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Karl Liebknecht 19100904 Der Militarismus

Karl Liebknecht: Der Militarismus

[I: Vorwärts Nr. 208 und 209 vom 6. und 7. September 1910. II: Brandenburger Zeitung, Märkisches Volksblatt, Nr. 214 und 215 vom 13. und 14. September 1910. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 3, S. 466-483]

I

Aus einem Zeitungsbericht über den Verlauf der Zweiten Internationalen Konferenz Sozialistische Jugendorganisationen, Kopenhagen, 4. und 5. September 1910

Der Vorsitzende des Internationalen Büros der Sozialistischen Jugendorganisationen, Dr. Karl Liebknecht, eröffnet die Konferenz mit einer Begrüßungsrede. Der Charakter der Konferenz zeige sich bereits in ihrer Tagesordnung. Die internationale Jugendbewegung fühle sich als ein Glied der großen proletarischen Internationale. Sie habe seit der Stuttgarter Konferenz in allen Ländern Fortschritte gemacht; nicht zuletzt hätte die gegnerische Jugendbewegung unsere Genossen zur Arbeit angespornt. Besonders versuchen unsere Gegner in Deutschland, die Jugend dem Proletariat zu entfremden. Der Redner hofft, dass Formen gefunden werden mögen, die der deutschen Jugendbewegung den Anschluss an das Internationale Büro ermöglichen …

Liebknecht erklärt, dass die Konferenz bindende Beschlüsse, die im Gegensatz zu den nationalen Parteikongressbeschlüssen stehen, nicht fassen werde …

Es erhält sodann Genosse Karl Liebknecht das Wort zu seinem Referat über Militarismus. Er stellt die Entwicklungsgeschichte und die Psychologie des Militarismus dar und gelangt zu dem Schluss, dass der heutige Militarismus nicht als Einzelerscheinung in der Gesellschaft, sondern als ein Glied des Kapitalismus betrachtet und bekämpft werden müsse. Der kapitalistische Militarismus ist, soweit er sich nach außen richtet, in erster Linie eine Waffe im internationalen Konkurrenzkampf. Die internationale militärische Konkurrenz verbessert die Technik und vermehrt die Größe der bewaffneten Macht. Durch die neuerdings in Riesenschritten vorwärts eilende Eroberung der Luft ist ein neues Element in die militärische Organisation getreten, das in absehbarer Zeit eine vollkommene Umgestaltung des Heer- und Kriegswesens zur Folge haben kann. Der durch den äußeren Militarismus bedingte Umfang der Heeresorganisation ist bestimmt durch den Grad der Spannung, in dem sich der einzelne Staat infolge der internationalen kapitalistischen Konkurrenz befindet. Die Form der Heeresorganisation ist in allen Ländern des Hochkapitalismus, schon wegen der größeren Schlagfertigkeit im Angriff, das stehende Heer. Auch in den Ländern mit einer lockeren Heeresorganisation (Miliz und dergleichen) werden die stehenden Kader allenthalben vergrößert. Die idealen Kulturaufgaben verkümmern unter dem Druck der materiellen Lasten des Militarismus. Mit der Zunahme der kapitalistischen Konkurrenz steigert sich die internationale Spannung. Der heuchlerisch als Friedenshort gepriesene äußere Militarismus wird trotz aller Monarchenbesuche und Bündnisse „zur Erhaltung des Friedens" zu einer immer ernsteren, ständigen Kriegsgefahr.

Auch die Bedeutung des inneren Militarismus nimmt mit der Fortentwicklung des Kapitalismus schnell zu. Die wachsenden Klassengegensätze nötigen die herrschenden Klassen immer mehr, ihre obligatorische Herrschaft auf das Gewaltmittel des Militarismus zu stützen. Das letzte und stärkste Gewaltmittel ist die Armee; sowohl in den wirtschaftlichen wie in den politischen Kämpfen gegen das Proletariat wird sie als Ultima ratio in täglich sich steigerndem Maße verwandt. Das System des stehenden Heeres ist dem inneren Militarismus am meisten angepasst, und zwar noch angepasster als dem äußeren Militarismus, weil dieses System am ehesten die Möglichkeit gewährt, den Mannschaften die erforderliche Psychologie einzuflößen. Die Herausbildung eines hündischen Kadavergehorsams und eines Landsknechtsübermuts gegen die Masse der Zivilbevölkerung soll die Soldaten geeignet machen, bei wirtschaftlichen und politischen Konflikten auf die eigenen Klassengenossen, auf Vater, Mutter und Geschwister zu schießen.

