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Karl Liebknecht 19100606 Gegen die preußische Verwaltungswillkür

Karl Liebknecht: Gegen die preußische Verwaltungswillkür

Reden im preußischen Abgeordnetenhaus zur Begründung eines sozialdemokratischen Antrages auf gesetzliche Neuregelung der Verwaltungsverfügungen

[Nach Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 21. Legislaturperiode, III. Session 1910, 5. Bd., Berlin 1910, Sp. 6586-6594 6596 und nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 3, S. 397-411]

I

Meine Herren, es handelt sich hier um einen Antrag, von dem ich annehme, dass seine praktische Wichtigkeit jedem Einzelnen von Ihnen, der in der Verwaltung steht oder gestanden hat, deutlich zum Bewusstsein gekommen sein dürfte. In Preußen ist ja bisher eine eigentliche Regelung des Rechtes der Polizei und der Verwaltung im Allgemeinen, ihren Willen zwangsweise durchzuführen, nicht getroffen. Wir haben allerdings in dem Gesetze über die Zuständigkeit der Verwaltungsbehörden und in dem Landesverwaltungsgesetz einige Bestimmungen, die dazu bestimmt sind, Garantien zu verleihen gegenüber der Zwangstätigkeit der Polizeiverwaltung und der Verwaltung im Allgemeinen. Aber es handelt sich da im Wesentlichen doch nur um das sogenannte Verwaltungsstreitverfahren. Und dieses Verwaltungsstreitverfahren – wobei ich im weiteren Sinne auch das Beschwerdeverfahren im Verwaltungswege mit umfasse, ausschließe allerdings andererseits die Aufsichtsbeschwerde – ist weit davon entfernt, eine wirkliche Garantie zur Vermeidung von Übergriffen der Verwaltung bieten zu können, und zwar aus den verschiedensten Gründen. Die Gründe, die hier zu der Auffassung führen müssen, dass Remedur geschaffen werden muss, ergeben sich in ihrem logischen Zusammenhang aus den Punkten a bis e, die wir in unserem Antrag formuliert haben.

Zunächst ist nirgends eine Bestimmung darüber getroffen, in welcher Weise es verhindert werden kann, dass Verwaltungsverfügungen erlassen werden, die tief in die Rechte Dritter eingreifen, ohne dass die Betreffenden, die unter Umständen aufs Schwerste geschädigt werden, die Möglichkeit haben, vor diesem so ungemein wichtigen Eingriff in einer gesetzlich geordneten Weise gehört zu werden. In allererster Linie muss auf diese bedauerliche Tatsache hingewiesen werden, dass wir im weitesten Umfang überhaupt noch jedes geregelten Verfahrens entbehren, das uns gegenüber den Verwaltungsmaßregeln Schutz gewährte. Wenn die Verwaltung eine Maßregel treffen will, wenn sie zum Beispiel einen Brunnen, eine Schankwirtschaft oder eine Fabrik schließen will, weil diese letztere zum Beispiel irgendwelche schädliche Immissionen macht, wenn sie jemanden, beispielsweise einen Ausländer, ausweisen oder andere Maßregeln ergreifen will, die aufs tiefste in die Interessen dritter Personen eingreifen, so braucht der Betreffende davon auch nicht das Geringste zu wissen. Es ist durchaus innerhalb der Grenzen der Gesetze, wenn die Polizeibeamten kommen und sofort exekutieren, also die Tür zunageln, die Fabrik schließen oder den Ausweisungsbefehl ausführen, ihn vielleicht im letzten Augenblick erst zustellen.

