Revolution in Petersburg vom 1. (14.) III. erhalten. Eine Woche blutiger Kämpfe der Arbeiter, und an der Macht sind Miljukow plus Gutschkow plus Kerenski!! Ganz nach der „alten" europäischen Schablone …

Sei's drum! Diese „erste Etappe der ersten (unter den durch den Krieg hervorgerufenen) Revolutionen" wird weder die letzte Etappe sein noch sich lediglich auf Russland beschränken. Natürlich werden wir auch weiterhin gegen die Vaterlandsverteidigung, gegen das imperialistische Gemetzel sein, das von den Schingarjow plus Kerenski u. Co. dirigiert wird.

Alle unsere Losungen bleiben dieselben. In der letzten Nummer des „Sozialdemokrat"2 haben wir ausdrücklich von der Möglichkeit einer Regierung „Miljukow-Gutschkow, wenn nicht gar Miljukow-Kerenski" gesprochen. Beides ist eingetroffen; wir haben sie jetzt alle drei. Sehr nett! Wir werden sehen, wie die Partei der Volksfreiheit (sie hat ja die Mehrheit in der neuen Regierung, ist doch Konowalow fast noch „linker", und Kerenski steht sogar noch weiter links!) dem Volke Freiheit, Brot und Frieden geben wird … Wir werden sehen!

Jetzt ist die Hauptsache – die Presse, die Organisierung der Arbeiter in der revolutionären sozialdemokratischen Partei. Tschchenkeli muss jetzt (er hat es doch versprochen!) Geld für die „Verteidigung des Vaterlandes" geben. Herr Tschcheidse aber verdient natürlich nach seiner ganzen „Politik", die er zusammen mit den Potressow und Konsorten, mit den Tschchenkeli usw. getrieben hat, nicht das geringste Vertrauen, trotz seiner erzlinken Reden während der Revolution bzw. an ihrem Vorabend (damals redete auch Jefremow nicht weniger revolutionär). Es wäre das größte Unglück, wenn die Kadetten jetzt die Legalisierung der Arbeiterpartei zusagten und wenn unsere Leute sich auf eine „Vereinigung" mit den Tschcheidse und Konsorten einließen."

Aber dazu wird es nicht kommen. Erstens werden die Kadetten nur eine Arbeiterpartei der Herren Potressow und Co. legalisieren; zweitens werden wir, wenn sie dies tun, wie bisher unsere eigene Partei bilden und unbedingt die legale Arbeit mit einer illegalen verbinden.

In keinem Falle wieder nach dem Muster der II. Internationale! In keinem Falle zusammen mit Kautsky! Unbedingt ein revolutionäres Programm und eine revolutionäre Taktik (Elemente dazu finden sich bei Karl Liebknecht, bei der Socialist Labour Party in Amerika3, bei den holländischen Marxisten4 usw.) und unbedingt eine Verbindung von legaler und illegaler Arbeit. Republikanische Propaganda, Kampf gegen den Imperialismus, nach wie vor revolutionäre Propaganda und Agitation und Kampf mit dem Ziel der proletarischen Weltrevolution und der Eroberung der Macht durch die „Arbeiterdeputiertenräte" (und nicht durch die kadettischen Gauner).

Nach der „great rebellion" von 1905 – die „glorious revolution" von 1917 …5

Seien Sie so gut und senden Sie diesen Brief an Ludmilla weiter; schreiben Sie mir ein paar Worte, inwieweit wir übereinstimmen, inwieweit wir auseinandergehen, was für Pläne A. M. hat usw. Wenn unsere Abgeordneten6 freikommen, so muss man einen von ihnen unbedingt auf ein paar Wochen nach Skandinavien kommen lassen.

Mit festem Händedruck

Ihr Lenin

II.

