Lenin‎ > ‎1917‎ > ‎

Wladimir I. Lenin 19170602 Über die „eigenmächtige Besitzergreifung" des Bodens

Wladimir I. Lenin: Über die „eigenmächtige Besitzergreifung" des Bodens

Schlechte Argumente der „Sozialrevolutionäre"

[„Prawda" Nr. 62, 2. Juni (20. Mai) 1917 gez. N. Lenin. Nach Sämtliche Werke, Band 20.1, Wien-Berlin 1928, S. 524-528]

In Nummer 10 der „Iswestija des Allrussischen Rates der Bauerndeputierten" vom 19. Mai ist ein Referat S. Maslows mit einer Betrachtung über die „Besitzergreifung des Bodens" abgedruckt.

In verschiedenen Gegenden“ – sagte S. Maslow – „ist die Bauernschaft bestrebt, ihr Recht auf Land durch eigenmächtige Besitzergreifung der benachbarten gutsherrlichen Ländereien zu verwirklichen. Es entsteht die Frage, inwieweit das zweckmäßig ist."1

S. Maslow hält das für unzweckmäßig und führt vier Argumente an. Prüfen wir sie aufmerksam.

Das erste Argument. Die Bodenreserven sind in Russland nach Provinzen und Gouvernements ungleichmäßig verteilt. Auf diese unbestrittene Tatsache hinweisend, sagt Maslow:

Es ist unschwer, sich vorzustellen, welche Komplikationen sich für eine richtige Lösung der Agrarfrage ergeben werden, wenn jedes Gouvernement oder jede Provinz lediglich auf den eigenen Boden Anspruch erhebt und ihn für sich aneignet. Das ist unschwer vorauszusehen, wenn einzelne Bauerndörfer sich den Boden der benachbarten Gutsbesitzer aneignen und die andern Bauern ohne Land lassen."

Diese Betrachtungsweise steht in offenbarem, himmelschreiendem Widerspruch zur Wahrheit. Sie trifft diejenigen, denen es eingefallen wäre, den Bauern zu raten, das Land in unorganisierter Weise als Eigentum an sich zu reißen. An sich reißen, aufteilen – und fertig!

Das wäre wirklich der Gipfel des Anarchismus, der Gipfel der Sinnlosigkeit.

Wer einen solchen Unsinn vorgeschlagen hat, welche Partei, wissen wir nicht. Wenn S. Maslow das im Auge hatte, so kämpft er gegen Windmühlen. Das ist lächerlich.

Unsere Partei, die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands (Bolschewiki), hat in einer genau formulierten Resolution vorgeschlagen, dass das Eigentum am Grund und Boden in die Hände des ganzen Volkes übergehen solle. Folglich lehnen wir jede Aneignung des Landes als Eigentum ab.

Aber es handelt sich nicht darum, und S. Maslow hat sich selbst verraten, als er das Wichtigste und Wesentlichste erwähnte: die Besitzergreifung der gutsherrlichen Ländereien. Das ist das Wesentliche. Hier ist der springende Punkt. Um diese Frage geht Maslow herum, wie die Katze um den heißen Brei.

Die gutsherrlichen Ländereien müssen sofort beschlagnahmt werden, d. h. das Eigentum an diesen Ländereien muss sofort, und zwar entschädigungslos aufgehoben werden.

Wie steht es aber mit dem Besitz dieser Ländereien? Wer soll sie sofort in Besitz nehmen, sie bestellen? Die ortsansässigen Bauern, und zwar in organisierter Weise, d. h. nach dem Beschluss der Mehrheit. Das ist der Rat, den unsere Partei erteilt. Die gutsherrlichen Ländereien sind sofort den ortsansässigen Bauern in Besitz zu geben, sie bleiben aber Eigentum des Volkes. Das endgültige Besitzrecht wird von der Konstituierenden Versammlung (oder vom Allrussischen Rat der Räte, wenn das Volk ihn zur Konstituierenden Versammlung macht) festgelegt werden.

Was hat also damit die Ungleichmäßigkeit der Landreserven in den verschiedenen Gebieten zu tun? Es ist klar, dass sie gar nichts damit zu tun hat. Diese Ungleichmäßigkeit wird sowieso bis zur Konstituierenden Versammlung bleiben, bei allen Plänen, dem der Gutsbesitzer, dem Plan S. Maslows und auch bei unserem.