Wir haben eigentlich positive Grenzen für die Gebiete, innerhalb deren die Verwaltung tätig zu sein befugt ist, in Preußen gar nicht. Die Polizei ist überall da zuständig, wo ihr die Zuständigkeit nicht ausdrücklich durch Spezialgesetze entzogen ist, und daraus ergibt sich ein ganz unbegrenztes Gebiet der Zuständigkeit für die Verwaltung. Es ist, wie ich schon früher gesagt habe, nur ein ganz dünner Firnis von Rechtsstaat, der bisher über den Polizei- und Verwaltungsstaat Preußen ausgebreitet ist. Innerhalb der gewaltigen Gebiete der polizeilichen und sonstigen Verwaltungszuständigkeit hat die Polizei die Möglichkeit, in dieser Weise vorzugehen, und die Verwaltung kann ihre Maßregeln treffen, ohne dass der Betreffende im geringsten die Sicherheit besitzt, vorher in geordneter Weise gehört zu werden; wenigstens braucht er nicht gehört zu werden. Ich gebe ja gern zu, dass die Verwaltung im Allgemeinen nicht so rigoros zu verfahren pflegt und den Betreffenden sehr oft Gelegenheit gibt, vorher von dem Kenntnis zu bekommen, was die Verwaltung vorhat. Aber auf der andern Seite besteht die Möglichkeit nicht, in einem geordneten Verfahren das Für und Wider in Bezug auf eine geplante Verwaltungsmaßregel bei der Instanz zu Gehör zu bringen, die schließlich die Entscheidung zu fällen hat. Ich meine, eine solche Möglichkeit müsste gegeben sein.

Ein verehrtes Mitglied dieses Hauses hat mich unserm Antrag gegenüber darauf hingewiesen, dass er zu weit gehe, weil gewisse polizeiliche Eingriffe müssten ausgeführt werden können, ohne dass vorher eine mündliche Verhandlung möglich oder doch nötig sei. Ich gebe zu, dass es derartige Fälle gibt und dass gerade eine ganze Anzahl Fälle des täglichen Lebens dazugehören würden. An derartige Fälle ist auch gedacht, denn in unserm Antrag ist das Wort „regelmäßig" enthalten; eine mündliche Verhandlung soll also in der Regel, wo es nämlich technisch und praktisch überhaupt durchführbar ist, stattfinden. Ich möchte bitten, an dieser etwas allgemeinen Fassung unseres Antrages nicht Anstoß zu nehmen und aus diesem formalen Bedenken heraus sich unserem Antrag gegenüber nicht prinzipiell ablehnend zu verhalten.

Meine Herren, es muss des weiteren der Punkt b als im höchsten Grade wichtig bezeichnet werden, nach dem

alle Verwaltungsverfügungen bei Vermeidung ihrer Unwirksamkeit eingehend spezialisiert und unter genauer Angabe der Beweismittel schriftlich zu begründen sind.“

Meine Herren, wir haben in Preußen ein Gesetz – ich glaube, es ist aus dem Jahre 1879 , wonach die polizeilichen Strafverfügungen mit einer Begründung versehen sein und auch das angewandte Gesetz und die Beweismittel enthalten müssen. Das gilt für die polizeilichen Strafverfügungen kriminellen Charakters, die der Regel nach, wenn sie auch oft prinzipiell sehr wichtige Dinge betreffen, doch im Einzelfalle sehr häufig nur in geringem Umfange einzugreifen pflegen, weil die verhängten Geldstrafen doch meist nur niedrig sind. Hier haben es die Justizverwaltung und die gesetzgebende Gewalt für nötig gehalten, dafür zu sorgen, dass eine Garantie gegen eine willkürliche Verhängung willkürlicher Polizeistrafen geschaffen wird. Es besteht in Bezug auf die Formulierung der im Allgemeinen, ich möchte sagen, viel wichtigeren polizeilichen Zwangsverfügungen eine derartige Bestimmung in Preußen nicht. Es gibt überhaupt keine Bestimmung über die Form dieser Verwaltungsverfügungen; jede Behörde kann diese Verwaltungsverfügungen abfassen, wie sie will. Wir haben sie in vollkommenster Formlosigkeit vor uns; es werden oft sogar mündliche Anordnungen im Sinne polizeilicher Zwangsverfügungen behandelt. Meine Herren, dieser Zustand ist in der Tat, wie mir scheint, unerträglich. Die praktischen Konsequenzen sind sehr erheblich, und wer Gelegenheit hat, sich viel mit Verwaltungssachen zu befassen, weiß, in wie weitem Umfange den privaten Interessen oftmals Unrecht geschieht, wie die von den Verwaltungszwangsverfügungen betroffenen Personen den Verwaltungsbehörden gegenüber vollkommen hilflos und machtlos sind, weil es ihnen nicht gelingt, von der Verwaltungsbehörde die Gründe ihres Vorgehens zu erfahren, die die Verwaltungsbehörde nach dem Gesetz auch anzugeben mindestens nicht ausdrücklich verpflichtet ist.