Das Proletariat, der Träger der internationalen proletarischen Solidarität und des Völkerfriedens, ist der geborene Feind des Militarismus. Die im Kampf gegen den Militarismus grundlegenden Methoden sind: unermüdliche Aufklärung über das wahre Wesen des Militarismus und seine Helfershelfer; unablässige Brandmarkung der militaristischen Schädlichkeiten und Ausschreitungen; Propaganda für alle zur Abschwächung des Militarismus geeigneten Maßnahmen (Schiedsgerichte, Abrüstung, Volksheer) und Erziehung des Proletariats im Geiste des Sozialismus, zur internationalen proletarischen Solidarität. Die Erziehung der Jugend in diesem Geiste ist eine der wichtigsten Aufgaben des kämpfenden Proletariats, und die selbständige proletarische Jugendbewegung ist das wirksamste Mittel zu dieser Erziehung.

Über die Art der Erziehung hat unter Innehaltung der im Beschluss des Stuttgarter Kongresses niedergelegten Grundsätze1 die Arbeiterbewegung eines jeden Landes je nach ihren Verhältnissen zu entscheiden. In diesem Sinne wird in Übereinstimmung mit dem Stuttgarter Beschluss, den sich die Jugendinternationale in allen Punkten zu eigen macht, die proletarische Jugend zum Kampf gegen den Militarismus in allen seinen Formen aufgerufen. (Stürmischer lang andauernder Beifall.) Liebknecht legt im Sinne dieses Referates Thesen vor.

II

Thesen

Der äußere Militarismus

Der Militarismus ist diejenige gesellschaftliche Erscheinung, die sich zum Zwecke der gewaltsamen Unterjochung, Niederhaltung und Ausbeutung eines Volksteils durch den anderen und ganzer Völker durch andere Völker oder durch deren herrschende Schichten entwickelt. Er stellt einen Komplex von mannigfaltigen organisatorischen Gebilden und wirtschaftlichen, politischen, nationalistischen usw. Tendenzen dar, die sich um die Heeresorganisation als den Kern und das stärkste Mittel des Militarismus gruppieren.

Der kapitalistische Militarismus ist, soweit er sich nach außen richtet, in erster Linie eine Waffe im internationalen Konkurrenzkampf, einmal um die Absatzmärkte, sodann um die Gebiete mit besonders günstigen natürlichen Produktionsbedingungen und mit besonders wertvollen, für die kapitalistische Produktion geeigneten Naturschätzen und Arbeitskräften, und damit ein Werkzeug zur Ausraubung der Völker, die derartige Gebiete besitzen, also ein Werkzeug zum Zweck ursprünglicher Akkumulation zumeist gegen Völkerschaften niedriger Kultur angewandt (Kolonialpolitik). Er dient auch mittelbar diesen Zwecken oder der Beseitigung innerer Schwierigkeiten des Staatswesens, wenn er zu Eroberungen verwendet wird, die zunächst zur Konsolidation und Erweiterung der politischen Macht des Staates erfolgen.

Bei der fortgesetzten Verschärfung der internationalen wirtschaftlichen Konkurrenz, aus der sich eine Zuspitzung auch der politischen und rassenmäßigen Gegensätze mit Notwendigkeit ergibt, ist der äußere Militarismus in der gesamten kapitalistischen Welt in rapider Steigerung begriffen. Er zwingt aus Gründen der Selbsterhaltung auch zurückgebliebene Staaten, der höchsten Stufe des kapitalistischen Militarismus zuzustreben. Die internationale militärische Konkurrenz vollzieht sich vor allem auf den Gebieten der Technik und der Größe der bewaffneten Macht. Sie bildet einen höchst wirksamen Antrieb zum technischen Fortschritt und überhaupt gleich der gesamten kapitalistischen Konkurrenz einen machtvollen revolutionierenden Faktor. Sie verhindert jedoch nicht, dass in den Kriegslieferanten die Gier nach dem unmittelbaren eigenen Profit über die Begeisterung für den patriotischen Militarismus siegt und die Waffen wie die sonstigen Kriegsinstrumente Gegenstand des internationalen Warenhandels geworden sind; sie hindert auch nicht, dass sich die verschiedenen Militärstaaten gegenseitig Gelegenheit geben, die militärischen Errungenschaften voneinander zu lernen, und dass die militaristischen Staaten höherer Stufe den zurückgebliebenen halboffiziell durch Instrukteure die militaristischen Segnungen übermitteln – ein Zeugnis für die überwiegende internationale Solidarität des inneren Militarismus und für die Verworrenheit der internationalen Beziehungen und Verwicklungen.

