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Karl Liebknecht 19090610 Zum Prozess gegen russische Sozialdemokraten in Dresden

Karl Liebknecht: Zum Prozess gegen russische Sozialdemokraten in Dresden

Zeitungsbericht über das Plädoyer

[Dresdner Volkszeitung Nr. 131 vom 11. Juni 1909. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 2, S. 268-271]

Wir können bald die Zentenarfeier einer deutsch-russischen Allianz begehen. Vor sieben Jahren begannen auf die Initiative des russischen Zaren hin die Verfolgungen russischer Staatsangehöriger im Ausland, besonders in Deutschland. Diese ganze Zeit vollzieht sich nun ein Prozess, der eine große Eigentümlichkeit aufweist. Sobald nämlich die im Auslande lebenden Russen in ihrer Position stärker werden, wenn sie sich organisieren, ist die russische Regierung schwächer und umgekehrt. Diese Erscheinung lässt sich kalendermäßig nachweisen.

Der Königsberger Prozess (1904), der mit diesem Prozesse viel Ähnlichkeit hat und der damals in der ganzen Kulturwelt ungeheures Aufsehen rein sachlicher Natur hervorrief, sei hierfür ein Beispiel. Vordem haben die in Deutschland lebenden Russen sich einer verhältnismäßigen Freiheit erfreut. Das war eine Periode, in der sich die russische Regierung in Schwierigkeiten befand. Dann kam die Gegenrevolution, und mit ihr schwollen der russischen Polizei immer mehr der Kamm und der deutschen Polizei die Energie, gegen die Russen in Deutschland vorzugehen. In eine solche Periode fiel auch der Königsberger Prozess.

Der jetzige Prozess ist der Schlussstein einer Entwicklung. Damals herrschte eine allgemeine Empörung über die Liebedienerei, die eines Kulturstaates unwürdig ist. In Russland ist inzwischen aus dem Rinnsal von Blut ein Strom geworden. Es herrschen jetzt in Russland die schlimmsten politischen Zustände. Und während dieser selben Zeit arbeitet die deutsche Polizei den russischen Reaktionären in die Hände. Weil sie glauben, der Zarismus ist wieder mächtig geworden, fühlen sie sich veranlasst, ihn freundlich zu behandeln. Der Druck, der somit auf den Russen in Deutschland lastet, bietet dann aber auch wieder die Möglichkeit, unter den Russen Spitzel zu gewinnen. Die Erfolge der Polizei in diesem Prozess sind zum großen Teil auf die Beihilfe der russischen Spitzel zu setzen. Eine beträchtliche Rolle bei der Verfolgung der Russen in Deutschland spielt auch die traditionelle Bekämpfung der internationalen Sozialdemokratie.

Nun zu den Ausführungen des Staatsanwalts: Er will die Politik vollständig aus dem Spiele lassen. Die Angeklagten können das nicht. Es handelt sich hier um den politischsten Paragraphen des Strafgesetzbuchs, und bei diesem rein politischen Prozess ist es nicht anders denkbar, als den politischen Hintergrund mit zu beleuchten. Typisch ist das Wort des Staatsanwalts: „Die Angeklagten müssen besonders hart bestraft werden, weil sie das Gastrecht missbraucht haben." In einer Zeit so weitgehender Internationalität macht es einen sonderbaren Eindruck, wenn der Staatsanwalt dieses Wort „Gastrecht" so besonders betont, zumal es offenkundig ist, dass dieses Gastrecht gegen Russen nur in den minimalsten Dosen ausgeübt wird. Es macht einen fatalen Eindruck, wenn man dann noch verlangt, dass die Ausländer für dieses „Gastrecht" in Deutschland sich ihres Erstgeburtsrechtes, ihrer Überzeugung, begeben sollen. Wenn ich Russe wäre, ich schlüge der Polizei so viele Schnippchen, als ich irgendwie könnte. Wenn aber auf dieses „Gastrecht" hingewiesen wurde, so empört mich das. Außer in Deutschland werden die Russen in keinem anderen Lande behelligt. In den politisch freien Ländern können sie leben, wie sie es als Menschen müssen. Allerdings macht man in Deutschland auch Unterschiede. Ausländern zum Beispiel, die mit ihrer Regierung auf gutem Fuße stehen – unter anderen auch den vielen Spitzeln –, geschieht nicht das Mindeste. Im Königsberger Prozess ist das Ersuchen der Staatsanwaltschaft an die Schweiz um Unterstützung mit großer Entschiedenheit abgelehnt worden.