17. III. 1917.

Liebe A. M.! Soeben haben wir Ihr Telegramm bekommen. Es ist so gehalten, dass es fast wie Ironie klingt (wie soll man von hier aus „Direktiven" geben, wo doch die Nachrichten äußerst spärlich einlaufen, und in Petersburg wahrscheinlich nicht nur Genossen sind, die die faktische Leitung unserer Partei innehaben, sondern auch formell bevollmächtigte Vertreter des Zentralkomitees) .

Ich las eben das Telegramm der Petersburger Telegrafenagentur vom 17. über das Programm der neuen Regierung und die Erklärung Bonar Laws, dass der Zar noch nicht abgedankt habe, und dass man nicht wisse, wo er sich befindet.

Gestern schien es, als ob die Regierung Gutschkow-Miljukow bereits vollständig gesiegt und sich bereits mit der Dynastie verständigt habe, heute stehen die Dinge so, dass die Dynastie nicht mehr da ist, dass der Zar geflohen ist und offensichtlich die Gegenrevolution vorbereitet! …

Wir haben mit der Ausarbeitung von Thesen begonnen, die wir vielleicht heute Abend fertigstellen und Ihnen dann natürlich sofort schicken werden. Wenn es möglich ist, so warten Sie auf die Thesen, die das korrigieren (resp. aufheben), was ich Ihnen jetzt einstweilen nur in meinem Namen schreibe.

Ich habe jetzt zusammen mit Sinowjew einen ersten vorläufigen Thesenentwurf fertiggestellt, der in redaktioneller Hinsicht sehr ungenügend ist (wir werden ihn natürlich nicht in dieser Form veröffentlichen), der aber, hoffe ich, eine Vorstellung von dem gibt, was wesentlich ist.

Wir bitten sehr darum, dass Sie dies Jurij, Eugenie Bosch und auch Ludmilla zeigen und uns vor der Abreise wenigstens einige Worte schreiben – auch dass Sie unbedingt mit irgend jemand, der in Norwegen bleibt, eine Vereinbarung treffen über die Verbindung zwischen uns und den Genossen in Russland. Tun Sie das bitte, und bitten Sie diesen Genossen, der dort bleibt (es kann auch ein norwegischer Genosse sein, der des Deutschen, Französischen oder Englischen mächtig ist), äußerst pünktlich zu sein. Geld für die Kosten werden wir schicken.

Meiner Ansicht nach ist jetzt die Hauptsache, dass man sich nicht auf dumme „Einigungsversuche" mit den Sozialpatrioten (oder was noch gefährlicher ist, mit schwankenden Elementen in der Art des Organisationskomitees7 oder Trotzkis und Co.) einlässt und dass die Tätigkeit unserer Partei in einem folgerichtig internationalen Geist fortgesetzt wird.

Auf der Tagesordnung steht jetzt die Ausdehnung des Arbeitsfeldes der Partei, die Organisierung der Massen, die Heranziehung neuer Schichten, der rückständigen, der ländlichen, der Dienstboten, die Bildung von Zellen in der Armee zur systematischen, umfassenden Entlarvung der neuen Regierung und zur Vorbereitung der Eroberung der Macht durch die Arbeiterdeputiertenräte. Nur eine solche Macht kann Brot, Friederf und Freiheit bringen.

Jetzt heißt es der Reaktion den Rest geben, nicht das geringste Vertrauen, nicht die geringste Unterstützung der neuen Regierung (nicht das geringste Vertrauen für Kerenski, Gwosdew, Tschchenkeli, Tschcheidse und Co.) und bewaffnetes Abwarten , bewaffnete Vorbereitung einer breiteren Basis für eine höhere Etappe.

Falls Pressfreiheit, soll man unsere hiesigen Sachen (als Materialien zur Geschichte der jüngsten Vergangenheit) neu herausgeben und uns telegraphisch mitteilen, ob wir von hier aus dadurch helfen können, dass wir über Skandinavien Beiträge schicken. Wir fürchten, dass es uns nicht sobald gelingen wird, aus der verfluchten Schweiz herauszukommen.