Je nach der strategischen Lage des einzelnen Staates und seiner zu verteidigenden oder zu erobernden Interessensphären entfaltet sich der äußere Militarismus überwiegend als Angriffs- oder Verteidigungsmittel und als Land- oder Wassermilitarismus (Marinismus) oder als beides zugleich. Da sich die Konkurrenz der hochentwickelten kapitalistischen Staaten immer mehr auf überseeische Gebiete erstreckt, so ist die rasche Vergrößerung und Verstärkung der Flottenmacht ein Charakteristikum des fortschreitenden Hochkapitalismus, des Imperialismus. Die technische Entwicklung überstürzt sich in dieser Periode auf dem Gebiete des Marinismus noch mehr als auf dem des Landmilitarismus, wenn auch im Konkurrenzkampf der auf einem Kontinent vereinten Staaten das Landheer nach wie vor die ausschlaggebende Rolle spielt. Durch die neuerdings in Riesenschritten vorwärts eilende Luftschifftechnik ist ein vollkommen neues Element in die militärische Organisation eingetreten, dessen Wirkung auf ihre technische Form wie auf Taktik und Strategie bisher noch nicht überblickt werden kann, das aber in absehbarer Zeit eine fundamentale Umgestaltung des Heer- und Kriegswesens zur Folge haben muss.

Auf dem Gebiete des äußeren Militarismus richtet sich die Macht des einzelnen Staates nach der Zahl seiner wehrfähigen Bevölkerung und ihrer körperlichen Tüchtigkeit, deren allzu große Schädigung durch die kapitalistische Ausbeutung dafür den besonderen Interessen des äußeren Militarismus zuwiderläuft; nach dem Maße, in dem diese wehrfähige Bevölkerung die geistigen und moralischen Voraussetzungen für die militärische Tüchtigkeit am besten erfüllt; nach der technischen Höhe der kriegerischen Instrumente und der strategischen und taktischen Hilfsmittel (auch des Verkehrswesens) und nach der materiellen Leistungsfähigkeit. Das Maß an internationalem militaristischen Einfluss hängt weiter ab von der Art und dem Umfang des politischen Zusammenschlusses der verschiedenen Staaten untereinander, der sich wiederum vor allem nach den wirtschaftlichen Spannungsverhältnissen richtet.

Der durch den äußeren Militarismus bedingte und geforderte Umfang der Heeresorganisation ist bestimmt durch den Grad der Spannung, in dem sich der einzelne Staat infolge der internationalen kapitalistischen Konkurrenz befindet, weiter durch die strategische Lage des Staates selbst und seiner Interessensphären. Für die Stärke des Landmilitarismus bleibt die Zahl der in der Armee organisierten Menschen ein entscheidender Faktor. Daher vollzieht sich die Verstärkung des Landmilitarismus durch ständige Vermehrung der Landtruppen; sie gipfelt bei den großen Mächten des vorzugsweisen Landmilitarismus in der allgemeinen Wehrpflicht und der immer mehr durchgeführten tatsächlichen Einstellung der gesamten wehrfähigen Bevölkerung in die Armee. Im Wasser- und Luftmilitarismus ist die Stärkeeinheit in erster Linie die von Menschenhand bediente Maschine. Auch in der Kriegsflotte indessen tritt die Tendenz nach einer fortgesetzten Vermehrung der Mannschaften als notwendige Folge der Vergrößerung der Schiffszahl, des Deplacements, der Armierung deutlich hervor. Dennoch vermögen die Hauptstaaten des Wassermilitarismus vorläufig noch ohne vollkommene Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht auszukommen, die sich allerdings für die Zwecke der Landesverteidigung auch dort fast allenthalben findet.

Die Form der Heeresorganisation ist in allen Ländern des Hochkapitalismus, schon wegen der größeren Schlagfertigkeit im Angriffe, das stehende Heer (stehende Landarmee, stehende Wasser- und Luftflotte). Auch in den Ländern mit einer lockeren Heeresorganisation (Miliz und dergleichen) werden die stehenden Kader allenthalben vergrößert, wie auch die Ausbildung der nicht ständigen Mannschaften immer mehr intensiviert wird, so dass eine fortwährende Annäherung an das stehende Heer der allgemeinen Wehrpflicht überall festzustellen ist.

