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Wladimir I. Lenin 19170131 Eine Wendung in der Weltpolitik

Wladimir I. Lenin: Eine Wendung in der Weltpolitik

[Sozialdemokrat Nr. 58 vom 18./31. Januar 1917. Nach Sämtliche Werke, Band 19, 1930, S. 481-491]

Die Pazifisten gehen gleichsam in Feiertagsstimmung herum. Die tugendhaften Bourgeois der neutralen Länder frohlocken: „Wir haben durch Kriegsgewinne und Teuerung unser Schäfchen ins Trockene gebracht; wäre es jetzt nicht genug? Noch mehr Gewinne werden wir ohnehin kaum einstecken können, dem Volk aber kann schließlich doch die Geduld reißen.“

Wie sollten sie nicht frohlocken, wenn Wilson „höchstselbst“ die pazifistische Erklärung der italienischen sozialistischen Partei „paraphrasiert“, derselben Partei, die soeben in Kienthal die offizielle und feierliche Resolution über den vollen Bankrott des Sozialpazifismus angenommen hat?

Ist es verwunderlich, dass Turati im „Avanti!1 ob dieser Paraphrasierung ihrer, italienischer „auch-sozialistischer“ pazifistischer Phrasen durch Wilson triumphiert? Ist es verwunderlich, dass die französischen Sozialpazifisten und Kautskyaner sich in ihrem „Le Populaire“ liebevoll mit Turati und mit Kautsky „vereinigen“, der in der deutschen sozialdemokratischen Presse mit fünf besonders dummen pazifistischen Artikeln2 hervorgetreten ist, in denen natürlich ebenfalls das durch die Ereignisse auf die Tagesordnung gestellte Geschwätz von einem honetten demokratischen Frieden „paraphrasiert“ wird.

Und dieses Geschwätz unterscheidet sich jetzt tatsächlich von dem früheren eben dadurch, dass es eine gewisse objektive Grundlage hat. Diese Grundlage ist geschaffen durch die Wendung in der Weltpolitik vom imperialistischen Krieg, der den Völkern das größte Elend und den größten Verrat am Sozialismus durch die Herren Plechanow, Albert Thomas, Legien, Scheidemann u. a. beschert hat, zum imperialistischen Frieden, der die Völker mit dem größten Betrug durch schöne Phrasen, halbe Reformen, halbe Zugeständnisse usw. zu belohnen hat.

Diese Wendung ist eingetreten.

Man kann im gegenwärtigen Zeitpunkt nicht wissen – und die Führer der imperialistischen Politik, die Finanzkönige und die gekrönten Räuber selbst sind nicht in der Lage, es mit Genauigkeit anzugeben –, wann dieser imperialistische Frieden kommen wird, welche Veränderungen der Krieg bis dahin erfahren wird, wie die Einzelheiten dieses Friedens sein werden. Das ist aber auch nicht wichtig. Wichtig ist die Tatsache der Wendung zum Frieden, wichtig ist der Grundcharakter dieses Friedens, diese zwei Umstände aber sind durch die vorhergehende Entwicklung der Ereignisse bereits genügend klargelegt.

In den 29 Kriegsmonaten hat es sich genügend klar gezeigt, über welche Hilfsquellen beide Koalitionen verfügen; alle oder fast alle in Betracht kommenden Bundesgenossen aus der Zahl der nächsten „Nachbarn“, die eine ernstliche Macht darstellen, sind in das Gemetzel hineingezogen, die Kräfte der Armeen und Flotten sind geprüft und überprüft, gemessen und wieder neu gemessen worden. Das Finanzkapital hat Milliardengewinne eingesteckt: der Berg der Kriegsschulden zeigt den Umfang des Tributes, den das Proletariat und die besitzlosen Klassen jetzt Jahrzehnte hindurch der internationalen Bourgeoisie dafür zu zahlen „haben“, dass sie ihnen gnädigst gestattet hat, Millionen ihrer Brüder, Lohnsklaven wie sie, in einem Krieg um die Teilung der imperialistischen Beute zu morden.