Mit festem Händedruck

Ihr Lenin

Ich wünsche Ihnen jeden Erfolg!

P. S. Ich fürchte, dass man in Petrograd jetzt der allgemeinen Krankheit unterliegen wird, dass man sich „einfach" begeistert, ohne systematisch daran zu arbeiten, eine Partei von neuem Typus und keinesfalls nach dem Muster der II. Internationale zu schaffen. Heran an die Massen! Neue Schichten mobilisieren! Überall neue Initiative wecken, neue Organisationen in allen Schichten schaffen und ihnen beweisen, dass nur der bewaffnete Arbeiterdeputiertenrat, indem er die Macht ergreift, den Frieden bringen kann.

1 Die beiden Briefe Lenins an A. M. Kollontai sind seine erste Äußerung zu den telegraphischen Meldungen über die Februarrevolution in Russland. Die Briefe sind von Lenin am 16. und 17. März aus Zürich geschrieben worden.

2 „Sozialdemokrat" hieß das Zentralorgan der Bolschewiki, das in Genf (in russischer Sprache) erschien. In der Nummer 58, die am 31. Januar 1917 herausgegeben wurde, hatte Lenin in einem Artikel unter der Überschrift „Ein Wendepunkt in der Weltpolitik" folgendes über die Möglichkeiten eines Sonderfriedens zwischen dem zaristischen Russland und dem wilhelminischen Deutschland geschrieben: „Der Zar konnte Wilhelm gesagt haben: Wenn ich offen einen Sonderfrieden unterzeichne, so wirst Du, mein allerhöchster Partner, es morgen mit einer Regierung Miljukow-Gutschkow, wenn nicht gar Miljukow-Kerenski zu tun haben. Denn die Revolution reift heran und ich bin der Armee nicht sicher, ihre Generale stehen in brieflicher Verbindung mit Gutschkow, und ihre Offiziere, das sind heute meistens Gymnasiasten von gestern"

3 Die Amerikanische Sozialistische Arbeiterpartei (American Socialist Labor Party) neigte damals zum Internationalismus.

4 Die holländischen Marxisten – die linken holländischen Sozialisten; gruppierten sich um das 1907 gegründete linksradikale Wochenblatt „De Tribune" (daher auch „Tribunisten" genannt), 1909 wurden sie aus der offiziellen sozialistischen Partei Hollands ausgeschlossen. Während des Krieges trieb diese Gruppe eine energische antiimperialistische Agitation und arbeitete an der von Lenin und Radek in der Schweiz in deutscher Sprache herausgegebenen Zeitschrift „Vorbote" mit; bei der Gründung der Kommunistischen Internationale schloss sie sich dieser an. Zu dieser Gruppe gehörten Pannekoek, Gorter, Wynkoop, Ravesteyn und andere.

5 Great Rebellion" – der „große Aufruhr" – so nennen die bürgerlichen englischen Historiker die große englische Revolution von 1640–1660 zum Unterschied von der „glorious revolution" – der „glorreichen Revolution von 1688, durch die König Jakob II. verjagt und Wilhelm von Oranien, bis dahin Statthalter der Niederlande, auf den englischen Thron erhoben wurde. Die Red.

6 Es handelt sich um die bolschewistischen Abgeordneten der 4. Reichsduma: Petrowski, Muranow, Badajew, Samojlow und Schagow, denen zusammen mit Kamenew, dem Leiter der Dumafraktion, von der zaristischen Justiz der Prozess gemacht wurde. Sie wurden vom Gericht zur Verbannung nach Sibirien verurteilt. Die meisten von ihnen kehrten im März 1917 nach Petrograd zurück.

7 Organisationskomitee der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands nannte sich das leitende Organ der Menschewiki, das auf der „August“konferenz 1912 geschaffen wurde und bis zur Wahl des ZK der Menschewistischen Partei im Jahre 1917 funktionierte.

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