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Karl Liebknecht 19090915 Solidarität mit den russischen Revolutionären

Karl Liebknecht: Solidarität mit den russischen Revolutionären

[Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Leipzig vom 12. bis 18. September 1909, Berlin 1909, S. 217, 366–368. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 2, S. 334-338]

I

Resolution 247

Potsdam-Osthavelland: Der Parteitag brandmarkt mit Abscheu die blutigen Gräuel, unter denen die Gegenrevolution in Russland ihren weißen Schrecken verbreitet.

Er spricht den unglücklichen Opfern dieser fluchwürdigen Ordnung und den heldenmütigen Kämpfern gegen sie seine brüderliche Sympathie aus.

Er weist jede Gemeinschaft mit dem doppelt hochverräterischen und meineidigen Zarismus entschieden zurück.

Er betrachtet es als eine Schmach für Deutschland und das deutsche Volk, dass der mitschuldige Träger dieses Regimes unter Ehrung deutscher Behörden seinen Fuß auf deutschen Boden setzen konnte und dass deutsche Soldaten zur Bewachung des gekrönten Verbrechers kommandiert werden konnten, während die besten Vertreter des russischen Volkes von den deutschen Behörden in brutaler und kleinlicher Weise verfolgt und gehetzt werden.

Er gelobt, dass sich die deutsche Sozialdemokratie auch künftig mit den russischen Freiheitskämpfern solidarisch fühlen und den Opfern dieser Freiheitskämpfe mit besten Kräften bereitwillige Unterstützung leisten wird.

II

Rede zur Begründung der Resolution 247

Parteigenossen, es ist schlechterdings unmöglich und wäre dieses Parteitages unwürdig, wenn er vorübergehen würde, ohne dass wir unseren russischen Brüdern und Schwestern unsere herzlichste Sympathie zurufen und ohne dass wir unseren Abscheu aussprechen über das blutige Regime des Zarismus, das jetzt in einer Weise wütet wie niemals vor der Revolution.

Einzelheiten über die Vorgänge Ihnen jetzt vorzutragen, ist nicht meine Aufgabe. Jedermann, der die Zeitungen verfolgt, der die zahlreichen Broschüren und Schriften gelesen hat, weiß, dass wir in Russland jetzt eine solche ungeheure Zahl von Hinrichtungen erleben, dass eine so ungeheure Zahl von Gefangenen und Verbannten dort schmachtet, dass es keine Periode in der russischen Geschichte gibt, die sich annähernd damit vergleichen lässt. Die Gefängnisse sind überfüllt, die Zahl der Gefangenen beträgt vielfach mehr als 100 Prozent über die normale Belegungsziffer. In den Gefängnissen herrschen die entsetzlichsten Zustände. Skorbut und Typhus werfen Tausende darnieder und raffen Hunderte dahin. Die Todesfälle, die Wahnsinnsfälle, die Selbstmordfälle nehmen mehr und mehr zu. Selbst offizielle Publikationen sprechen von einer wahren Selbstmordepidemie. Die Zahl der Hinrichtungen ist eine viel größere, als in den offiziellen Dokumenten zugegeben wird. Die Henker reichen nicht aus, so dass nichts anderes übrig blieb, als zum Tode verurteilte Gefangene unter dem Versprechen der Begnadigung zu veranlassen, ihre zum Tode verurteilten Mitgefangenen hinzurichten. (Pfuirufe.) Es kann zur Ehre der russischen Gefangenen gesagt werden und selbst der gemeinen Verbrecher, dass es dennoch der Regierung ungemein schwergefallen ist, die zu den Henkerdiensten erforderlichen Personen ausfindig zu machen.

Jedenfalls müssen wir uns darüber klar sein, dass die Ansicht, in Russland herrsche jetzt ein konstitutionelles Regime, durchaus im Widerspruch steht zu den tatsächlichen Verhältnissen. In Russland hat niemals eine größere Barbarei, eine stärkere Niederdrückung auch der Arbeiter stattgefunden als jetzt. Auf die prachtvolle Begeisterung während der Revolution ist jetzt eine Zeit der tiefsten Depression gefolgt, von der wir allerdings sicher sind, dass sie nur kurze Zeit dauern kann. In wenigen Jahren schon wird die Revolution des Proletariats und die Revolution der Bauern von neuem ihr Haupt erheben und mit besserem Erfolg.

Wenn wir uns mit den russischen Verhältnissen befassen, so tun wir das nicht nur, weil wir unsere Dankbarkeit, unser Mitgefühl, unser Mitleid den russischen Brüdern zum Ausdruck bringen wollen, nicht nur, weil wir der mittelalterlichen Rohheit und Blutrünstigkeit jenes Regimes das Schandmal aufdrücken wollen, sondern auch, weil wir alle Veranlassung haben, gegen die schmähliche Russenpolitik der deutschen Regierung Front zu machen. Die deutsche Regierung hat den Zaren im letzten Jahre zweimal empfangen, einmal in Kiel, ein zweites Mal ist der Zar durch den Nordostseekanal gefahren. In beiden Fällen hat die deutsche Regierung den russischen Despoten mit einem eisernen Schutzwall von Kriegsschiffen, Soldaten, Kanonen umgeben, weil sie wusste, dass dieses gekrönte Kaninchen, wie er einmal genannt wurde, sich nicht sicher fühlen könne, auch nicht in Deutschland.