Meine Herren, ich darf auf die Fälle hinweisen, die Ihnen ja praktisch natürlich nicht naheliegen, die aber doch schon im menschlichen Interesse die allerhöchste Beachtung erfordern. Ich will von der Ausweisung von Ausländern sprechen. In Bezug auf diese Ausweisung von Ausländern ist in unserem Gesetz leider die sehr bedauerliche und unserer Ansicht nach schnell zu beseitigende Bestimmung enthalten, dass gegen solche Verfügungen die Klage beim Oberverwaltungsgericht nicht zulässig ist. Aber immerhin sind die Rechtsmittel bis zur Klage beim Verwaltungsgericht, Verwaltungsrechtsmittel, Verwaltungsbeschwerden, nach den Grundsätzen des Landesverwaltungsgesetzes gegeben. Meine Herren, wie sehen die Ausweisungsverfügungen aus, die oftmals Leute bekommen, die schon Jahrzehnte hindurch in Deutschland ansässig sind und nun plötzlich mit Kind und Kegel über die Grenze abgeschoben werden sollen! Früher war im Berliner Polizeipräsidium die Praxis, nichts anderes zu schreiben als: „Sie haben als Ausländer kein Recht, sich in Preußen aufzuhalten; deshalb werden Sie ausgewiesen." Nachdem diese Fassung, die den völkerrechtlichen Grundsätzen allerdings ins Gesicht schlägt, allzu böses Blut gemacht hatte, wahrscheinlich auch in den Kreisen, auf die das Polizeiministerium größeres Gewicht zu legen pflegt, hat man die auch sonst schon mit angewandte Form zur allgemeinen Form erhoben und gesagt: „Da Sie sich als Ausländer lästig gemacht haben, werden Sie aus dem preußischen Staatsgebiete ausgewiesen." Das Wort „lästig" ist das einzige, was zur Begründung angegeben wird. Nun habe ich Hunderte von Fällen in Händen gehabt, in denen die betroffenen Personen sich nicht einmal politisch „lästig" gemacht hatten, politisch ganz neutral gewesen waren und sich durchaus nicht denken konnten, was die Veranlassung dazu gab, ihnen den weiteren Aufenthalt in Preußen unmöglich zu machen. Man wandte sich an das Polizeipräsidium mit – ich möchte fast sagen – flehentlichen Bitten, schriftlichen und mündlichen. Ich persönlich habe mich wiederholt überwunden, in solchen Sachen zum Polizeipräsidium zu gehen. Man wird kühl empfangen, wird kühl behandelt und kühl abgewiesen. Die Polizei weigert sich, einem die Gründe in irgendeiner Form anzugeben; man hat kein Recht auf Gründe und bekommt die Gründe nicht zu wissen. Meine Herren, das ist doch eine Sache, die, ich möchte sagen, auf das Unmenschlichste in die Interessen des Einzelnen eingreift. Bedenken Sie doch, wie leicht es möglich sein kann, auf diesem Gebiete genau wie auf anderen Gebieten, dass durch Remonstrationen, durch Klarstellung des Sachverhaltes Missverständnisse aufgeklärt werden, irgendein Bedenken, das die Verwaltungsbehörde hat und das sie veranlasst hat, die Ausweisung zu verhängen, als gegenstandslos erwiesen wird. Meine Herren, die Verwaltungsbehörde ist nicht verpflichtet – und sie tut es grundsätzlich nicht –, die Gründe anzugeben, aus denen sie zu einer so tief einschneidenden Maßnahme schreitet. Eine Ausweisung ist viel einschneidender als ein paar Jahre Gefängnis; ganze Existenzen werden vernichtet; aber man ist hilflos, sich zu schützen oder auch nur sich zu rechtfertigen. Das ist in höchstem Maße bedauerlich.