Der äußere Militarismus erfordert, wenn auch vielfach die Funktionen der einzelnen unpersönlicher gestaltet und mechanisiert werden, mit der Zunahme der Technik und der Größe der Armeen, wenigstens auf einem beschränkten Gebiete, ein wachsendes Maß von Wissen und geistiger Gewandtheit und, bei aller Bindung und Verunselbständigung im Großen, vielfach eine zunehmende Fähigkeit selbständiger Entschließung auch bei jedem einzelnen Kombattanten. Aus ähnlichen Gründen und bei den zunehmenden Schrecken der Kriege spielt die freie Aufopferungsbereitschaft und Kampfbegeisterung auch bei dem einfachen Soldaten eine sehr erhebliche Rolle. Die Erzeugung und Erhaltung der für den äußeren Militarismus erforderlichen chauvinistischen, borniert nationalistischen Psychologie in den Massen der wehrfähigen Bevölkerung ist mit immer größeren Schwierigkeiten verknüpft, je deutlicher zutage tritt, dass der äußere Militarismus ein Instrument in den Händen der herrschenden Klassen für deren Interessen ist und die Macht der herrschenden Klassen gegenüber der Masse des unterdrückten Volkes steigert und je mehr das Proletariat vom Geiste des Klassenbewusstseins und der internationalen Solidarität erfüllt wird. Das System, das zur Erzeugung und Erhaltung jener Psychologie dient, kommt gleichzeitig der Unterdrückungspolitik der herrschenden Klassen im Innern zustatten, indem es dazu beiträgt, das Klassenbewusstsein der Massen in seiner Entwicklung zu hindern, zu schwächen, zu verwirren und irrezuführen.

Dieses „Erziehungssystem" des äußeren Militarismus, das gleich dem Drill des inneren Militarismus mit allen Mitteln der Täuschung und Brutalisierung raffiniert und skrupellos arbeitet, richtet sich mit besonderem Nachdruck auf die jeweils dem Heere angehörigen Mannschaften; es sucht aber auch nach der gleichen Methode wie der innere Militarismus, die gesamte übrige Bevölkerung zu erfassen.

Der Land-, Wasser- und Luftmilitarismus mit der Technik der dreidimensionalen Kriegführung, der dem Wirtschaftsleben eine ungeheure Zahl der wertvollsten Arbeitskräfte entzieht, verursacht auch rasch ansteigende unmittelbare Kosten von gewaltiger Höhe, die die herrschenden Klassen zwar nach Kräften der großen Masse des Volkes aufzubürden bemüht sind, die aber letzten Endes doch die ganze kapitalistische Wirtschaft als schwere Unkosten treffen. Dadurch wird wiederum die kapitalistische Profitgier verschärft und die internationale Konkurrenz, die Hauptquelle des äußeren Militarismus, verstärkt. Es wird aber in die herrschenden Klassen, die sich um den Anteil an den Lasten des Militarismus streiten, auch ein Moment der Zersetzung getragen und die Aufklärung der Massen über das Wesen des Militarismus und ihre Aufrüttelung zum Kampf gegen den Militarismus wirksam gefördert. Unter dem Druck der materiellen Lasten des Militarismus verkümmern die idealen Kulturaufgaben, nachdem ihnen durch die geistige und moralische Militarisierung und Kapitalisierung bereits der Weg verlegt und einer roh materialistischen Kultur die Bahn geebnet ist.

Da die militärische Stärke der Staaten im weiten Umfang abhängig ist von ihrer materiellen Leistungsfähigkeit, so wirkt der äußere Militarismus und die ihn anspornende internationale militärische Konkurrenz, mag er auch eine drückende wirtschaftliche Bürde bilden, dennoch gerade dadurch als ein scharfer Antrieb für die Entwicklung zum Hochkapitalismus.

Die internationale Spannung steigert sich mit der Zunahme der kapitalistischen Konkurrenz. Mit der Ausbildung der Weltwirtschaft aber nehmen die Internationalisierung des Kapitals und aller Lebensbedingungen und die gegenseitige wirtschaftliche und allgemeine kulturelle Abhängigkeit der einzelnen Staaten zu. Das materielle und politische Risiko eines Krieges wächst ins Ungeheure. Die internationalen Verwicklungen werden immer unübersehbarer, die internationalen Interessengegensätze und Übereinstimmungen stets schwerer erkennbar. Die Ungewissheit der weltpolitischen Lage führt jedoch zu immer größerer Nervosität und Unruhe. Die Schraube ohne Ende des wahnsinnigen Wettrüstens und der schweren militärischen Lasten verstärkt im Verein mit der wachsenden innerpolitischen Unsicherheit die Unerträglichkeit dieses Zustandes. Militaristische Cliquen und einflussreiche militaristische Interessenten, Lieferanten usw. hetzen die chauvinistischen Instinkte der Völker gewissenlos gegeneinander. So wird ungeachtet aller Tendenzen zu einer friedlichen Verständigung der heuchlerisch als Friedenshort gepriesene äußere Militarismus trotz aller Austauschprofessoren, trotz aller Entrevuen, Monarchenbesuche und Monarchenküsse, trotz aller Friedensbeteuerungen und internationalen Höflichkeiten und trotz aller Bündnisse „zur Erhaltung des Friedens" zu einer immer ernsteren, selbständigen Kriegsgefahr.

