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Karl Liebknecht 19100223 Die preußische Reaktion und der Wille des Volkes

Karl Liebknecht: Die preußische Reaktion und der Wille des Volkes

Zeitungsbericht über eine Rede in Nowawes

[Brandenburger Zeitung Nr. 52 vom 2. März 1910. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 3, S. 110-113]

Zu einer eindrucksvollen Kundgebung gegen die preußische Reaktion gestaltete sich eine in voriger Woche im Singerschen Lokal in Nowawes abgehaltene Volksversammlung, in welcher der Landtagsabgeordnete Genosse Dr. Karl Liebknecht über das Thema „Preußen-Deutschlands politische Lage" referierte. Schon lange vor Beginn der Versammlung war der geräumige Saal bis auf den letzten Platz gefüllt. Um den immer noch heranrückenden Scharen Einlass zu verschaffen, mussten Tische und Stühle entfernt werden. Vor zirka 2000 Personen, Männern und Frauen, führte Genosse Liebknecht, oft von lebhaftem Beifall unterbrochen, etwa folgendes aus:

Bethmann Hollwegs Vorgänger, Fürst Bülow, hat sich beim Scheiden aus dem Kanzleramt das Lob erteilt, an dem „Niederreiten" der Sozialdemokratie durch „rednerische Überwindung ihrer Führer" in erster Linie beteiligt gewesen zu sein. Was es mit dem Niederreiten auf sich gehabt hat, wird wohl jetzt den „nationalen" Parteien klargeworden sein. Der Ausfall der Hottentottenwahlen im Jahre 19071 war ein Zufallssieg der Reaktion, der dem deutschen Michel allerdings teuer zu stehen gekommen ist. Die nützlichsten „Freunde" der Sozialdemokratie sind ihre Feinde. Die herrschenden Klassen begehen Dummheiten über Dummheiten. So hat die Reichsfinanzreform gezeigt, dass wir in einem Klassenstaate leben, in welchem dem ärmsten Teil der Bevölkerung immer neue Lasten auferlegt werden. Die Reichsfinanzreform hat außerordentlich aufklärend auf die Massen gewirkt, das beweisen die Nachwahlen zum Reichstag, bei denen die Parteien des Schnapsblocks2 außerordentlich schwere Niederlagen erlitten haben. Aber auch sonst sorgt die Reaktion wider ihren Willen für Aufklärung. Durch das rigorose Vorgehen gegen die streikenden Mansfelder Bergleute mit Polizei, Militär und Maschinengewehren ist dem Volke eine recht deutliche Lehre erteilt worden.

Nun hat in Preußen der Kampf um das freie Wahlrecht eingesetzt. Wer für den Fortschritt in Preußen kämpft, unternimmt scheinbar eine Sisyphusarbeit, der Riese Proletar aber hat schon fest zugegriffen, damit der „Stein" nicht wieder zurück rollt. Wir sind auf dem besten Wege, einen politischen Fortschritt zu erringen. Mag das preußische Junkertum auch noch heute seine Herrschaft ausüben und die Regierung beeinflussen, auf die Dauer wird es ihm nicht möglich sein, ein politisch reifes Volk zu gängeln. Das preußische Junkertum ist die rückständigste Klasse; außerdem ist es aber auch feige, denn es versteckt sich hinter Bajonette und Polizeisäbel. Seine Feigheit hat es ja auch hinlänglich im Jahre 1806 bewiesen.

Welchen Einfluss die Junker auf die Regierung ausüben, lässt so recht das Verhalten der Regierungsmänner im Abgeordnetenhaus erkennen. Man muss es gesehen haben, wie die Minister bei jeder Gelegenheit ängstlich nach rechts schauen, wie die Rechte die Minister abkanzelt und wie die Minister klein beigeben. Wer solche Szenen beobachtet hat, kommt zu dem Urteil, dass die Minister nur gefügige Handlanger der Junker sind. Der Minister, der die Forderung des Volkes erfüllen wollte, würde keinen Tag länger im Amte bleiben.

Das Volk hatte sich infolge der Verheißungen in der Thronrede einer Hoffnung hingegeben, die sich als eine Fata Morgana erwiesen hat.3 Das Proletariat ist dadurch begreiflicherweise in große Erregung geraten. Die Wahlrechtsvorlage ist ein Versuch, die Wählerklassen derart abzugrenzen, dass die breite Masse der arbeitenden Bevölkerung keine Mandate erhält. Man wollte ein Privilegium für die Militäranwärter schaffen.

Der Redner kritisierte bei der Besprechung der Kommissionsberatungen die verräterische Haltung des Zentrums, das einen Kompromiss mit den Konservativen abgeschlossen hat, nach dem die beiden Parteien für die geheime Wahl eintreten, im Übrigen aber die Drittelung und das Wahlmänner System beibehalten wissen wollen.

Das Gesetz schreibt vor, dass die Wahlmänner nur aus dem Bezirk genommen werden dürfen, in dem sie wohnen. Durch diese Bestimmung würde es den oppositionellen Parteien und besonders der Sozialdemokratie in vielen Fällen unmöglich gemacht werden, Leute zu finden, die sich als Wahlmänner aufstellen lassen.