Genau dasselbe, was hier bei Ausweisungen stattfindet, findet in anderen Fällen ebenfalls statt, und es kann schließlich jedem Einzelnen passieren, dass er so, ohne dass die Verwaltungsbehörde Gründe angibt, von der Verwaltungsbehörde scharf gepackt und hilflos ihren Zwangsmaßregeln ausgesetzt wird. Deshalb dürfte es wohl nicht zu viel verlangt sein, wenn wir die Anforderung erheben, dass in Bezug auf diese Verwaltungszwangsverfügungen dieselben Vorschriften in formaler Art getroffen werden, wie sie bei der polizeilichen Strafverfügung bereits gegenwärtig bestehen.

Und, meine Herren, nicht nur das. Ich darf hier darauf hinweisen, dass in den süddeutschen Staaten wiederum auch hier uns ein Vorbild gegeben ist, durch das gleichzeitig erwiesen ist, dass das, was wir Sozialdemokraten in diesem Falle verlangen, weit davon entfernt ist, in das Bereich Utopiens zu gehören. Meine Herren, in Baden insbesondere ist es gegenwärtig bereits Vorschrift, so wie wir hier formuliert haben, dass die Verwaltungsverfügungen begründet sein müssen, dass die Beweismittel angegeben werden müssen und dass diese Begründung in einer spezialisierten und genauen Weise zu erfolgen hat.

Meine Herren, wir haben ja auch in Preußen hier und da einzelne Behörden, die eine oder die andere Verfügung begründen; aber, wie gesagt, es ist eine Ausnahme. Jedenfalls besteht keine Möglichkeit, eine Begründung zu erzwingen, und das ist ein Zustand, der unter keinen Umständen mehr aufrechterhalten werden kann.

Dann, meine Herren, fordern wir, dass der Rechtsweg über alle Verwaltungsmaßregeln eröffnet wird. Das scheint mir nicht zu weit, zu gehen. Dem müssten Sie alle hier im Hause, soweit Sie nicht die Interessen der Verwaltung viel mehr als die Interessen der Freiheit der Bürger vertreten, Ihrerseits beistimmen.

Meine Herren, Sie werden vielleicht zum Teil fragen: Ja, haben wir denn bisher diesen Rechtsweg über die Verwaltungsmaßregeln noch nicht? Meine Herren, wir haben den Rechtsweg wenigstens in der Form des uns durchaus nicht genügenden Verwaltungsstreitverfahrens bisher allerdings schon auf vielen Gebieten, aber durchaus nicht überall; ich habe hier nur nötig, auf ein weites Gebiet der Verwaltung hinzuweisen, wo heute noch keine Möglichkeit besteht, in irgendeiner Weise in dem geordneten Rechtsmittelverfahren sich zu schützen gegenüber Eingriffen und Übergriffen der Verwaltung. Das ist das Gebiet der Schulverwaltung, das schlechterdings dem Verwaltungsstreitverfahren noch entzogen ist. Alle Maßregeln, die auf dem Gebiete der Schulverwaltung getroffen werden, können nur dadurch eine Remedur erfahren, dass man den Teufel beim Beelzebub verklagt, dass man gegen den Kreisschulinspektor beim Regierungspräsidenten, beim Oberpräsidenten oder beim Kultusministerium Beschwerde führt. Meine Herren, es gibt da nur die Aufsichtsbeschwerde, nicht einmal eine Verwaltungsbeschwerde; es gibt überhaupt nicht Rechtsmittel im technischen Sinne des Wortes gegen irgendwelche Maßregeln, die von der Schulaufsichtsbehörde getroffen worden sind. Zu welchen Konsequenzen das führt, darüber ist in diesem Hohen Hause bereits oft genug gesprochen, und Sie entsinnen sich, welche lebhaften Beschwerden wir in der Lage waren vorzubringen über die offensichtlichen Ungesetzlichkeiten, mit denen die preußische Schulverwaltung gegen den Turnunterricht vorgeht, der von Turnvereinen an Jugendliche erteilt wird. Dass diese Maßregeln ungesetzlich sind, ist uns im ordentlichen Rechtswege wiederholt bestätigt worden, insbesondere jüngst wieder durch ein Berliner Schöffengericht und einige Monate vorher, im November vorigen Jahres, durch das von mir wiederholt zitierte Urteil des Landgerichts I Berlin.

