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Karl Liebknecht 19070218 Der Überschriftenprozess gegen die „Leipziger Volkszeitung"

Karl Liebknecht: Der Überschriftenprozess gegen die „Leipziger Volkszeitung"1

Zeitungsbericht über das Plädoyer

[Leipziger Volkszeitung, Nr. 42 vom 19. Februar 1907. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 1, S. 236-245]

Um zwei verschiedene Artikel handelt es sich bei dem heutigen Prozess gegen die „Leipziger Volkszeitung": um den ausführlichen Prozessbericht und um ein Resümee. Die „Volkszeitung" war vollkommen in ihrem Recht, wenn sie ausführliche Berichte brachte, denn es lag hier eine sie selbst angehende Angelegenheit vor, wodurch sie schon unter dem Schutze des Paragraphen 1932 (Wahrung berechtigter Interessen) steht. Es kommt ferner in Betracht, dass der Angeklagte beide Artikel vor ihrem Erscheinen nicht gekannt hat. Wenn wirklich eine Beleidigung vorliegt, so ist sie durch den Paragraphen 193 gedeckt.

Was nun die Anklage selbst zunächst in Bezug auf den Bericht angeht, so bietet sie mir das eigenartigste Bild, das mir je vorgekommen ist. Eine Überschrift wird unter Anklage gestellt! Eine Überschrift, die gänzlich in der Luft schwebt, die ein bloßer Name, ein bloßer Stempel ist, die eine Illustration des Inhalts erst durch das gibt, was darunter steht, und sonst überhaupt nicht zu verstehen ist. Es ist unlogisch, gegen eine Überschrift anzukämpfen wie gegen eine Urkunde, von der man nur die Unterschrift kennt. Nun hat das Gericht beschlossen, von der Verlesung des ausführlichen Prozessberichtes abzusehen, und der Staatsanwalt war der erste, der diesem meinem Antrag widersprach. Der Staatsanwalt hat sich aber in seinem Plädoyer trotzdem nicht gescheut, etliches aus dem Bericht vorzulesen, so zum Beispiel gleich die Eingangsworte. Natürlich hat der Staatsanwalt nur das zitiert, was ihm passte. Ich betone, dass der Staatsanwalt selbst damit anerkannt hat, dass er seinen Antrag, von der Verlesung des Berichtes abzusehen, selbst desavouiert hat. Ich werde aber nunmehr meinerseits keinen Abstand nehmen, auf den Bericht nach Belieben einzugehen.

Was heißt das überhaupt: Auf der Anklagebank! Ist jeder, der dort steht, denn schon entehrt und minderwertig? In wie vielen Fällen handelt es sich um bloße Meinungsdifferenzen! Ich brauche nur auf den politischen Kampf hinzuweisen! Jener Ausdruck ist nur bildlich, nicht buchstäblich zu verstehen, und nur Justizbeamte Leipzigs waren „auf der Anklagebank". Eine Deutung ist nur allein in dem Sinne möglich, wenn man erwägt, dass für den Angeklagten „auf der Anklagebank" nur hieß, jene Beamten, nicht Seger, waren eigentlich abzuurteilen – vor der öffentlichen Meinung. Damit ist aber hier nicht etwa die „öffentliche Meinung" des Staatsanwalts gemeint, sondern die der Partei des Angeklagten und desjenigen Teils der Bevölkerung, der sich noch ein politisches Rückgrat bewahrt hat. „Auf der Anklagebank" ist eine allgemein übliche Redensart; wie oft spricht man vom „Militarismus auf der Anklagebank", „der Minister auf der Anklagebank" usw. Das ist keine Beschimpfung, sondern nur ein bildlicher Ausdruck, in dem keine spezielle Beleidigungsabsicht liegt. Ein Vorwurf ist es wohl, er geht aber nicht über das Maß hinaus und besonders dann, wenn noch der Paragraph 193 in Betracht kommt. Es ist unbedingt abzulehnen, dass jene im Parlament und in der Presse allgemein übliche Redeweise irgendwie beleidigend sei.