S. Maslow hat nur die Aufmerksamkeit der Bauern von der Sache abgelenkt. Er hat das Wesen der Dinge durch leere Worte, die nichts mit der Sache zu tun haben, verdunkelt.

Dieses Wesen der Dinge ist die Frage der gutsherrlichen Ländereien. Die Gutsbesitzer wollen sie behalten. Wir wollen sie sofort, ohne Entschädigung, ohne jede Bezahlung, den Bauern übergeben. Maslow will eine Verzögerung durch „Schlichtungskammern".

Das ist schädlich. Verzögerungen sind schädlich. Die Gutsbesitzer müssen sich sofort dem Willen der Mehrheit der Bauern fügen, aber keine „Schlichtung" zwischen der Mehrheit (Bauern) und der Minderheit (Gutsbesitzer). Eine solche Schlichtung wäre eine ungesetzliche, ungerechte, undemokratische Begünstigung der Gutsbesitzer.

Das zweite Argument S. Maslows:

Die Bauern drängen nach der Ergreifung des Landes, weil sie hoffen, dass, wenn es ihnen gelingt, ein Stück Boden zu bestellen, sie es auch behalten werden. Dazu sind aber nur jene Bauernhöfe fähig, die über Arbeitskräfte und Pferde in genügender Zahl verfügen. Die Familien ohne Pferde, die Familien, die einen großen Teil ihrer Arbeitskraft der Armee abgegeben haben, werden nicht imstande sein, die Methode der Ergreifung des Landes auszunutzen, um sich Land zu sichern. Es ist darum klar, dass diese Methode vorteilhaft sein kann für die stärkeren und sogar für die an Land reicheren Bauern, nicht aber für diejenigen, die am dringendsten Land brauchen."

Dieses Argument ist wiederum eine himmelschreiende Unwahrheit. S. Maslow lenkt die Aufmerksamkeit der Bauern wiederum vom Kern der Frage, von der Frage der gutsherrlichen Ländereien ab. Denn wenn die Bauern die gutsherrlichen Ländereien nicht „eigenmächtig" (d. h. ohne Bezahlung, wie wir vorschlagen) an sich reißen, sondern sie in Pacht, d. h. gegen Bezahlung (wie die Gutsbesitzer und S. Maslow vorschlagen) bekommen – wird sich damit etwas ändern? Sind etwa für die Bestellung der von den Gutsbesitzern gepachteten Ländereien nicht auch Pferde und Arbeitskräfte notwendig? Können denn Familien, die ihre Arbeitskräfte an das Heer abgegeben haben, in gleicher Weise Land pachten, wie Familien mit zahlreichen Arbeitskräften?

Der ganze Unterschied zwischen unserer Partei, den Bolschewiki, und Maslow besteht in diesem Punkt darin, dass er vorschlägt, von den Gutsbesitzern den Boden gegen Bezahlung und auf Grund einer „schiedlich-friedlichen" Verständigung zu nehmen, während wir vorschlagen, den Boden sofort und entschädigungslos zu nehmen.

Die Frage der Reichen innerhalb der Bauernschaft hat damit nichts zu tun. Ja, noch mehr: ohne Bezahlung ist für die Armen vorteilhafter, gegen Bezahlung ist für die Reichen leichter.

Welche Maßnahmen sind möglich und notwendig, damit der reiche Bauer den armen nicht benachteiligt?

1. Ein Mehrheitsbeschluss (es gibt mehr arme als reiche Bauern). Das eben schlagen wir vor;

2. eine besondere Organisation der ärmsten Bauern, damit sie ihre besonderen Interessen gesondert behandeln. Das eben schlagen wir vor;

3. die gemeinsame Bestellung der gutsherrlichen Ländereien mit gemeinsamem Vieh, gemeinsamen Geräten unter Leitung der Räte der Landarbeiterdeputierten. Das eben schlagen wir vor.

Gerade für die letzten beiden Maßnahmen, die die wichtigsten sind, setzt sich die Partei der „Sozialrevolutionäre" nicht ein. Das ist sehr bedauerlich.