Neulich ist von dem Herrn Kultusminister der Versuch unternommen worden, in der Judikatur des Oberverwaltungsgerichts eine Begründung für seinen Standpunkt hervor zu suchen, den Standpunkt, um den es sich allein handelt, dass die Schulverwaltung auch das Recht hat, über das schulpflichtige Alter hinaus Zwangsverfügungen zu treffen. Es ist Ihnen ja allen noch bekannt, welches Malheur dem Herrn Kultusminister dabei passierte, wie ihm von einem seiner hilfsbereiten Räte eine Entscheidung in die Hand gedrückt wurde, die sich mit dieser Frage überhaupt nicht beschäftigt, sondern damit, ob es zulässig ist, einem Sozialdemokraten wegen seiner sozialdemokratischen Gesinnung die Unterrichtserlaubnis zu verweigern. Meine Herren, wir sind aber diesen vom Unterrichtsministerium unausgesetzt weiter ausgeübten Maßregeln gegenüber vollständig hilflos. Wir haben die Entscheidung des Gerichts; das Gericht gibt uns das Recht, diesen Unterricht weiter erteilen zu lassen, und den Turnvereinen das Recht, diesen Unterricht weiter zu erteilen;

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

die Polizeibehörde pfeift darauf, sie erlässt heute wie gestern Verfügungen; und da möge ihr die ganze preußische Justiz den Buckel runterrutschen, möchte ich sagen. Das ist in höchstem Maße bedauerlich. Dieser widerspruchsvolle Dualismus würde in einem gewissen Umfange wenigstens dadurch beseitigt werden können, dass man das Verwaltungsstreitverfahren auch auf die Schulverwaltung ausdehnt. Meine Herren, als wir im Jahre 1904 bei Gelegenheit des Königsberger Prozesses aus dem Munde eines Sachverständigen hörten und als die deutsche Öffentlichkeit es vernahm, dass in Russland derjenige, der ohne besondere Erlaubnis irgendwelchen Unterricht erteilt, bestraft wird, glaubten wir, darin ein ganz besonderes Kennzeichen der russischen Unkultur zu erblicken. Inzwischen sind wir in Deutschland und speziell in Preußen herrlich weit gekommen; auch bei uns werden Leute, die selbst Erwachsene unterrichten wollen, die längst aus dem schulpflichtigen Alter heraus sind, bestraft und mit Zwangsmaßregeln belegt. Damit hat Preußen sich einmal wieder auf den kulturellen Zustand Russlands zurück revidiert.

(Zuruf bei den Sozialdemokraten.)

Noch etwas dahinter, wie gewöhnlich.

(Heiterkeit bei den Sozialdemokraten. Lachen rechts.)

Also, meine Herren, ich glaube, dass man die Forderung des Rechtsweges, mindestens des Verwaltungsrechtsweges, als eine bescheidene Forderung ansehen kann, der sich eigentlich niemand widersetzen sollte, der auf dem prinzipiellen Standpunkt steht, dass man Preußen zu einem Rechtsstaate gestalten müsse. Solange wir in Preußen noch Gebiete der Verwaltung haben, die irgendeiner Garantie des Rechtsmittelverfahrens entbehren, solange kann niemand auch mit dem Schein eines Rechtes die Behauptung aufstellen, dass Preußen auch nur in dem Prozess der Umwandlung zu einem Rechtsstaate ernstlich begriffen sei.

(Lachen rechts.)

Meine Herren, schließlich haben wir noch einige Forderungen aufgestellt unter d und e, von denen ich annehmen möchte, dass auch sie der Gerechtigkeit entsprechen und sich aus dem Wesen eines geordneten Staates ergeben.

Zunächst einmal haben wir Aufhebung des zivil- und strafrechtlichen Konfliktes gefordert. Meine Herren, die Institution des Konfliktes ist unseres modernen Wesens wirklich nicht mehr würdig. Durch die Institution des Konfliktes wird der Verwaltungsbehörde die Möglichkeit gegeben, in jeden Zivil-, in jeden kriminellen Streit einzugreifen, bei dem es sich um irgendeinen Beamten handelt. Dann wird in dem Augenblick, wo die Verwaltungsbehörde erklärt: ich erhebe den Konflikt, durch diese Willenserklärung der Verwaltungsbehörde die Zivil- und Strafjustiz einfach still gesetzt. Das ist eine Übermacht der Verwaltung gegenüber unserer ordentlichen Justiz, die, wie mir scheint, unerträglich ist in unserem Staatswesen und in unser Rechtssystem hineinpasst wie die Faust aufs Auge.