Der innere Militarismus

Auch die Bedeutung des inneren Militarismus nimmt mit der Fortentwicklung des Kapitalismus schnell zu. Die wachsenden Klassengegensätze, das stets fortschreitende Klassenbewusstsein des Proletariats, das immer mehr die übergroße Mehrheit des Volkes bildet, die stets heftiger werdenden wirtschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen zwischen den herrschenden Klassen und dem Proletariat, nötigen die herrschenden Klassen immer mehr, ihre oligarchische Herrschaft auf das Gewaltmittel des Militarismus zu stützen. Hierbei verbündet sich die kapitalistische Klasse mit den Überbleibseln der herrschenden Klassen früherer Entwicklungsperioden und zieht alle wirtschaftlich rückständigen Elemente der Bevölkerung zu ihrer Hilfe heran.

Kirche und Schule, Wissenschaft und Kunst werden von den herrschenden Klassen in den Dienst gestellt, um im Proletariat nach Kräften denjenigen Geist, diejenige Gesinnung zu sichern und zu erzeugen, die ihnen im Interesse der Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft wünschenswert erscheinen. Die Klassenjustiz dient als Gewaltmittel zum gleichen Zweck der Aufrechterhaltung der Klassenherrschaft. Polizei und Gendarmerie sind Spezialtruppen mit derselben Aufgabe. Das letzte und stärkste Gewaltmittel jedoch ist die Armee; sowohl in den wirtschaftlichen wie in den politischen Kämpfen gegen das Proletariat wird sie als Ultima ratio in täglich stärkerem Maße zur Verwendung gebracht, und zwar in Ländern mit freiheitlicher Verfassung nicht minder als in konstitutionellen Monarchien und in Despotien. Auch in den innerpolitischen religiösen, nationalen und Rassenkämpfen dient die Armee als letztes Mittel der herrschenden Gewalten. Ihre Rolle in der großen Auseinandersetzung des Proletariats mit den ausbeutenden und unterdrückenden Schichten überragt jedoch an Bedeutung diese sporadischen und zufälligen Funktionen bei weitem.

Die Art des für den inneren Militarismus als Gewaltmittel in Frage kommenden Heeres ist – bei der bisherigen geringen Ausbildung des Luftmilitarismus – heute noch regelmäßig das Landheer, weil die inneren politischen Konflikte sich, von Ausnahmefällen abgesehen, auf einem zusammenhängenden Territorium abspielen. Das gegen den inneren Feind zu verwendende Heer braucht nicht denjenigen Entwicklungsgrad, dessen der äußere Militarismus bedarf. Zwar wird auch der innere Feind stets gefährlicher und auch durch seine Massenhaftigkeit, Opferwilligkeit und Energie ein immer ernsterer militärischer Feind. Indessen ist hier auch nicht im entferntesten ein gleiches Tempo der Entwicklung beim inneren Feind festzustellen wie bei der Konkurrenz des äußeren Militarismus, während die Hauptmachtentfaltung des inneren Feindes sich in einer Form vollzieht, die der Bekämpfung durch Waffengewalt entzogen ist.