Mit Hilfe des jetzigen Krieges den Arbeitstieren der Lohnsklaverei das Fell noch weiter über die Ohren zu ziehen, das geht wohl nicht mehr, – darin liegt eine der tiefsten ökonomischen Ursachen der jetzt zu beobachtenden Wendung in der Weltpolitik. Es geht nicht mehr, weil die Hilfsquellen überhaupt zur Neige gehen. Die amerikanischen Milliardäre und ihre jüngeren Brüder in Holland, in der Schweiz, in Dänemark und den übrigen neutralen Ländern fangen an zu merken, dass die Goldquelle am Versiegen ist, und das ist die Ursache für das Anwachsen des neutralen Pazifismus, nicht aber edle menschliche Gefühle, wie die naiven, erbärmlichen, lächerlichen Turati, Kautsky und Co. glauben.

Dazu kommt noch die wachsende Unzufriedenheit und Empörung der Massen. Wir haben in der vorhergehenden Nummer Äußerungen von Gutschkow und Helfferich3 angeführt, die beweisen, dass sie beide eine Revolution befürchten. Wäre es nicht an der Zeit, dem ersten imperialistischen Gemetzel ein Ende zu machen?

Die objektiven Bedingungen, die zur Einstellung des Krieges zwingen, werden also ergänzt durch die Einwirkung des Klasseninstinktes und der Klassenberechnung der mit Kriegsgewinnen übersättigten Bourgeoisie.

Der politische Umschwung auf dem Boden dieses ökonomischen Umschwunges hat zwei Hauptrichtungen eingeschlagen: das siegreiche Deutschland spaltet von England, seinem Hauptfeind, dessen Verbündete ab, und zwar unter Ausnutzung einerseits des Umstandes, dass nicht England, sondern gerade dessen Verbündeten die schwersten Schläge zugefügt worden sind (und noch zugefügt werden können), andererseits der Tatsache, dass der deutsche Imperialismus, der bereits ungeheuer viel erbeutet hat, in der Lage ist, Englands Verbündeten halbe Zugeständnisse zu machen.

Es ist möglich, dass der Sonderfriede zwischen Deutschland und Russland doch abgeschlossen worden ist. Nur die Form des politischen Paktes zwischen diesen beiden Räubern kann geändert worden sein. Der Zar könnte zu Wilhelm gesagt haben: „Wenn ich den Separatfrieden offen unterzeichne, so wirst du, mein durchlauchtigster Vertragspartner, es morgen mit einer Regierung Gutschkow-Miljukow oder gar Miljukow-Kerenski zu tun haben. Denn die Revolution ist im Wachsen, und ich garantiere nicht für die Armee, mit deren Generalen Gutschkow korrespondiert und deren Offiziere jetzt zum größten Teil Gymnasiasten von gestern sind. Hat es einen Sinn, zu riskieren, dass ich meinen Thron verliere und du einen guten Vertragspartner?“

Das hat natürlich keinen Sinn“, müsste Wilhelm darauf geantwortet haben, wenn ihm direkt oder indirekt Ähnliches gesagt wurde. „Und wozu brauchen wir denn überhaupt einen offenen Sonderfrieden oder überhaupt einen, der zu Papier gebracht ist? Kann man dasselbe nicht auf andere, diskretere Weise erreichen? Ich werde mich offen an die ganze Menschheit mit dem Vorschlag wenden, sie mit den Segnungen des Friedens zu beglücken. Den Franzosen werde ich einen Wink geben, dass ich bereit bin, ganz oder fast ganz Frankreich und Belgien zurückzuerstatten, wenn sie mir etwas von ihren Kolonien in Afrika abtreten; den Italienern werde ich zuflüstern, dass sie auf ein „Stückchen“ italienischen Bodens in Österreich und auf einige Stückchen auf dem Balkan rechnen können. Ich bin in der Lage zu erreichen, dass meine Vorschläge und Pläne den Völkern bekannt werden; werden dann die Engländer ihre westeuropäischen Verbündeten noch länger bei der Stange halten können? Wir beide aber werden Rumänien, Galizien, Armenien miteinander teilen, Konstantinopel aber wirst du, mein durchlauchtigster Bruder, trotzdem nicht zu sehen bekommen! Polen wirst du, mein durchlauchtigster Bruder, nicht zu sehen bekommen!“