Das dritte Argument:

In der ersten Zeit, in den ersten Tagen der Revolution, als in der Armee unter den Soldaten sich das Gerücht verbreitete, dass in der Heimat das Land aufgeteilt werde, sind viele, aus Furcht benachteiligt zu werden, nach Hause geeilt, so dass die Zahl der Deserteure gestiegen ist."

Dieses Argument würde treffen die sofortige Verteilung des Bodens als Eigentum. Das hat niemand vorgeschlagen. S. Maslow schießt wiederum am Ziel vorbei.

Das vierte Argument:

Schließlich bringt die eigenmächtige Besitzergreifung des Bodens die Gefahr des Rückganges der Anbaufläche mit sich. Es sind Fälle bekannt, wo Bauern, die sich gutsherrlicher Ländereien bemächtigt haben, sie schlecht bestellen, sei es, dass sie zu dünn säen, oder ihre eigenen Ländereien unbestellt lassen. Jetzt, wo unser Land so dringend Nahrungsmittel braucht, ist eine solche Lage entschieden unzulässig."

Nun, das ist schon ein ganz schlechtes Argument, über das man nur lachen kann! Daraus würde folgen, dass, wenn man die gutsherrlichen Ländereien gegen Bezahlung nimmt, sie besser bestellt werden!!

Blamieren Sie sich nicht, lieber Bürger S. Maslow, mit solchen Argumenten!

Wenn die Bauern die Felder schlecht bestellen, so muss man den Bauern helfen, und zwar gerade den ärmsten, durch den Übergang zur gemeinsamen Bearbeitung der großen Guter. Ein anderes Mittel, der Dorfarmut zu helfen, gibt es nicht. Und gerade dieses Mittel empfiehlt S. Maslow leider nicht

Die Gerechtigkeit verlangt, dass man hinzufügt, dass S. Maslow offenbar selbst die Schwäche seiner Argumente empfunden hat, denn gleich nach dem Gesagten fügte er hinzu:

Jetzt nach dem Gesagten, fühle ich, dass manche von euch widersprechen werden, sie werden sagen: Wie, man empfiehlt uns, alles beim alten zu lassen wo wir doch unter den Gutsbesitzern so stark gelitten haben? Ich nehme es nicht auf mich, euch irgend etwas vorzuschlagen."

Das ist es eben! Bei S. Maslow sieht es so aus, als wollte er alles beim alten lassen (obwohl er das nicht will). Folglich waren die Argumente sehr schlecht.

Die Bauern müssen selber entscheiden. Vorschläge machen müssen die Parteien. Unsere Partei schlägt vor, was ich oben gesagt habe, und was ausführlich und genau in unseren Resolutionen2 dargelegt ist (Beilage zu Nr. 13 der „Soldatskaja Prawda", Preis 5 Kopeken).

1 In derselben Nummer sind die Thesen des Referats von S. L. Maslow auf dem 1. Bauernkongress abgedruckt, sie lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Alles Land wird Gemeinbesitz des Volkes mit Nutzungsrecht für die arbeitende Bevölkerung. Die endgültige Entscheidung trifft die Konstituierende Versammlung. Jegliche Grundstücksgeschäfte werden sofort eingestellt. Jede eigenmächtige Besitzergreifung des Bodens muss strengstens verboten werden. Die Landkomitees und die Schlichtungskommissionen haben die Bodenstreitigkeiten zwischen den Gutsbesitzern und den Bauern zu entscheiden, die Pachtverhältnisse zu regeln, darauf zu achten, dass das Verbot des Erwerbs und der Veräußerung von Land sowie das der eigenmächtigen Besitzergreifung eingehalten wird, und die Ausdehnung der Anbaufläche zu fördern. Die Landkomitees sind Regierungsorgane, an denen Vertreter der Räte der Bauerndeputierten unbedingt mitzuwirken haben.

2 Die Resolution der Aprilkonferenz der Bolschewiki zur Agrarfrage forderte die sofortige und vollständige Konfiskation aller gutsherrlichen, privaten, kirchlichen und Apanageländereien und empfahl den Bauern, von dem Boden sofort Besitz zu ergreifen zwecks späterer Nationalisierung des gesamten Bodens.

Kommentare