Meine Herren, es ist Ihnen ja bekannt, dass dann dieser Eingriff der Verwaltungsbehörden, allerdings im Wege des Verwaltungsstreitverfahrens, der Nachprüfung unterliegt, dass also im Verwaltungsstreit darüber zu entscheiden ist, ob die Handlung des betreffenden Beamten als eine Amtshandlung anzusehen oder ob die Grenze der Amtspflicht überschritten ist. Über diese prinzipielle Frage wird dann im Verwaltungsstreitverfahren entschieden, das an und für sich längst nicht die Garantie gibt wie ein geordnetes Rechtsverfahren. Und wenn das Verwaltungsgericht entscheidet: der Beamte hat innerhalb der Grenzen seiner Befugnisse gehandelt – dann sind in diesem Augenblick das Zivilgericht und das Strafgericht endgültig matt gesetzt. Das sollte man sich doch wahrlich nicht gefallen lassen. Sind denn unsere Ziviljustiz und unsere Strafjustiz Einrichtungen minderwertiger Art? Ist es nicht eine Herabwürdigung unserer Zivil- und Strafjustiz, dass man ihnen nicht das Zutrauen gibt, selbst über diese eine Frage zu entscheiden, dass man ihnen diese Frage entreißt und einer anderen Stelle zur Entscheidung unterbreitet? Das ist doch, möchte ich sagen, eine Blamage, es ist eine Herabwürdigung unserer ordentlichen Gerichte, die wahrlich noch immer zu denjenigen Staatsinstitutionen gehören, zu denen auch wir Sozialdemokraten dann und wann noch ein gewisses Vertrauen haben können.

(Zuruf rechts und bei den Sozialdemokraten: „Dann und wann!")

Ich habe gesagt: dann und wann ein Vertrauen haben können.

(Erneute Zurufe rechts und des Abgeordneten Leinert.)

Dann und wann! Ich erinnere an das Urteil in Bezug auf die Turnvereine, in Bezug auf die Behandlung der Sozialdemokraten in Sachsen als Staatsbürger minderen Rechts; ich erinnere an gute Urteile, die wir bekommen haben in Bezug auf die Tätigkeit der sogenannten sozialdemokratischen Jugendorganisationen usw. Kurzum, wir haben sicherlich im Gebiete unserer ordentlichen Justiz eine ganze Anzahl äußerst tüchtiger Herren und Beamten, die bemüht sind, in wirklich großzügiger Weise die Aufgaben ihres Amtes aufzufassen, wie das im Allgemeinen sonst innerhalb der preußischen Staatsverwaltung nicht der Fall ist.

Nun davon abgesehen, meine Herren, wie man sich hierzu auch stellen mag, warum soll man der ordentlichen Justiz dieses Misstrauensvotum aussprechen, dass man ihr nicht das Recht gibt, über die Fragen zu entscheiden, die im Kompetenzkonflikt durch das Verwaltungsgericht entschieden werden sollen? Dazu liegt von keinem Gesichtspunkte aus irgendeine Veranlassung vor. Es bedeutet das aber, wie mir scheint, auch eine Degradation der Verwaltungsgerichte. Denn es ist in dieser Einrichtung des Konflikts der Gedanke zum Ausdruck gebracht, dass man ein größeres Vertrauen, im Sinne der Regierung, zu den Verwaltungsgerichten habe. Gerade durch diese Konfliktgesetzgebung, wenn ich diesen Ausdruck gebrauchen darf, ist unsere Verwaltungsgerichtsbarkeit stigmatisiert und in einem gewissen Sinne gebrandmarkt als eine den ordentlichen Gerichten, dem Zivilverfahren sowohl wie dem Strafverfahren, nicht ganz gleichwertige Justiz. Es liegt zur Aufrechterhaltung des Konflikts kein Anlass vor; der Konflikt ist eine Einrichtung, die im schärfsten Widerspruch steht zur Gesamtheit unseres sonstigen geordneten Rechtsverfahrens. Er ist außerdem eine Einrichtung, die geeignet ist, unser ordentliches Gericht herabzuwürdigen, herabzusetzen, zu degradieren.