Ob eine solche Unterredung stattgefunden hat, lässt sich schwer sagen. Das ist aber auch nicht wichtig. Wichtig ist, dass die Dinge sich gerade so entwickeln. Wenn der Zar mit den Argumenten der deutschen Diplomaten nicht einverstanden war, so mussten die „Argumente“ der Armee Mackensens in Rumänien etwas überzeugender wirken.

Von dem Plan der Aufteilung Rumäniens zwischen Russland und dem „Vierbund“ (d. h. den Verbündeten Deutschlands, Österreich und Bulgarien) wird in der deutschen imperialistischen Presse bereits offen gesprochen! Auch der schwatzhafte Hervé plaudert schon aus der Schule: wir werden das Volk nicht bewegen können, weiter Krieg zu führen, wenn es erfährt, dass wir jetzt sofort Belgien und Frankreich zurückbekommen können. Und die pazifistischen Hanswurste der neutralen Bourgeoisie sind bereits „am Werk“: Wilhelm hat ihnen die Zunge gelöst! Die pazifistischen … Weisen unter den Sozialisten aber, Turati in Italien, Kautsky in Deutschland usw. usf., geben sich die erdenklichste Mühe, setzen ihre Humanität, ihre Menschenliebe, ihre überirdische Tugend (und ihren großen Verstand) ein, um den kommenden imperialistischen Frieden zu beschönigen!

Wie herrlich ist überhaupt alles auf dieser besten aller Welten eingerichtet! Wir, die Finanzkönige und gekrönten Räuber, haben uns in imperialistische Raubpolitik verstrickt, wir mussten Krieg führen – nun, was ist weiter dabei? Wir verdienen am Kriege nicht schlechter als am Frieden, sogar noch viel besser! Und an Lakaien, die unseren Krieg zu einem „Befreiungskrieg“ proklamieren, an allen diesen Plechanow, Albert Thomas, Legien, Scheidemann und Co. haben wir, so viel wir nur brauchen! Es ist an der Zeit, einen imperialistischen Frieden zu schließen? Nun, was ist weiter dabei? Kriegsschulden sind ja schon Verpflichtungen, die uns das heilige Recht garantieren, von den Völkern einen hundertfachen Tribut zu erheben? Und Einfaltspinsel, die diesen imperialistischen Frieden beschönigen, die die Völker mit sanften Reden hinters Licht führen, haben wir, so viel wir brauchen, wir wollen nur Turati, Kautsky und die übrigen „Führer“ des Weltsozialismus nennen!

Das ist ja das Tragikomische an den Kundgebungen Turatis und Kautskys, dass sie sich der tatsächlichen, objektiven politischen Rolle, die sie spielen, nicht bewusst sind, der Rolle der Pfäfflein, die die Völker vertrösten, anstatt sie zur Revolution aufzurütteln, der Rolle bürgerlicher Advokaten, die mit pompösen Phrasen über allerhand gute Dinge im allgemeinen und über den demokratischen Frieden im besonderen die widerwärtige Nacktheit des mit Völkern handelnden und Länder zerstückelnden imperialistischen Friedens vertuschen, verdecken, beschönigen und herausputzen.

Darin besteht ja die prinzipielle Einheit der Sozialchauvinisten (der Plechanow und Scheidemann) und der Sozialpazifisten (der Turati und Kautsky), dass sowohl diese als auch jene objektiv Bedienstete des Imperialismus sind: die einen „dienen“ ihm, indem sie den imperialistischen Krieg dadurch beschönigen, dass sie den Begriff der „Vaterlandsverteidigung“ auf ihn anwenden, die anderen dienen demselben Imperialismus, indem sie mit Phrasen von einem demokratischen Frieden den heranreifenden und herannahenden imperialistischen Frieden beschönigen.