Der Kampf des Proletariats um das freie Wahlrecht hat erst begonnen. Der 13. Februar war ein Ehrentag für die preußische Arbeiterbewegung. Die Polizei hat in Frankfurt am Main, Halle, Königsberg und Neumünster in sinnloser Weise auf die Menge eingehauen. Der Minister des Innern schiebt die Schuld auf die Sozialdemokratie. Wir aber wissen uns frei von jeder Schuld an den blutigen Vorkommnissen; wo Demonstranten zur Selbsthilfe geschritten sind, haben sie sich in der Notwehr befunden. Das Proletariat wünscht, sein Ziel auf friedlichem Wege zu erreichen, es wird sich aber nicht geduldig mit dem Polizeisäbel abschlachten lassen. Die Verantwortung trifft nicht die Unterbeamten, sondern den Minister des Innern. Es ist das gute Recht des Volks zu demonstrieren; selbst das Kammergericht hat Straßendemonstrationen für erlaubte Äußerungen des Volkswillens erklärt. Das Proletariat wird sich auch in Zukunft nicht durch Browningpistolen und Polizeisäbel einschüchtern lassen, hat es doch im täglichen Daseinskampf gelernt, kaltblütig den schwersten Gefahren entgegenzusehen. Die Regierung treibt ein gefährliches Spiel; die Proletarier im Waffenrock werden sich schließlich nicht mehr zur Unterdrückung des Volkes verwenden lassen, denn das Gefühl der Klassenzugehörigkeit bricht sich auch in ihren Reihen immer mehr Bahn. Die Geschichte hat gelehrt, dass für die Herrschenden nie weniger Verlass auf das Militär gewesen ist, als wenn es gegen das eigene Volk aufgeboten wurde. Eine Regierung, die sich nur auf ihre militärische Macht stützen wollte, könnte auf die Dauer nicht bestehen. Die preußische Regierung soll sich daher nicht einbilden, dass sie durch ihre Gewalttaktik das Proletariat einschüchtern kann. Alle Zeichen deuten darauf hin, dass das Volk sich des Ernstes der Situation bewusst ist. Wir wollen nicht, dass alle Opfer umsonst gebracht worden sind. Es muss der Regierung gezeigt werden, dass das bisher so geduldige Volk es müde ist, noch länger die Junkerherrschaft zu dulden. Und die Massen befinden sich bereits in einer so frohgemuten Kampfstimmung, dass es für die Freunde des Fortschritts „eine Lust zu leben" ist. Das Proletariat muss sich stets bewusst sein, dass es der Träger einer großen Kulturidee ist. Wenn die Regierung auf ihrem reaktionären Standpunkt beharrt, so wird das Proletariat in den politischen Massenstreik hineingetrieben. Das Proletariat wird nicht eher ruhen, als bis die preußische Junkerfeste sowie das elendste aller Wahlsysteme beseitigt und das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht erobert ist. (Stürmischer, lang anhaltender Beifall.)

Eine Diskussion fand nicht statt. Unter brausenden Hochrufen auf das freie Wahlrecht verließen die Versammelten den Saal. Die Wahlrechtswelle steigt!

1 1906 löste Reichskanzler von Bülow den Reichstag auf, weil außer den Sozialdemokraten nun auch das Zentrum zusätzliche Mittel zur Niederschlagung der um ihre Freiheit kämpfenden Eingeborenen Deutsch-Südwestafrikas, vor allem der „Hottentotten“ (=Nama), verweigert hatte. Die Neuwahlen am 25. Januar 1907, die sogenannten Hottentottenwahlen, gewann unter beispiellosem Terror gegen die Sozialdemokratie und durch chauvinistische Verhetzung ein „regierungsfreundlicher" Block aller liberalen und konservativen Parteien, der Hottentottenblock.

2 Gemeint ist das Zusammengehen der Konservativen und des Zentrums 1909 im Reichstag bei der Festlegung von unterschiedlichen Steuersätzen für kontingentierten und nichtkontingentierten Branntwein, die den Junkern mit ihrem Monopol an Schnapsbrennereien pro Hektoliter Branntwein eine zusätzliche Einnahme von 20 Mark garantierte. Der sogenannte Schnapsblock aus Konservativen und Zentrum setzte 1909 die Aufrechterhaltung dieser Vergünstigung für die Junker durch.

3 Nachdem die preußische Regierung durch Wilhelm II. bereits seit dem Jahre 1908 eine organische Fortentwicklung des Wahlrechts zum preußischen Abgeordnetenhaus angekündigt hatte, veröffentlichte die Regierung Bethmann Hollweg am 4. Februar 1910 einen diesbezüglichen Gesetzentwurf, der nichts am Wesen des reaktionären Dreiklassenwahlsystems änderte. Diese Wahlrechtsvorlage war eine Verhöhnung der Volksmassen. War es den Konservativen gemeinsam mit dem Zentrum bereits im Abgeordnetenhaus gelungen, den Gesetzentwurf weiter zu verschlechtern, so wurde dieser in den anschließenden Beratungen des preußischen Herrenhauses noch reaktionärer gestaltet. Bei der Beratung im Abgeordnetenhaus am 27. Mai konnte keine Verständigung gefunden werden, so dass die Regierung die Wahlrechtsvorlage zurückzog.

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