Der Staatsanwalt hat gesagt, dass der Vorwurf, die Justizbeamten seien tatsächlich die Angeklagten gewesen, nicht zu rechtfertigen sei. Meine Herren, ich habe es damals selbst als Verteidiger Segers zur Sprache gebracht, dass Oberstaatsanwalt Böhme den schmachvollen Vorwurf der Feigheit tatsächlich gemacht hat. Es wurde durch Böhme selbst bewiesen, dass er am 9. Februar in Bezug auf die „Leipziger Volkszeitung" eine ganze Fülle beleidigender Äußerungen in Ausübung seines Amtes gebraucht hat, wie „beispiellose Dreistigkeit", „unglaublich rohe Beschimpfung", „Schimpf- und Hetzhandwerk" usw. Nun mag man ja über den geistigen Inhalt dieser Ausdrücke verschiedener Meinung sein, aber in der Form konnten sie sich zumindest mit dem „schmachvollen Vorwurf der Feigheit" messen, jener Äußerung, die dem damaligen Angeklagten als Beleidigung des Herrn Böhme angerechnet wurde. Nicht das Hundertfache bedeutet das an Gröblichkeit der Form! Wenn jener Bericht sagt, dass die Gerichtsbeamten schlecht weggekommen seien, so muss man wohl doch betonen, dass nicht nur in Bezug auf Böhme, sondern auch auf die andern Herren gerichtsnotorisch bewiesen wurde, dass sie sich äußerst aggressiv in der äußeren Form gegen die „Volkszeitung" ausdrückten. Es sei da vor allem an Amtsrichter Dr. Hänel und an Assessor Dr. Lange erinnert, der sich in schärfsten Worten gegen die Tendenz der „Volkszeitung" wandte. Da hat nun der Angeklagte den Spieß umgedreht und sich eine Retourkutsche erlaubt.

In jenem Prozess wurde ferner durch Anwälte als Zeugen bestätigt, dass der Assessor Franke die Eigentümlichkeit habe, die Sozialdemokraten „durch die Zähne zu ziehen". Böhme hat, wie ebenfalls von Rechtsanwälten bestätigt wurde, Beschimpfungen gegen die Sozialdemokratie an den Haaren herbeigezogen, und, wie Dr. Drucker erklärte, schon vor dem 8. Februar gegen die „Leipziger Volkszeitung" die allerschwersten Beleidigungen geäußert. Ich habe in jenem Prozess auch auf die Tatsache hingewiesen, dass Herr Böhme vor 20 Jahren in Amtsausübung einen angeklagten Redakteur einen „gewerbsmäßigen Verleumder" nannte.

Während sonst im Allgemeinen die Szene zum Tribunal wird, so ist dieses Mal das Tribunal zur Szene geworden! Wenn der Oberstaatsanwalt Böhme in so unverhohlener Weise in seiner amtlichen Tätigkeit seine Feindschaft zeigt, so besteht allerdings die Gefahr einer „Untergrabung der Justiz". Der Oberstaatsanwalt hat die Pflicht, die Gesetze zu befolgen, wenn er Verbalinjurien zu verfolgen hat. Wenn er dann im Plädoyer selbst Beschimpfungen ausspricht, so ist das viel schlimmer, als wenn sie ein Privatmann oder ein Redakteur äußert.

Fasst man alle diese Umstände zusammen, so muss gesagt werden, dass jene Überschrift vollkommen zu Recht gewählt wurde. Ich selbst würde sie wählen und gegebenenfalls dafür durchs Feuer gehen! In Beziehung auf den Inhalt der damaligen Verhandlung ist sie durchaus objektiv und zulässig und trifft den Nagel auf den Kopf, wenn auch damals der Angeklagte wegen formaler Beleidigung verurteilt wurde.

Der heutige Angeklagte Herre hat jener Verhandlung nicht beigewohnt; für ihn musste der stenografisch aufgenommene Bericht schlechthin maßgebend sein, unter Berücksichtigung des Paragraphen 193. Niemand wird behaupten wollen, dass man nur über Gerichtsverhandlungen berichten könne, denen man selbst beigewohnt hat. Dann dürfte im Parlament, vor Gericht usw. überhaupt nicht über Gerichtsverhandlungen gesprochen werden. Der Angeklagte bekam einen Bericht, der alle Garantien äußerster Zuverlässigkeit bot und dessen Ausführungen in allen wesentlichen Momenten mit den Vorkommnissen in der Verhandlung übereinstimmten. Daraufhin wurde auch die Überschrift – nicht von Herre selbst – formuliert.

Ich komme nun zum zweiten Artikel „Böhme und Liman" – zu der angeblichen Gleichstellung Böhmes mit Liman. Der Herr Staatsanwalt Kunze nimmt da einen höchst merkwürdigen Standpunkt ein. Über die Person des Liman habe ich hier nicht zu richten, aber wenn man durch eine Zusammenstellung mit ihm beleidigt wird, so ist das allerdings höchst merkwürdig. Nur die aller gewagteste Konstruktion kann herausfinden, dass bei Zusammennennung mit dem Popanz Liman eine Beleidigung vorliege. Entweder deduziert man aus der Zusammenstellung der beiden Namen oder eben aus dem Inhalt des Artikels die Beleidigung. Die bloße Zusammennennung besagt noch durchaus keine Gleichartigkeit. Man denke etwa an Kain und Abel, Moses und Darwin usw. Der einzige sachliche Zusammenhang besteht nur darin, dass beide, Böhme und Liman, scharfe Gegner der „Volkszeitung" sind, die ihr nicht schaden, sondern im Grunde genommen nützen.