Die imperialistische Bourgeoisie braucht Lakaien beider Arten und Schattierungen: die Plechanow, damit sie durch Rufe: „Nieder mit den Eroberern“ zur Fortsetzung des Gemetzels anspornen, die Kautsky, damit sie mit süßlichen Lobgesängen auf den Frieden die allzu erbitterten Massen vertrösten und beschwichtigen.

Deshalb wird auch die allgemeine Vereinigung der Sozialchauvinisten aller Länder mit den Sozialpazifisten – jene allgemeine „Verschwörung gegen den Sozialismus“, von der ein Aufruf der Internationalen Sozialistischen Kommission in Bern spricht4, jene „Generalamnestie“, von der wir wiederholt gesprochen haben – kein Zufall sein, sondern nur eine Äußerung der prinzipiellen Einheit dieser beiden Richtungen des internationalen Quasi-„Sozialismus“. Es ist kein Zufall, dass Plechanow über den „Verrat“ der Scheidemänner zetert und gleichzeitig auf Frieden und Einheit mit diesen Herrschaften anspielt, wenn die Zeit gekommen sein wird.

Aber – wird der Leser einwenden – kann man denn vergessen, dass der imperialistische Friede „immerhin besser“ ist als der imperialistische Krieg? Dass das Programm des demokratischen Friedens, wenn auch nicht ganz, so „nach Möglichkeit“ doch „teilweise“ verwirklicht werden kann? Dass ein unabhängiges Polen besser ist als ein russisches Polen? Dass die Angliederung der italienischen Gebiete Österreichs an Italien einen Fortschritt bedeutet?

Hinter ähnlichen Argumenten verschanzen sich denn auch die Verteidiger Turatis und Kautskys, ohne zu merken, dass sie sich dadurch aus revolutionären Marxisten in bürgerliche Durchschnittsreformisten verwandeln.

Kann man denn, ohne den Verstand verloren zu haben, leugnen, dass das Deutschland Bismarcks und seine sozialen Gesetze „besser“ sind als das Deutschland vor 1848? Dass die Stolypinschen Reformen „besser“ sind als das Russland vor 1905? Haben aber etwa die deutschen Sozialdemokraten (sie waren damals noch Sozialdemokraten) aus diesem Grunde für die Bismarckschen Reformen gestimmt? Sind die Stolypinschen Reformen von den russischen Sozialdemokraten beschönigt oder gar unterstützt worden, abgesehen natürlich von den Herren Potressow, Maslow und Co., von denen sich jetzt selbst das Mitglied ihrer eigenen Partei Martow mit Verachtung abwendet?

Die Geschichte steht auch in Zeiten von Gegenrevolutionen nicht still. Die Geschichte ist auch in der Zeit des imperialistischen Gemetzels von 1914-1916 vorwärtsgeschritten, das eine Fortsetzung der imperialistischen Politik der vorhergehenden Jahrzehnte war. Der Weltkapitalismus, der in den 60er und 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts die progressive Kraft der freien Konkurrenz war und der am Anfang des 20. Jahrhunderts in den monopolistischen Kapitalismus, d. h. in den Imperialismus hinüber gewachsen ist, hat während des Krieges einen beträchtlichen Schritt vorwärts getan nicht nur zu einer noch umfangreicheren Konzentration des Finanzkapitals, sondern auch zu seiner Umwandlung in den Staatskapitalismus. Wie stark die nationale Verkettung ist, was nationale Sympathien bedeuten, das hat in diesem Krieg das Verhalten z. B. der Irländer in der einen imperialistischen Koalition, der Tschechen in der anderen gezeigt. Die zielbewussten Führer des Imperialismus sagen sich: wir können unsere Ziele natürlich nicht ohne Abwürgung der kleinen Völker verwirklichen, aber es gibt ja zwei Methoden des Abwürgens. Es gibt Fälle, wo es sicherer – und vorteilhafter – ist, aufrichtige, gewissenhafte „Vaterlandsverteidiger“ im imperialistischen Krieg zu gewinnen, indem man politisch unabhängige Staaten schafft, für deren finanzielle Abhängigkeit „wir“ schon Sorge tragen werden! Es ist (in einem ernsten Krieg der imperialistischen Mächte) vorteilhafter, der Verbündete des unabhängigen Bulgariens zu sein als der Herr des abhängigen Irlands! Die Vollendung des Unvollendeten auf dem Gebiet der nationalen Reformen kann mitunter die imperialistische Koalition innerlich kräftigen – das zieht z. B. einer der besonders niederträchtigen Lakaien des deutschen Imperialismus, K. Renner, sehr richtig in Betracht, ein Held, der selbstverständlich mit aller Macht für die „Einheit“ der sozialdemokratischen Parteien im allgemeinen und für die Einheit mit Scheidemann und Kautsky im besonderen eintritt.