Man legt den Angeklagten zur Last, dass sie revolutionär sind, und damit begründet man, dass sie als „lästig" empfunden wurden. Gewiss: Sie sind revolutionär, genauso wie ich revolutionär bin. In Russland hat revolutionär aber noch einen anderen Sinn, nämlich Ordnung zu schaffen, wenn auch gegen den Willen der Regierung. Zu ihrem Verhalten zur deutschen Regierung sind die Angeklagten nur durch Spitzel gekommen. Ihr einziges Bestreben war das, ihre Mitglieder, die wie gehetztes Wild in Deutschland leben mussten, unkenntlich zu machen. Das nimmt nicht Wunder, wenn man weiß, dass eine große Schlammflut von russischen Spitzeln über Deutschland hereingebrochen ist, die von der deutschen Polizei unterstützt wird.

Der Wachtmeister Posselt sprach diesen Leuten gegenüber von „gutgesinnten", „besser gesinnten" und „liberalen" Russen, ja, er erfand eine ganz neue Bezeichnung: „Deutschrussen". Mit diesem Namen belegt er Russen wie die „echt russischen Leute", „das Schwarze Hundert"1 usw. Man darf erklären, dass im Namen aller anständigen Menschen der Versuch des Wachtmeisters, eine Allianz zwischen Deutschen und „Echtrussen" zu konstruieren, als eine Schändung des deutschen Namens zurückgewiesen werden muss.

Wir haben in Deutschland das Verwundern über die Machenschaften der Polizei verlernt. Wir haben uns schon an das gewöhnt, was bei anderen Nationen einen Sturm der Entrüstung hervorrufen würde. Was man sich dem Deutschen gegenüber schon erlaubt, zeigt die falsche Übersetzung des russischen Briefes. Ich mache diese Erfahrung nicht das erste mal In Königsberg wurde nachgewiesen, dass fast alle Übersetzungen falsch waren. Die falschen Übersetzungen wurden damals vom russischen Generalkonsul geliefert. Diesmal liefert schon das Berliner Polizeipräsidium die gefälschten Übersetzungen!! Man sieht den „Fortschritt", den wir in Deutschland gemacht haben. Man hat in den wenigen Jahren schon selbst Beamte herangezüchtet, die solche Fälscherkunststückchen machen. (Zwischenruf des Vorsitzenden, wodurch der Ausdruck „heranzüchten" gerügt wird.)

Als bei Beginn der Verhandlungen der Vorsitzende von politischen Taten und Sensationsmache sprach, haben wir uns nicht getroffen gefühlt. Wir haben kein Theater gemacht, aber es ist doch ein Theater geworden. Die Berliner Polizei hat durch den gefälschten Brief die Sensation in die Verhandlung hineingebracht.

Die Verhältnisse sind in Russland in den letzten Jahren nicht besser geworden. In Deutschland sind sie aber geradezu jämmerlicher und unerträglicher geworden. Aber vom Standpunkt derartiger Erwägungen aus können Sie sich ein objektives Bild von der Lage der Russen in Deutschland machen! Wir haben uns die Psychologie des gehetzten Wildes vor Augen zu halten!

Möge der Prozess, der einen so schlechten Anfang nahm, ein gutes Ende finden.

1 Mit der Bezeichnung „echtrussische Leute" meint Liebknecht die Mitglieder des „Verbandes des russischen Volkes", einer 1905 zum Kampf gegen die Revolution gegründeten monarchistischen Schwarzhunderterorganisation in Russland. An der Spitze dieses hauptsächlich aus Gutsbesitzern, Kaufleuten, Polizeibeamten, Kulaken und Priestern bestehenden konterrevolutionären Verbandes standen I. Dubrowin, N. E. Markow II. und (bis 1907) W. M. Purischkewitsch.

1907 spaltete sich, hervorgerufen durch Streitigkeiten in Fragen der III. Staatsduma, ein neuer reaktionärer Verein ab, der „Verband des Erzengels Michael", geführt von W. M. Purischkewitsch.

Schwarzhunderter, bewaffnete Banden, gegründet 1905–1907 durch die zaristische Polizei und monarchistische Organisationen. Sie ermordeten revolutionäre Arbeiter und Angehörige der Intelligenz, organisierten Judenpogrome und terrorisierten die nationalen Minderheiten.

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