Letzten Endes handelt es sich ja um den politischen Kampf, in dem eine sachliche Auffassung der Dinge um so nötiger ist. Nirgends ist der Vorwurf erhoben worden, dass Herr Böhme wider besseres Wissen gehandelt hat. Vielleicht glaubt er sogar an eine edle Mission, die er zu erfüllen hat. Von einer absichtlichen Beleidigung mag gar keine Rede sein, nur das ist allerdings gesagt worden, dass er nicht immer die Grenzen innezuhalten vermag, die ihm sein Amt zieht. Böhme hat damals in seinen Ausführungen über den Paragraphen 193 Grundsätze proklamiert, die besagten, dass er sich um das Strafgesetz nicht kümmere. Er sagte: „Ich rede so, wie es mir in den Sinn kommt." Das tat er vielleicht in seiner Leidenschaft, und nur das wurde ihm zur Last gelegt, nicht etwa absichtlicher Missbrauch der Amtsgewalt. Dass sich der Oberstaatsanwalt Böhme in jener Verhandlung etwas hilflos und merkwürdig benommen hat, dafür bürgt mir wohl das stille Eingeständnis aller, die ihr beiwohnten. Böhme hat in der Tat jene Worte, die ihm in dem Bericht in den Mund gelegt wurden, gebraucht.

Der Herr Staatsanwalt Kunze hat ferner in seinem Plädoyer besonderes Gewicht darauf gelegt, dass der Beweisantrag damals abgelehnt wurde, wonach erwiesen werden sollte, dass „Herr Böhme schon seit langen Jahren bei Ausübung seiner amtlichen Funktionen sozialdemokratisch gesinnte Staatsbürger in ärgster Weise zu schmähen pflegte". Und daraus schließt nun der Staatsanwalt, dass der ganze Passus nicht erheblich sei. Ich behaupte, dass auch Herr Böhme vor dem 9. Februar vorigen Jahres in gröblichster Weise mit Worten und Schmähungen in amtlicher Funktion gegen sozialdemokratische Angeklagte vorging. Ich beziehe mich dabei auf das Zeugnis der Herren Dr. Hübler, Dr. Drucker und Stadthagen; vielleicht ginge es auch, Herrn Böhme selbst zu hören, der noch nicht Gelegenheit hatte, sich darüber auszulassen.

Der Staatsanwalt Kunze betonte weiter, alles, was gegen Liman gesagt worden sei, müsse auf Böhme abfärben. Aber nirgends kann ein Beweis dafür erbracht werden, dass beide auf eine Stufe gestellt worden seien; der Inhalt des Artikels besagt das Gegenteil. Freilich – man kann ja schließlich durch gewaltsame Konstruktionen alles beweisen. Aber hier muss man doch berücksichtigen, dass für diese gewagten juristischen Konstruktionen schon die formale Bildung des Angeklagten nicht ausreicht. In dieser Hinsicht sind ihm Herr Böhme und die übrige Leipziger Staatsanwaltschaft natürlich überlegen. Er konnte mit dem besten Willen nicht ahnen, mit welchen Finessen hier Beleidigungen heraus konstruiert werden können.

Böhme hat es als sein Recht proklamiert, jene gröblichen Worte zu gebrauchen. Mit Liman ist er nur zusammengestellt, aber in jeder Beziehung anders behandelt worden. Das zeigt besonders die Stelle: „Wir meinen Herrn Oberstaatsanwalt Böhme und den braven Liman." Hierbei ist der Kontrast direkt in den Vordergrund gerückt, indem der eine als minderwertiger Mensch, der andere als Gegner gekennzeichnet wurde. Liman wurde als „Meister der Injurie" bezeichnet; der gegen ihn angeschlagene ironische Ton war nach seinem Verhalten als Zeuge durchaus gerechtfertigt. Jeder unbefangene Beurteiler muss sagen, dass sich alle diese Wendungen ausschließlich auf Liman bezogen. Gewiss ist der Satz äußerst scharf, in dem von dem „dürren Fanatismus" der Dambach und Tzschoppe gesprochen wurde; aber er stellt nur rein sachliche Kritik dar. In dem Worte „Fanatismus" liegt keine Herabsetzung, denn dieser kann unter Umständen eine wertvolle Eigenschaft sein, man denke nur an mittelalterliche Zeiten. Eine solche Kritik ist durchaus zulässig.