Der objektive Gang der Dinge fordert das Seine, und wie die Unterdrücker der Revolutionen von 1848 und 1905 in gewissem Sinne ihre Testamentsvollstrecker waren, so sind auch die Drahtzieher des imperialistischen Gemetzels gezwungen, gewisse staatskapitalistische, gewisse nationale Reformen durchzuführen. Außerdem muss man ja die durch den Krieg und die Teuerung erbitterten Massen durch kleine Zugeständnisse beschwichtigen: warum sollte man ihnen nicht eine „Einschränkung der Rüstungen“ versprechen (und teilweise durchführen – das verpflichtet doch zu nichts!)? Ist doch der Krieg ohnehin ein „Industriezweig“, der der Forstwirtschaft ähnlich sieht: Jahrzehnte sind notwendig, damit genügend große Bäume heranwachsen … will sagen, damit genügend viel und genügend erwachsenes „Kanonenfutter“ heranwächst. Und im Laufe der Jahrzehnte werden hoffentlich im Schoße der „einheitlichen“ internationalen Sozialdemokratie neue Plechanows, neue Scheidemänner, neue süßliche Versöhnungspolitiker à la Kautsky herangewachsen sein …

Die bürgerlichen Reformisten und Pazifisten sind Leute, die in der Regel in dieser oder jener Form dafür bezahlt werden, dass sie die Herrschaft des Kapitals festigen, indem sie an ihm herum doktern, dass sie die Volksmassen einschläfern und sie vom revolutionären Kampf ablenken. Wenn solche „Führer“ des Sozialismus, wie Turati und Kautsky – sei es durch direkte Erklärungen (wie sie z. B. Turati „versehentlich“ in seiner traurig berühmten Rede vom 17. Dezember 1916 abgab5), sei es durch das Verschweigen von Tatsachen (darin ist Kautsky Meister) –, den Massen die Idee der Möglichkeit eines demokratischen Friedens eingeben, der aus dem jetzigen imperialistischen Kriege herauswachsen soll, unter Aufrechterhaltung der bürgerlichen Regierungen, ohne revolutionären Aufstand gegen das ganze Netz der internationalen imperialistischen Wechselbeziehungen – dann sind wir verpflichtet zu erklären, dass eine solche Propaganda Betrug am Volke ist, dass sie mit Sozialismus nichts zu tun hat, dass sie nur auf eine Beschönigung des imperialistischen Friedens hinausläuft.