Die Kieler Arbeiter haben gegen den ersten Besuch, Ende Juli, eine gewaltige Demonstration veranstaltet. Es unterliegt keinem Zweifel, dass die ganze deutsche Arbeiterschaft und selbst ein Teil des Bürgertums, soweit es eine Spur Kulturbewusstsein hat, mit den Herzen bei dieser Kieler Demonstration waren. Wir müssen es aussprechen: Wenn der Zar, der blutige Zar, von der deutschen Regierung bewillkommnet wurde und hier und da auch einige byzantinische Zeitungen ihn begrüßt haben: dem weitaus größten Teil der Bevölkerung war der Zar ein höchst verhasster Gast; das deutsche Volk hat nicht den Wunsch gehabt, dass er deutschen Boden betritt, und wir betrachten den Boden, den er betreten hat, als besudelt. (Stürmische Zustimmung.)

Parteigenossen, damit aber nicht genug! In den letzten Monaten ist von neuem durch die Enthüllungen Burzews, für die wir ihm im höchsten Maße dankbar sein müssen, das Augenmerk auf die russische Spitzelwirtschaft gelenkt worden. Wir haben durch Burzew bestätigt erhalten, was wir zum Teil schon vorher wussten, dass über Deutschland eine umfassende russische Spitzelorganisation verbreitet gewesen ist. Noch vor wenigen Tagen ist eine Zentralperson der russischen Spitzelei in Charlottenburg bei Berlin, die Gernegroß-Jutschenko, entlarvt worden. (Vollmar: „Es werden wohl auch noch andere da sein!") Die deutsche Regierung hat seit jeher Vertreter der russischen Spionage in Deutschland geduldet. (Zuruf: „Sie duldet sie heute noch!") Und ich behaupte, dass sie heute noch geduldet werden („Sehr richtig!") und dass es einfach zur Irreführung bestimmte Mitteilungen sind, die die Polizei in die Presse lanciert hat, als würden derartige Spitzel in Deutschland jetzt nicht mehr geduldet. Die deutsche Polizei geht noch weiter: Sie duldet nicht nur diese Spitzel, sondern sie ist mit ihnen handelseinig, sie geht mit ihnen Hand in Hand. Das tun nicht nur die deutschen Polizeibehörden, sondern, zur Schande Deutschlands sei es gesagt, auch die deutschen Universitäten. („Sehr richtig!" und Pfuirufe.)

Ich kann auf die Einzelheiten auch in dieser Beziehung nicht eingehen. Sie wissen das aus wiederholten Verhandlungen im Parlament und aus Veröffentlichungen in der Presse der letzten Zeit. Hat sich doch die deutsche Regierung nicht geschämt, in dieser Zeit der russischen Konterrevolution, im Juni dieses Jahres einen Geheimbundprozess anzustrengen gegen hier in Deutschland ansässige junge russische Parteigenossen, und zwar deshalb, weil diese jungen Leute, obwohl sie niemals einen Zweifel darüber gelassen haben, dass sie auch im Auslande gewisse politische Organisationen haben, ihre politischen Anschauungen untereinander verbreiten und auch ein wenig propagieren, es für nötig gehalten haben, angesichts der Feindseligkeiten, mit denen sie von der deutschen Regierung behandelt werden, ihre Persönlichkeiten und die Einzelheiten ihrer Tätigkeit vor der Polizei zu verbergen. Bedauerlich genug, dass diese Ausländer es nötig haben, in Deutschland ihre geringe, in die deutschen Interessen gar nicht eingreifende politische Tätigkeit vor der Polizei zu verbergen. („Sehr wahr!") Es ist eines Kulturlandes unwürdig („Sehr richtig!"), dass man den Ausländern jede politische Tätigkeit in dieser Weise verbietet. Das finden Sie nicht in England, nicht in der Schweiz, nicht in Belgien, auch nicht in Skandinavien und auch nicht in Österreich. Es gibt kein anderes Land als eben Russland selbst, das sich in dieser Beziehung mit Deutschland messen kann, auch das ist für Deutschland ein Jammer und eine Schande. („Sehr richtig!")

Wir haben alle Veranlassung, auf diesem Parteitage unser heftigstes und empörtes Misstrauen und unsere Unzufriedenheit auszusprechen gegenüber der deutschen Regierung wegen der unwürdigen Art, mit der sie auf der einen Seite den Auswurf der russischen Gesellschaft, die Spitzel, bei sich duldet und fördert, während sie andererseits die edelste Blüte des russischen Volkes wie gehetztes Wild in Deutschland hin- und hertreibt und misshandelt. (Lebhaftes „Bravo!")

Ich bitte Sie, unseren bedrängten kämpfenden Brüdern und Schwestern in Russland und auch denen, die sich bei uns in Deutschland aufhalten, unsere herzlichste Sympathie auszudrücken, indem Sie einstimmig der Resolution zustimmen.1 (Lebhafter Beifall.)

1 Die Resolution wurde einstimmig angenommen. Die Red.

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