Die Armee gegen den inneren Feind kann kleiner sein, da sie sich gegen das im Allgemeinen unbewaffnete Proletariat richtet. Und die größere Schwierigkeit, mit der die für den inneren Militarismus erforderliche Psychologie bei den Mannschaften zu erzeugen und zu erhalten ist, legt die Tendenz zur Herausbildung einer Elitearmee geringeren Umfangs gegen den inneren Feind nahe. Diese Tendenz vermag sich jedoch nur unter außergewöhnlichen Umständen durchzusetzen; das Nebeneinanderbestehen zweier verschiedener Armeen ist im Allgemeinen nicht ausführbar. Da jedoch gegen den äußeren Feind auch Reserve, Landwehr und Landsturm in Anwendung kommen, während der innere Feind der Regel nach nur mit den stehenden Kadern bekämpft wird, so liegt eine Differenzierung immerhin bereits deutlich vor. Der innere Militarismus treibt jedenfalls nicht, soweit er der Armee als Gewaltmittel bedarf, zu einer Armee der allgemeinen Wehrpflicht. In dieser Beziehung ist ihm die allgemeine Wehrpflicht sogar unbequem. Er erzeugt daher an und für sich auch nicht wie der äußere Militarismus ein Interesse an der Hebung der Volksgesundheit. Das System des stehenden Heeres ist dem inneren Militarismus am adäquatesten, und zwar in noch höherem Maße als dem äußern Militarismus, weil dieses System am ehesten die Möglichkeit gewährt, den Mannschaften die erforderliche Psychologie einzuflößen. Doch genügen, vermöge ihrer stehenden Kader und mit Hilfe der lokalen und sozialen Translozierung, auch die freieren Heeresorganisationen, zumal sie noch durch besonders scharfe und brutale, zuweilen dem Unternehmertum zur privaten Anmietung verfügbare Polizeitruppen (zum Beispiel Pinkertons) unterstützt zu werden pflegen.

Wenn auch die Dreieinigkeit der Infanterie, Kavallerie und Artillerie sich bei ernsten innerpolitischen Konflikten gegen das Proletariat missbrauchen lassen muss und auch der militärischen Luftflotte hier Lorbeeren in Aussicht stehen mögen, so bedarf es doch schon infolge der andern strategischen und taktischen Bedingungen des Kampfes gegen den inneren Feind an sich nur geringerer Höhe der militärischen Technik. Soweit die Waffentechnik über ein bestimmtes Maß hinausgeht, bringt sie sogar Nachteile und überflüssige Unzuträglichkeiten für den inneren Militarismus mit sich. Folgerichtig erscheinen denn auch in neuester Zeit die besonderen „Streitkugeln". Auch die taktischen und strategischen Methoden müssen beim inneren Militarismus andere sein als beim äußern Militarismus.

Nach alledem birgt die Heeresorganisation, soweit sie zugleich gegen den äußeren und den inneren Feind gerichtet ist, vornehmlich in organisatorischer und technischer Beziehung einen erheblichen Zwiespalt in sich.

Der innere Militarismus stellt der militaristischen Drilltechnik noch schwierigere Aufgaben als der äußere Militarismus. Bei ihm ist es aufs Offenbarste, dass er im ausschließlichen Interesse der herrschenden Klasse die Unterdrückten und Ausgebeuteten als brutale Waffe gegen sich selbst verwendet und diese gegen den inneren Feind gerichtete Waffe noch dazu in schäbiger Perfidie meist von diesem ausgebeuteten und unterdrückten inneren Feind selbst bezahlen lässt. Allerdings kommt ihm zugute, dass die geistigen und moralischen Qualitäten der gegen den inneren Feind zu verwendenden Truppen die geringsten sein können, ja, dass die dümmsten und stumpfsinnigsten Soldaten für diese Zwecke sogar die besten sind. Da der äußere Militarismus hier jedoch höhere Anforderungen stellen muss und durch die kapitalistische Entwicklung, durch die Bedürfnisse des profitgierigen Kapitalismus selbst, eine fortgesetzte geistige Hebung der Massen unausweichlich veranlasst wird, da die soziale Aufklärung und die Entwicklung des Klassenbewusstseins mit der Zuspitzung der Klassengegensätze und des Klassenkampfes extensiv und intensiv weiter fortschreiten, so ist dem inneren Militarismus mit seiner geistigen und moralischen Bedürfnislosigkeit nicht viel geholfen.

Ein raffiniertes System der sozialen und politischen Verdummung und Verwirrung, der Demoralisation und Korruption, des Drills und der Brutalisierung setzt ein. Mit dem Zuckerbrot alles erdenklichen militärischen Firlefanzes und der, freilich auch das Proletariat zum Kampf gegen den Militarismus aufpeitschenden Peitsche der militärischen Disziplin, der Militärjustiz und der Soldatenmisshandlungen wird gearbeitet. Verlogene Ideale sucht man unter schnödem Missbrauch auch der edelsten menschlichen Eigenschaften, der Selbstlosigkeit, der Aufopferungsbereitschaft, der Hochherzigkeit und Begeisterungsfähigkeit, und unter Ausnützung aller menschlichen Kleinlichkeiten und Schwächen in die Köpfe und Herzen der Söhne des Proletariats einzupflanzen. Dieses heuchlerische, infame Erziehungssystem versagt sich natürlich auch nicht die Ausnutzung der Religion und der Kirche für seine Zwecke.