Wir sind für den demokratischen Frieden. Und eben darum wollen wir dem Volke nichts vorlügen, wie es Turati und Kautsky – natürlich in der besten Absicht und aus edelstem Antrieb! – tun. Wir werden die Wahrheit sagen: dass ein demokratischer Friede unmöglich ist, wenn das revolutionäre Proletariat Englands, Frankreichs, Deutschlands, Russlands die bürgerlichen Regierungen nicht stürzt. Wir würden es als größten Unsinn betrachten, wenn die revolutionären Sozialdemokraten sich lossagen wollten vom Kampf für Reformen schlechthin, darunter auch für den „Staatenbau“. Aber gerade jetzt durchlebt Europa eine Zeit, in der man sich öfter als sonst die Wahrheit in Erinnerung rufen muss, dass Reformen nur ein Nebenprodukt des revolutionären Klassenkampfes sind. Denn auf der Tagesordnung steht – nicht, weil wir es wollen, nicht, weil irgend jemand einen Plan hat, sondern dank dem objektiven Gang der Dinge – die Entscheidung über geschichtliche Aufgaben durch die unmittelbare Gewalt der Massen, die neue Fundamente errichtet, und nicht durch Abmachungen auf dem Boden des verfaulten und absterbenden Alten.

Gerade jetzt, wo die regierende Bourgeoisie sich anschickt, Millionen von Proletariern friedlich zu entwaffnen und sie ohne Gefahr für sich – unter dem Deckmantel einer schön zurechtgemachten Ideologie und auf alle Fälle besprengt mit dem Weihwasser süßlicher pazifistischer Phrasen! – aus den schmutzigen, stinkenden, stickigen Schützengräben, wo Morden ihre Beschäftigung war, zur Zwangsarbeit in die kapitalistischen Fabriken überzuführen, wo sie durch „ehrliche Arbeit“ die hunderte Milliarden Staatsschulden abarbeiten sollen, – gerade jetzt gewinnt noch größere Bedeutung als zu Beginn des Kriegs die Losung, mit der sich unsere Partei im Herbst 1914 an die Völker wandte: Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg für den Sozialismus! Karl Liebknecht, jetzt zu Zuchthaus verurteilt, machte sich diese Losung zu eigen, als er von der Tribüne des Reichstages herab sagte: Wendet die Waffen gegen eure Klassenfeinde im eigenen Lande! Wie reif die moderne Gesellschaft für den Übergang zum Sozialismus geworden ist, hat gerade der Krieg gezeigt, als die Anspannung der Kräfte des Volkes dazu zwang, zur Regulierung des gesamten Wirtschaftslebens von über 50 Millionen Menschen durch ein Zentrum überzugehen. Wenn das unter der Leitung einer Handvoll Junker und Adliger im Interesse eines Häufleins von Finanzmagnaten möglich ist, so wird es sicher nicht weniger möglich sein unter der Leitung klassenbewusster Arbeiter im Interesse von neun Zehnteln der durch Hungersnot und Krieg erschöpften Bevölkerung.

Aber um die Massen führen zu können, müssen die klassenbewussten Arbeiter die vollständige Fäulnis solcher Führer des Sozialismus, wie Turati, Kautsky und Co., erkennen. Diese Herren dünken sich revolutionäre Sozialisten und sind zutiefst entrüstet, wenn man ihnen sagt, dass ihr Platz in der Partei der Herren Bissolati, Scheidemann, Legien und Co. ist. Dabei haben Turati und Kautsky kein Verständnis dafür, dass nur die Revolution der Massen imstande ist, die auf die Tagesordnung gestellten großen Fragen zu lösen, sie besitzen nicht den geringsten Glauben an die Revolution, sie zeigen nicht die geringste Aufmerksamkeit und nicht das geringste Interesse dafür, wie sich die Revolution im Bewusstsein und in der Stimmung der Massen gerade im Zusammenhang mit dem Krieg entwickelt. Ihre Aufmerksamkeit ist vollständig in Anspruch genommen durch Reformen, durch Abmachungen zwischen einzelnen Teilen der herrschenden Klassen, an sie wenden sie sich, sie suchen sie zu „überreden“, ihnen wollen sie die Arbeiterbewegung anpassen.