Der Herr Staatsanwalt hat die Spitzmarken der „Leipziger Volkszeitung": „Blutjustiz", „Klassenjustiz" usw. herangezogen und ihre angebliche „Tendenz zur Herabsetzung der Justiz" gekennzeichnet.

Wenn die Absicht besteht, derartige Vorwürfe im Laufe der Verhandlung zu erheben, so bedeutet das eine ungemeine Erschwerung. Der Angeklagte ist demgegenüber wehrlos, denn die Stellung als gesetzlich anerkannter Mitwirkender bei der Verhandlung als Vertreter der Staatsgewalt ist eine ganz andre. Ich muss jene Vorwürfe gegen die „Leipziger Volkszeitung" energisch zurückweisen.

Man komme auch nicht wieder mit der berüchtigten „Notorietät", denn gerade der heutige Prozess hat gezeigt, wie es damit bestellt ist. Die Richter lesen die „Leipziger Volkszeitung" wohl nur bei einer Polemik oder einem Kriminalfall. Dadurch bekommen sie ein gänzlich schiefes Bild von dieser Zeitung, die nach meiner Überzeugung unstreitig eins der besten Organe ganz Deutschlands ist. Die Tendenz der Zeitung ist nicht, herabzusetzen, sondern Kritik zu üben. Allgemeine Wendungen dürfen keineswegs zum Gegenstand der Verhandlung gemacht werden, wie jetzt plötzlich bloße Überschriften und einzelne Worte zum Gegenstand von Beleidigungsklagen gestempelt worden sind. Das geht einfach nicht.

Noch auf eins will ich eingehen: Der Angeklagte ist, wie der Staatsanwalt schon betonte, erst kurze Zeit Redakteur und noch unbestraft. Dieses nimmt der Staatsanwalt aber nicht als strafmildernd an, sondern bittet vielmehr um eine besonders strenge Bestrafung! Der Angeklagte soll also nach Herrn Kunze beurteilt werden, als wenn er schon viele Vorstrafen erlitten hätte! Ich kann über diese merkwürdige Logik nur mein Erstaunen ausdrücken! Im Übrigen ist der Angeklagte bereits fünf Vierteljahre Redakteur der „Leipziger Volkszeitung".

Eine „neue Gepflogenheit" bei der Zeichnung der Redakteure liegt nicht vor. Der Angeklagte war nur die Weihnachtszeit über kränklich und musste lange das Zimmer hüten, so dass er vorzeitig abgelöst wurde.

Ich bitte zum Schluss nochmals, alle Punkte ohne sachlichen Wert auszulassen und nur auf die Sache selbst einzugehen. Dann muss der Gerichtshof zu einer Freisprechung des Angeklagten gelangen. Im Übrigen beantrage ich, die im Laufe der Verhandlung bereits genannten Herren über die ganze Angelegenheit als Zeugen zu vernehmen, falls das Gericht bei seiner Urteilsberatung den Sachverhalt für noch nicht genügend geklärt erachtet.

In seiner Erwiderung bittet Staatsanwalt Kunze, diese Anträge „selbstverständlich" abzulehnen. Er sagt dann folgendes:

Ich habe den Angeklagten durchaus nicht für die Tendenz der „Leipziger Volkszeitung" verantwortlich gemacht, die an sich die Leipziger Justiz beschimpft. Der Staatsanwalt hat die Grenzen seiner Amtsbefugnis nirgends überschritten. Gewiss ist er in dem Prozess Limans gegen Kressin recht erregt gewesen im Hinblick auf die scharfen Angriffe, die gegen Liman gerichtet wurden! Die „Leipziger Volkszeitung" beschimpft ja auch sonst alle, die nicht auf ihrem Standpunkt stehen. Die Angriffe gegen Oberstaatsanwalt Böhme weise ich entschieden zurück; es ist nicht erwiesen worden, dass er im Jahre 1891 die Äußerung „gewerbsmäßiger Ehrabschneider" gegen einen sozialdemokratischen Redakteur gebraucht habe.3 Wenn nun der Angeklagte Herre wirklich der Meinung gewesen ist, die Überschrift der Berichte entspreche wirklich der Situation, so besitzt eben der Angeklagte nicht Bildung genug, um zu unterscheiden, was Beleidigung ist oder nicht. Alles deutet darauf hin, dass Herr Böhme mit dem in dem Artikel charakterisierten Liman verglichen werden sollte. Böhme wurde als „gewerbsmäßiger Verleumder" mit dem „Meister der Injurie", Liman, auf eine Stufe gestellt.