Unser Verlangen nach seiner Beseitigung dürfte also, meine Herren, wie mir scheint, nicht zu weit gehen und nicht mit dem Wort erledigt werden können: sozialdemokratische Übertreibungen.

Dasselbe gilt aber von dem letzten Punkt, den ich noch in Kürze zu berühren haben werde, von dem Punkte, in dem wir die Ersatzpflicht des Staates für alle Schäden fordern, die durch objektiv ungerechtfertigte Verwaltungsmaßregeln entstanden sind, ohne Rücksicht auf das Verschulden eines Beamten. Meine Herren, das ist eine Forderung, von der ich annehme, dass sie in einem gewissen Umfange demselben Grundgedanken entspringt, der bereits mehrfach gesetzgeberische Gestaltung gefunden hat: einmal in dem Gesetz, betreffend die Entschädigung unschuldig Verurteilter, und andererseits in dem Gesetz, betreffend die Entschädigung unschuldig in Untersuchungshaft Gesessener. Diese beiden Gesetze gehen von dem Grundgedanken aus, dass die Staatsgewalt, wenn sie es im Allgemeininteresse für nötig hält, hier und da einzugreifen, dem Einzelnen Unrecht zu tun, wenn man ihr diesen Spielraum gibt, gelegentlich auch mal an unrechter Stelle einzugreifen, weil Gefahr im Verzug ist, andererseits das nobile officium hat, dafür zu sorgen, dass die durch sie angerichteten Schädigungen nach Möglichkeit beseitigt werden.

Ähnlich ist dieser Gedanke verwirklicht in dem Gesetz, das uns in allernächster Zeit beschäftigen wird, über die Verpflichtung der Gemeinden zum Ersatz des bei öffentlichen Tumulten verursachten Schadens. Auch da ist ohne Rücksicht auf die Frage des Verschuldens, rein unter Anerkennung des Gedankens, dass hier aus der Gestaltung des öffentlichen Wesens heraus, deren der Einzelne nicht Herr ist, ein Schaden entstanden ist, eine Verpflichtung für die Allgemeinheit anerkannt, für den Schaden des einzelnen einzutreten. Dieser Grundgedanke müsste meiner Ansicht nach erweitert und im weitesten Umfange durchgeführt werden. Es müsste, soweit man der Verwaltungsbehörde nicht schlechterdings jede Möglichkeit nehmen kann, auch einmal einzugreifen, bevor eine endgültige Klärung herbeigeführt ist, auf der anderen Seite festgestellt werden, dass der Staat den objektiv zu Unrecht angerichteten Schaden zu ersetzen hat.

Ich darf hierbei noch einen Punkt kurz berühren. Es ist in unserem preußischen Landesverwaltungsgesetz eine Bestimmung enthalten – ich glaube, es ist Paragraph 53 –, wonach Verwaltungszwangsverfügungen innerhalb der Rechtsmittelfrist und nachdem sie mit dem ordentlichen Rechtsmittel angegriffen sind, nicht vollstreckt werden können. Die Vollstreckung wird gehemmt durch Einlegung des Rechtsmittels. Andererseits ist aber eine vorläufige Vollstreckbarkeit zugelassen, wenn nämlich das allgemeine Wohl eine Aussetzung der Vollstreckung nicht zulassen würde. Leider haben wir in Preußen keine Bestimmung darüber, dass diese vorläufige Vollstreckbarkeit, wenn man davon Gebrauch machen will, ausdrücklich proklamiert werden muss. Man müsste fordern, dass, wie in den Zivilurteilen die vorläufige Vollstreckbarkeit ausgesprochen wird, auch in der Verwaltungsverfügung, abgesehen von der Rechtsbelehrung, die wir zu fordern haben, ein ausdrücklicher Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit stattfindet. Sonst schwebt der durch die Verwaltungsverfügung Betroffene in der Luft. In gewissen Gegenden pflegt man diese vorläufige Vollstreckbarkeit auszusprechen; aber es ist bei weitem nicht die Regel; man darf sagen, dass es eine Ausnahme ist.