Und dabei handelt es sich jetzt gerade darum, dass die klassenbewusste Avantgarde des Proletariats ihre Kräfte sammeln und ihre Gedanken auf den revolutionären Kampf für die Niederwerfung der eigenen Regierungen richten muss. Solche Revolutionen, wie sie Turati und Kautsky anzuerkennen „bereit“ wären, Revolutionen, bei denen es möglich wäre, im Voraus zu sagen, wann die Revolution ausbricht und wie groß die Chancen für den Sieg sind, gibt es nicht. Die revolutionäre Situation in Europa ist da. Es besteht große Unzufriedenheit, Gärung und Erbitterung unter den Massen. Der Stärkung dieser Strömung müssen die revolutionären Sozialdemokraten alle ihre Kräfte widmen. Von der Kraft der revolutionären Bewegung wird es, im Falle eines geringen Erfolges, abhängen, welcher Teil der „versprochenen“ Reformen wirklich durchgeführt und für den weiteren Kampf der Arbeiterklasse von irgendwelchem Nutzen sein wird. Von der Kraft der revolutionären Bewegung wird, im Falle ihres Erfolges, der Sieg des Sozialismus in Europa abhängen und die Verwirklichung nicht eines imperialistischen Waffenstillstandes zwischen dem Kampf Deutschlands gegen Russland und England und einem Kampf Russlands und Deutschlands gegen England oder einem Kampf der Vereinigten Staaten gegen Deutschland und England usw., sondern eines wirklich dauerhaften und wirklich demokratischen Friedens.

1 Gemeint ist der Artikel Turatis „Abracadabra“ (Avanti! Nr. 352 vom 25. Dezember 1916).

2 Die fünf pazifistischen Artikel Kautskys, die Lenin hier meint, sind offenbar folgende: 1. „Sozialdemokratische Anschauungen über den Krieg vor dem jetzigen Krieg“ („Neue Zeit“ Nr. 13 vom 29. Dezember 1916); 2. „Neue sozialdemokratische Auffassungen vom Krieg“ („Neue Zeit“ Nr. 14 vom 5. Januar 1917); 3. „Die Friedensbedingungen“ („Sozialistische Auslandspolitik, Korrespondenz“ Nr. 50, nachgedruckt in „Leipziger Volkszeitung Nr. 286 vom 21. Dezember 1916); 4. „Die Aufnahme des Friedensangebots“ („Leipziger Volkszeitung“ Nr. 286 vom 21. Januar 1916) und 5. „Der Heiland der Welt“ („Leipziger Volkszeitung“ Nr. 289 vom 15. Dezember 1916).

3 Das Zeugnis Helfferichs und Gutschkows – gemeint ist der Brief Gutschkows an den General Alexejew vom 15. August 1916 und die Antwort Helfferichs auf die Anfrage im Reichstag über die Massenverhaftungen oppositioneller Sozialdemokraten. Gutschkow schrieb: „Die Sintflut naht, und unsere jämmerliche, laue Regierung will diesem Zusammenbruch mit Maßnahmen begegnen, die denen eines Menschen gleichen, der mit Galoschen und Regenschirm einen Wolkenbruch abwehren will“. Helfferich erklärte: „Ist es nicht besser, einige Leute im Gefängnis sitzen zu lassen, als einige Leichen auf dem Potsdamer Platz (wo die Verhaftung Karl Liebknechts vorgenommen worden war. Die Red.) zu sehen?“ Beide Erklärungen – die erste vollständig, die zweite auszugsweise, wurden in Nr. 57 des Sozialdemokrat vom 30. Dezember 1916 abgedruckt.

4 Gemeint ist das Rundschreiben der ISK in Bern, das die Versuche des ISB, die Internationale mit Hilfe einer gegenseitigen Amnestie wiederherzustellen, als „einen Pakt gegen den Sozialismus“ bezeichnet.

5 Die Rede Turatis in der Kammer vom 17. Dezember 1916 wurde im Avanti! Nr. 345 vom 18. Dezember 1916 unter dem Titel „Krieg und Friede in der gestrigen Kammerrede Turatis“ abgedruckt.

Eine Darstellung der Wirkung dieser Rede mit Zitaten aus verschiedenen Zeitungen gibt das Züricher „Volksrecht“ Nr. 31 vom 23. Dezember 1910 in einem Artikel „Eine Rede Turatis über das Friedensangebot“.

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