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Wladimir I. Lenin 19170517 Wie dem Volke mit dem Bürgerschreck Angst gemacht wird

Wladimir I. Lenin: Wie dem Volke mit dem Bürgerschreck Angst gemacht wird

[„Prawda" Nr. 48, 17. (4.) Mai 1917. Nach Sämtliche Werke, Band 20.1, Wien-Berlin 1928, S. 423-438-641]

Die kapitalistischen Zeitungen, die „Rjetsch" an der Spitze, tun ihr möglichstes, um dem Volke mit dem Gespenst der „Anarchie" Angst einzujagen. Es vergeht kein Tag, ohne dass die „Rjetsch" über Anarchie zetert, ohne dass sie Nachrichten und Gerüchte über ganz belanglose Einzelfälle von Ordnungsstörungen maßlos übertreibt und dem Volk mit dem Gespenst des erschreckten Bourgeois Angst zu machen versucht.

In das Geschrei der „Rjetsch" und der übrigen kapitalistischen Zeitungen stimmen auch die Zeitungen der Narodniki (auch der Sozialrevolutionäre) und der Menschewiki, die sich haben einschüchtern lassen, ein. Die „Iswestija" des Arbeiter- und Soldatendeputiertenrates, dessen Führer augenblicklich diesen Parteien angehören, stellen sich in ihrem heutigen Leitartikel endgültig auf die Seite derjenigen, die mit dem Bürgerschreck Geschäfte machen wollen, indem sie sich zu folgender – gelinde gesprochen – offenkundig übertriebenen Erklärung versteigen.

Die Armee zersetzt sich. Stellenweise kommt es zur regellosen Aneignung des Bodens, zur Vernichtung und Entwendung von Vieh und Inventar. Das eigenmächtige Vorgehen nimmt zu…"

Eigenmächtiges Vorgehen nennen es die Narodniki und Menschewiki, d. h. die Parteien des Kleinbürgertums u. a. wenn die Bauern sich örtlich den gesamten Boden aneignen, ohne die Konstituante abzuwarten. Eben diesen Popanz („eigenmächtiges Vorgehen") hat bekanntlich Minister Schingarjow in seinem berühmten Telegramm, das seinerzeit die Runde durch die Presse machte, aufgebracht (siehe „Prawda", Nr. 33).

Eigenmächtiges Vorgehen, Anarchie… was für schreckliche Worte! Der Narodnik oder Menschewik, der denken will, möge doch ein wenig über folgende Frage nachdenken:

Vor der Revolution gehörte das Land den Gutsbesitzern. Das nannte man nicht Anarchie. Und wozu hat das geführt? Zum Zusammenbruch auf der ganzen Linie, zur „Anarchie" im wahrsten Sinne des Wortes, d. h. zum völligen Ruin des Landes, zum Ruin und Verderb der Mehrheit der Bevölkerung.

Ist hier ein anderer Ausweg denkbar, als der größte Aufwand an Energie, Initiative, Entschlossenheit der Mehrheit der Bevölkerung? Selbstverständlich nicht.

Was ist die Schlussfolgerung?

1. Die Anhänger des Zaren sind dafür, dass die Gutsbesitzer auf dem Lande die Alleinherrschaft ausüben und dass ihnen ihr gesamter Grundbesitz belassen wird. Die daraus entstehende wirkliche „Anarchie" fürchten sie nicht.

2. Der Kadett Schingarjow, als Vertreter aller Kapitalisten und Gutsbesitzer (mit Ausnahme einer Handvoll Zaristen) ist für „landwirtschaftliche Schiedsgerichtskammern bei den Wolost-Lebensmittelkomitees zwecks freiwilliger Vereinbarungen zwischen den Ackerbauern und Gutsbesitzern" (siehe sein Telegramm). Die kleinbürgerlichen Politiker, die Narodniki und Menschewiki, leisten in Wirklichkeit Schingarjow Gefolgschaft, indem sie den Bauern anraten, die Konstituante „abzuwarten", und es als „Anarchie" bezeichnen, wenn die Bauern selbst sofort den Grund und Boden örtlich mit Beschlag belegen.

3. Die Partei des Proletariats (Bolschewiki) tritt für die sofortige örtliche Besitzergreifung des Bodens durch die Bauern ein, wobei sie größtmögliches organisiertes Vorgehen empfiehlt. Wir sehen darin keine „Anarchie"; denn gerade eine solche Lösung und nur eine solche Lösung ist eine Lösung nach dem Willen der Mehrheit der Bevölkerung.

Seit wann nennt man einen Mehrheitsbeschluss „Anarchie"?? Ist es nicht viel richtiger, den Minderheitsbeschluss, der in verschiedenen Formen sowohl von den Zaristen als auch von Schingarjow vorgeschlagen wird, als Anarchie zu bezeichnen?

Denn wenn Schingarjow die Bauern zwingen will, sich „freiwillig" mit den Gutsbesitzern zu „verständigen", so ist das ein Beschluss nach dem Willen der Minderheit, da auf 300 Bauernfamilien in Russland durchschnittlich eine Großgrundbesitzerfamilie kommt. Wenn ich den 300 Familien vorschlage, sich „freiwillig" mit einer Familie eines Großausbeuters zu „verständigen", so schlage ich eine Lösung zugunsten der Minderheit, eine anarchistische Lösung vor.

Ihr Herren Kapitalisten verhüllt mit dem Geschrei über „Anarchie" den Schutz der Interessen eines einzigen gegen die von dreihundert. Das ist der springende Punkt.

Man könnte einwenden: aber ihr wollt ja die Frage durch die örtliche Bevölkerung allein entscheiden lassen, ohne die Konstituante abzuwarten. Darin eben besteht die Anarchie!

Wir antworten: und was will Schingarjow? Doch auch die Frage durch die örtliche Bevölkerung entscheiden lassen (durch eine „freiwillige Vereinbarung" zwischen Bauern und Gutsbesitzern), gleichfalls ohne die Konstituante abzuwarten!

In diesem Punkte unterscheiden wir uns nicht von Schingarjow wir sind beide für die endgültige Lösung durch die Konstituierende Versammlung und für die vorläufige Lösung – und ihre Verwirklichung – durch die örtliche Bevölkerung. Der Unterschied zwischen Schingarjow und uns ist nur der, dass wir sagen: die dreihundert sollen entscheiden, der eine hat sich zu fügen. Schingarjow aber sagt: wenn die dreihundert entscheiden werden, so ist das „eigenmächtiges Vorgehen", die dreihundert sollen sich mit dem einen „verständigen".

Wie tief müssen die Narodniki und Menschewiki gesunken sein, um den Schingarjow u. Co. den bürgerlichen Popanz verbreiten zu helfen.

Angst vor dem Volke ist es, was diese Führer veranlasst, Schreckgespenster an die Wand zu malen.

Man braucht das Volk nicht zu fürchten. Die Entscheidung der Mehrheit der Arbeiter und Bauern ist keine Anarchie.

Eine solche Entscheidung ist die einzig mögliche Bürgschaft für die Demokratie überhaupt und im besonderen dafür, dass mit Erfolg Maßnahmen getroffen werden, um die wirtschaftliche Zerrüttung zu beseitigen.

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