Die Herausbildung eines hündischen Kadavergehorsams und eines Landsknechtsübermutes gegen die Masse der Zivilbevölkerung ist das erstrebte Ziel, das die Soldaten geeignet machen soll, Streikbrecherdienste zu leisten und bei wirtschaftlichen und politischen Konflikten auf die eigenen Klassengenossen, auf Vater, Mutter und Geschwister zu schießen.

Der innere Militarismus setzt sich aber nicht nur die Herandrillung einer zur gewaltsamen Niederwerfung des inneren Feindes geeigneten Armee zur Aufgabe, sondern auch eine Beeinflussung der gesamten Bevölkerung im Interesse der herrschenden Mächte. Auch dies gilt beim inneren Militarismus in noch höherem Grade als beim äußeren. Hier wirken Land-, Wasser- und Luftmilitarismus zusammen. Das Erziehungssystem des inneren Militarismus sucht den Mannschaften nach Kräften auch diejenigen geistigen und moralischen Eigenschaften anzudrillen, die sie nach ihrer Entlassung geeignet machen, den herrschenden Klassen in wirtschaftlicher und politischer Beziehung als nützliche Elemente zu dienen.

Der Kreis der vom Militarismus unmittelbar oder mittelbar abhängigen Personen wird über die eigentliche Armeeorganisation hinaus immer mehr erweitert. Hierher gehören das Reserveoffizier- und Reserveunteroffizierwesen, die Militäranwärterschaft, die freiwilligen Automobil- und Luftschifferkorps, die Krieger-, Flotten-, Veteranen- und Schützenvereine, die im wirtschaftlichen und politischen Kampfe mit immer offenerem Zynismus für die herrschenden Klassen eingespannt werden. Auf die in den militärischen Wirtschaftsbetrieben beschäftigten Personen (Militärwerkstättenarbeiter, Werftarbeiter usw.) wird mit Hochdruck eingewirkt, und diejenigen Unternehmer, die sich als Militärlieferanten in unmittelbarer Abhängigkeit vom Militarismus befinden, werden angetrieben, ein Gleiches zu tun. Auch durch den Militärboykott werden dem kämpfenden Proletariat Schwierigkeiten bereitet. Durch militärischen Prunk sucht man die Gesamtbevölkerung zu kaptivieren. Kirche, Schule, Wissenschaft werden zur Glorifizierung des Militarismus in immer höherem Maße prostituiert. Weitverzweigte, unter dem Einfluss der Kirche, des Staates und der herrschenden Klassen stehende Jugendorganisationen, denen man vielfach auch die aktiven Mannschaften des Militärs zur Organisation und Agitation ausliefert und aus öffentlichen Kassen bedeutende Zuwendungen macht, dienen dem gleichen Zweck. Das ganze bürgerliche Leben wird mehr und mehr militarisiert.

Krieg dem Kriege

Der äußere wie der innere Militarismus ist ein Werkzeug in den Händen der herrschenden Klassen für die Interessen der herrschenden Klassen. Er ist die festeste Schutzwehr und das wirksamste Unterdrückungs- und Ausbeutungsinstrument der herrschenden Klassen. Er gibt diesen die Möglichkeit, auch gegen den Willen der großen Mehrheit des Volkes wenigstens für geraume Zeit ihre Herrschaft aufrechtzuerhalten, und ist ein Hindernis der friedlich-organischen Fortentwicklung der Gesellschaft. Er ist eine immer unerträglichere wirtschaftliche, politische und moralische Last für die Masse des Volkes und eine Gefährdung des Völkerfriedens. Wenn er auch zur Ausbildung einer terroristischen Autokratie neigt, so ist er an sich nicht Selbstzweck, sondern nur die Schutz- und Trutzerscheinungsform aller ausbeutenden und unterdrückenden Mächte, die Reaktion und der Kapitalismus in Waffen.

Er birgt in sich selbst zahlreiche Widersprüche. Seine Interessen und Bedürfnisse stehen vielfach im Gegensatz zu den unmittelbaren Profitinteressen des Kapitalismus, dem er doch in letzter Linie zu dienen bestimmt ist. Wichtige Entwicklungstendenzen des Kapitalismus selbst wirken zur Untergrabung seiner Voraussetzungen. Dieser dialektische Zersetzungsprozess geht neben dem allgemeinen dialektischen Zersetzungsprozess des Kapitalismus einher, und der allgemeine Kampf gegen den Kapitalismus und gegen alle Reaktion trifft auch den Militarismus mit. Dennoch ist bei seiner besonderen Gefährlichkeit eine spezialisierte und besonders energische Bekämpfung eine Lebensnotwendigkeit für das Proletariat.