Ich habe vor wenigen Tagen bei einem Berliner Gericht ein Urteil erzielt – und ein ähnliches Urteil ist rechtskräftig geworden, die Staatsanwaltschaft hat sich auf denselben Standpunkt gestellt –, wonach, wenn nicht ausdrücklich in der Verfügung die vorläufige Vollstreckbarkeit ausgesprochen ist und der Betreffende der Verfügung nicht nachkommt, Rechtsmittel einlegt usw., innerhalb dieser Zeit, falls er kontraveniert, eine strafbare Handlung nicht vorliegt. Es handelte sich hierbei um die Anweisung zur Schließung eines Lokals, zur Herabsetzung der Polizeistunde. Es ist aber ein reiner Zufall, dass die Gerichte sich auf diesen Standpunkt gestellt haben. So sehen Sie, dass man den Verwaltungsverfügungen gegenüber völlig unklar dasteht, nicht einmal darüber orientiert ist, ob die Verwaltung die Absicht hat, sofort zu vollstrecken oder die Vollstreckung auszusetzen, wie es nach dem Gesetz die Regel sein müsste. Dass angesichts solcher Unklarheit darüber das Verlangen nach einer Ersetzung des Schadens aus öffentlichen Mitteln, und zwar gleichviel, ob ein Verschulden des Beamten vorliegt oder nicht, rein aus dem Gedanken, dass hier die öffentliche Gewalt im Interesse des Staates eingegriffen hat und dass der Einzelne darunter nicht leiden soll, durchaus im Bereich der Billigkeit und der Möglichkeit liegt, bedarf keiner weiteren Erörterung.

So scheint mir also die Gesamtheit unseres Antrages allenthalben so sehr in den Grenzen einer heute sofort möglichen Gesetzgebung zu liegen, dass die Herren nirgends Veranlassung haben, sich ablehnend zu verhalten, weil es sich um sozialdemokratische Utopien handele. Sie sehen, wie hier die Sozialdemokratie den Versuch unternimmt, Anregungen zu einer positiven Reformierung unserer heutigen Gesetzgebung zu geben. Wir wollen sehen, wie dieser positive Reformversuch der Sozialdemokratie von diesem Hause behandelt wird, auf was für fruchtbaren oder unfruchtbaren Boden er fallen wird.1

(„Bravo!" bei den Sozialdemokraten.)

II

Meine Herren, ich kann mich der Argumentation des Herrn Vorredners in keiner Weise anschließen, besonders nicht dahin, dass kein Anlass zur näheren Prüfung unseres Antrages vorliege, weil eine Immediatkommission mit der Verwaltungsreform befasst sei. Ich kann mir gar nicht klarmachen, wie man zu einer solchen Argumentation kommen kann; denn diese Immediatkommission tagt hinter verschlossenen Türen, und alle Mitglieder dieser Kommission haben ihr Schloss vor dem Mund und können nicht die geringste Andeutung machen über das, was beabsichtigt wird. Soll es nun, während diese Immediatkommission im Dunkeln Kämmerlein eine Verwaltungsreform zurecht braut, den frei tätigen Kräften im Volke draußen im Lande und im Parlamente nicht möglich sein, ihre Wünsche zu äußern, die gerade in diesem Augenblick zur rechten Zeit kommen? Wenn wir hier im Abgeordnetenhause Gesetzesvorlagen bekommen, die sich mit den Interessen der Bevölkerung befassen, dann hält die Bevölkerung gerade diesen Augenblick für richtig, wo wir uns mit der Sache befassen, um uns mit Petitionen zu bombardieren. Je mehr wir also wissen, dass die Immediatkommission tagt, um so mehr sollten wir Veranlassung haben, gerade gegenwärtig unsere Auffassung und unsere Wünsche für die künftige Verwaltungsgestaltung dieser Immediatkommission wenigstens als Material zu unterbreiten. Mir scheint also das, was gegen unseren Antrag ausgeführt ist, gerade nur für seine Aktualität zu sprechen.2

(„Bravo!" bei den Sozialdemokraten.)

1 Der nationalliberale Abgeordnete Lusensky lehnte den Antrag ab. Die Red.

2 Der Antrag wurde abgelehnt. Die Red.

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