Darauf erwiderte Rechtsanwalt Dr. Liebknecht äußerst wirkungsvoll folgendes:

Nirgends wird in dem betreffenden Passus des Artikels auf eine „gewerbsmäßige Verleumdung" durch Böhme hingewiesen. Ein greller Widerspruch tut sich hier zwischen dem Sinn jenes Satzes und den Worten des Staatsanwalts auf. Dieser wird in seiner Praxis wohl oft solche Äußerungen getan haben, die er nur bei der „Leipziger Volkszeitung" im obigen Sinne auslegt. Aus der ganzen Fassung des Artikels ergibt sich zweifellos, dass die logische Konstruktion der Anklage ein Strohhalm, eine „Eselsbrücke" ist, die auf Selbsttäuschung beruht.

Der Staatsanwalt hat es dennoch verstanden, die Tendenz in die Debatte zu ziehen. Ein gefährliches Spiel! Wie kann der Staatsanwalt einen Vorwurf daraus machen, dass in der Seger-Verhandlung ein Beweis jener zurückliegenden Äußerung Böhmes nicht erbracht worden sei! Ist doch der von mir gestellte Beweisantrag abgelehnt worden! Ein solches Verfahren des Staatsanwalts ist als nicht der Sache entsprechend zurückzuweisen!

Der Staatsanwalt zeigt überhaupt eine auffällige Unkenntnis der Vorgänge in den letzten Prozessen. In dem Urteil gegen Seger ist nur die Rede von dem im Artikel ausgeprochenen Vorwurf gegen Böhme. Auf alle anderen zur Sprache gekommenen Angelegenheiten bezieht sich das Urteil nicht.

Der Staatsanwalt hat ferner von der Erregung Böhmes während der Verhandlung gegen den Genossen Kressin wegen Liman-Beleidigung gesprochen. Nun hat aber hier Herr Amtsrichter Dr. Hänel zu Gericht gesessen, und Herr Böhme ist gar nicht in Frage gekommen! Durch alle diese Umstände zeigt sich immer mehr, dass die Gesamtauffassung des Staatsanwalts von der Angelegenheit nicht richtig ist.

Der Staatsanwalt hat wiederum andre Sachen in den Prozess hineingezogen und damit die hergebrachten Grenzen überschritten. Er hat versucht, die Brandfackel der politischen Erregung hinein zu schleudern, jener Erregung, die während der letzten Wahl allenthalben wachgerufen worden ist und noch nach zittert. Eine solche Brandstiftung kann unter Umständen gefährlich werden. Es muss ganz energisch zurückgewiesen werden, dass der Staatsanwalt die „Leipziger Volkszeitung" in jener Weise hineinzieht, wo eben ein Wahlkampf vorüber ist, in dem die Sozialdemokratie so grenzenlos beschimpft wurde wie nie zuvor. Vor allem sind all die Lügen und Verleumdungen vom Reichsverband zur Bekämpfung der Sozialdemokratie ausgegangen, so dass ich selbst zum ersten Mal in meinem Leben gezwungen bin, eine Privatklage anzustrengen. Der Beweis der mangelnden Objektivität des Staatsanwalts ist geliefert und dazu angetan, das Vertrauen in die Justiz sehr zu beeinträchtigen.

1 Am 18. Februar 1907 fand in Leipzig der sogenannte Überschriftenprozess statt. Der Redakteur der „Leipziger Volkszeitung" Herre war angeklagt, durch zwei Überschriften, „Die Leipziger Justiz auf der Anklagebank" und „Böhme und Liman", die Leipziger Justizbeamten Böhme, Franke, Lange und Hänel beleidigt zu haben. Herre wurde zu fünf Monaten Gefängnis verurteilt. Siehe auch S. 202–231. Die Red.

2 „Tadelnde Urteile über wissenschaftliche, künstlerische oder gewerbliche Leistungen, ingleichen Äußerungen, welche zur Ausführung oder Verteidigung von Rechten oder zur Wahrnehmung berechtigter Interessen gemacht werden, sowie Vorhaltungen und Rügen der Vorgesetzten gegen ihre Untergebenen, dienstliche Anzeigen oder Urteile von Seiten eines Beamten und ähnliche Fälle sind nur insofern strafbar, als das Vorhandensein einer Beleidigung aus der Form der Äußerung oder aus den Umständen, unter welchen sie geschah, hervorgeht."

3 Herr Böhme wurde bekanntlich wegen dieser „nicht erwiesenen Behauptung" von seiner vorgesetzten Behörde zurechtgewiesen. Die Red. der „Leipziger Volkszeitung".

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