Das Proletariat, der Feind und künftige Überwinder aller Ausbeutung und Unterdrückung, der Träger der internationalen proletarischen Solidarität und des Völkerfriedens, ist der geborene Feind des Militarismus, der geborene Träger des Antimilitarismus als eines Teiles des allgemeinen internationalen Befreiungskampfes des Proletariats. Das Proletariat steht der Klassenherrschaft und dem heutigen Staat, jener Zwangsorganisation des Volkes im Interesse der herrschenden Klassen, die sich gegen das Proletariat und gegen die organische Fortentwicklung des Volksganzen richtet, unversöhnlich gegenüber. Es erklärt dem Kriege den Krieg und beantwortet den von den herrschenden Klassen ausgestreuten Chauvinismus und ihre Kriegstreibereien, indem es sich die Hände über alle Grenzen hinweg zustreckt mit dem Gelöbnis der internationalen Solidarität und der Kampfesbrüderschaft gegen jene heute herrschenden Gewalten, den gemeinsamen Feind.

Der Kampf gegen den Militarismus befruchtet den Emanzipationskampf des Proletariats und ist besonders geeignet, alle revolutionären Energien zu entfesseln; er trägt dazu bei, den herrschenden Klassen das Gefühl der Sicherheit und damit einen Teil ihrer Widerstandskraft zu rauben.

Er verfolgt das Ziel, den Militarismus nach außen und innen für die herrschenden Klassen und gegen das Proletariat untauglich zu machen. Die Zersetzung der für den Militarismus erforderlichen Psychologie in der Gesamtbevölkerung, insbesondere in allen unter dem Militarismus seufzenden Schichten des Volkes, in allen zu seiner Stütze dienenden Einrichtungen und Organisationen und in der Armee selbst, und die Ersetzung dieser Psychologie durch die den Interessen des Proletariats entsprechende ist der Weg zu diesem Ziel. Die hierzu erforderlichen und geeigneten Methoden haben sich je nach den besonderen Bedürfnissen und Möglichkeiten der einzelnen Länder zu richten. Die grundlegenden sind: unermüdliche Aufklärung über das wahre Wesen des Militarismus und seiner Helfershelfer; unablässige Brandmarkung der militaristischen Schädlichkeiten und Ausschreitungen; Propaganda für alle zur Abschwächung des Militarismus geeigneten Maßregeln (Schiedsgerichte, Abrüstung, Volksheer) und Erziehung des Proletariats im Geiste des Sozialismus zum proletarischen Klassenstolz, zur internationalen proletarischen Solidarität und zum Bewusstsein, dass der Soldat, wenn er den bunten Rock anzieht, den Bürger nicht auszieht; Förderung kühner und rücksichtslosester Opferbereitschaft und Opferfreudigkeit; kurzum, Ausbreitung, Veredelung, Vertiefung und Anfeuerung des Klassenkampfgeistes, in dessen Zeichen das Proletariat allein siegen kann. Die Erziehung der Jugend in diesem Geiste ist eine der wichtigsten Aufgaben des kämpfenden internationalen Proletariats. Die selbständige Jugendbewegung des Proletariats wiederum ist das wertvollste Mittel zu dieser Erziehung.

Über die Art, wie die Pflichten der Solidarität in jedem einzelnen Falle zu erfüllen sind, hat unter Innehaltung der im Beschluss des Stuttgarter Kongresses niedergelegten Grundsätze die Arbeiterbewegung jedes Landes je nach ihren Verhältnissen und Kräften zu entscheiden. In diesem Sinne wird in Übereinstimmung mit dem Stuttgarter Beschluss, den sich die Jugend-Internationale in allen Punkten zu eigen macht, die proletarische Jugend zum Kampf gegen den Militarismus in allen seinen Formen aufgerufen.

Nach längerer Diskussion werden die Thesen Liebknechts unter Streichung der Forderung nach Schiedsgerichten, Abrüstung und Volksheer und Hinzufügung der allgemeinen Forderung: Propaganda für die Abschaffung des Militarismus einstimmig angenommen.

1 Gemeint ist die Resolution „Der Militarismus und die internationalen Konflikte", angenommen auf dem Stuttgarter Kongress der II. Internationale 1907. Die Red.

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