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Karl Liebknecht 19100421 Gegen militaristische und monarchistische Erziehung der Jugend

Karl Liebknecht: Gegen militaristische und monarchistische Erziehung der Jugend

Reden im preußischen Abgeordnetenhaus zum Kultusetat

[Nach Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 21. Legislaturperiode, III. Session 1910, 3. Bd., Berlin 1910, Sp. 4431–4433, 4435 f., 4. Bd., Berlin 1910, Sp. 4479-4487, 4491, 4494 f. und 4498 und nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 3, S. 185-207]

I

21. April 1910

Meine Herren, es tut mir leid, dass ich genötigt bin, in den Becher des Freudenweins, den Sie hier alle geschlürft haben, ein paar Tropfen Wermut zu gießen. Ich gestehe, dass die Bestrebungen, die hier zur Debatte stehen1, an und für sich so rühmlich und so beherzigenswert sind wie irgend möglich. Bedauerlicherweise werden aber diese an und für sich so gesunden und notwendigen Bestrebungen durch die Art, wie sie durchgeführt werden, zu einem Mittel der Bekämpfung weitester Schichten der Bevölkerung, indem politische Zwecke in den Vordergrund gestellt werden. Der Geist, in dem diese Veranstaltungen geleitet werden, ist weit davon entfernt – unserer Auffassung nach wenigstens –, zum Nutzen unseres Volkes zu dienen. Wir sind der Überzeugung, dass, so wichtig es ist, derartige Bestrebungen in weitestem Umfange zu verfolgen, die Regierung doch vor allem dafür Sorge tragen sollte, dass sie nicht mit politischen und anderen reaktionären Tendenzen aller Art vermischt werden.

In der Vorbemerkung, die die Regierung der Vorlage beigegeben hat, ist darauf hingewiesen, dass die Mitarbeit der Vereine der Deutschen Turnerschaft, einer zur Zeit etwa eine Million Mitglieder umfassenden Vereinigung, ebenso die Mitarbeit der konfessionellen Jugendvereine usw. mit Freuden begrüßt werde. Diese Deutsche Turnerschaft ist eine ausgeprägt politische Organisation, und indem die Regierung die Mitarbeit dieser politischen Organisation begrüßt, anerkennt sie damit ausdrücklich, dass sie den Veranstaltungen der hier fraglichen Art den politischen Charakter durchaus nicht zu nehmen gesonnen ist. Ebenso steht es mit den konfessionellen Jugendorganisationen: Diese treiben in einer durchaus unbekümmerten Weise Politik nach ihrer Art, und das kann der Regierung bei der engen Fühlung, in der sie sich mit der Leitung dieser Jugendorganisation befindet, nicht entgangen sein.

(Abgeordneter Hoffmann: „Sehr richtig!")

Infolgedessen ist unserer Auffassung nach, bei aller Anerkennung des Grundgedankens, dass durch sportliche, durch turnerische Veranstaltungen aller Art für die Gesundheit des Volkes dringend etwas geschehen muss, doch die Art, in der dieser gesunde Gedanke von der Staatsregierung durchgeführt wird, so, dass wir uns in keiner Weise mit den getroffenen Maßregeln einverstanden erklären können. Ich darf darauf hinweisen, dass man jetzt alle Tage Gelegenheit hat, derartige junge Leute mit fliegenden Fahnen irgendwo im Grunewald oder sonstwo unter Führung eines Lehrers herumlaufen zu sehen. Ich darf darauf hinweisen, dass in einer ganz systematischen Weise ein patriotisierender Geist in diese Veranstaltungen hineingetragen wird. Ich kann sogar die Überzeugung durchaus nicht von mir weisen, dass, soweit man diese Veranstaltungen auf die Schüler der Volksschule überträgt, man keineswegs in ihrem sportlichen Charakter den Hauptzweck erblickt, sondern dass die sportlichen Veranstaltungen nur einen Deckmantel bilden, um außerhalb der offiziellen Schule noch in einer ganz besonderen Weise die ihnen zweckmäßig erscheinende politische und soziale Auffassung in die Jugend hinein zu flößen.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Es ist deshalb ganz selbstverständlich, dass wir uns mit Maßregeln der hier fraglichen Art unter den besonderen Umständen, unter denen sie ergriffen werden, durchaus nicht einverstanden erklären können und dass wir es als außerordentlich kurzsichtig bezeichnen müssen, wenn gewisse Parteien dieses Hauses, die mit diesen reaktionären Tendenzen doch ihrem ganzen Programm nach nicht einverstanden sein können, dennoch hier vorbehaltlos demjenigen, was die Staatsregierung getan hat, ihre Zustimmung erteilt haben.

Dasjenige, was die Staatsregierung hier den reaktionär-politischen Turnvereinen und konfessionellen Jugendorganisationen zuteil werden lässt, die Unterstützung, das Zusammenarbeiten mit ihnen, versagt sie in einer Weise, wie sie verletzender nicht gedacht werden kann, tagtäglich den Turnvereinen, die nicht auf der der Staatsregierung genehmen Basis stehen, und den Jugendorganisationen und anderen Jugendveranstaltungen, die von einer politischen Seite ausgehen oder als ausgehend erachtet werden, die der Staatsregierung nicht genehm ist.

In welcher Weise die Jugendorganisationen und die sonstigen Jugendveranstaltungen, die von Seiten der sogenannten sozialdemokratischen Gewerkschaften und der Sozialdemokratie unterstützt werden, von der Staatsregierung immer und immer wieder verfolgt werden, darüber hat Ihnen ja mein Freund Hirsch bei der allgemeinen Debatte über das Volksschulwesen einiges vorgetragen. Der Herr Minister hat sich wiederum zu den Maßregeln bekannt, die mein Freund Hirsch bei dieser Gelegenheit auf das energischste, und zwar mit Recht, gerügt hat. Das Vorgehen der Staatsregierung, insbesondere des Kultusministeriums, gegenüber den Jugendorganisationen proletarischen Charakters widerspricht dem Gesetz. Wir haben eine Entscheidung, die bereits mehrfach hier im Hause zitiert worden ist, vom hiesigen Landgericht I extrahiert, in der ausgesprochen ist, dass alle Versuche des Kultusministeriums, sich in die Turnangelegenheiten der nicht mehr volksschulpflichtigen Jugend einzumischen, als ungesetzlich anzusehen sind

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

und dass alle etwaigen Verfügungen, als dem Gesetz widersprechend, unwirksam sind.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Trotz dieses Urteils vom Landgericht I, das allerdings die Rechtskraft noch nicht beschritten hat, jedenfalls aber bisher noch nicht durch irgendeine Reichsgerichtsentscheidung desavouiert ist – trotzdem fährt das Kultusministerium in ganz ungenierter Weise fort, ohne sich die Spur eines Skrupels zu machen, in der bisher geschehenen Weise gegen diese Jugendveranstaltungen einzuschreiten.

Wenn es dem Kultusministerium wirklich ernst damit wäre, für die Volksgesundheit zu sorgen, dann müsste es vor allen Dingen mit Freude begrüßen, dass sich aus der Arbeiterschaft, aus dem Proletariat, aus den untersten Schichten der Bevölkerung heraus selbst in so lebhafter Weise das Bemühen geltend macht, für die Gesundheit und dafür zu sorgen, dass die Schädigungen, die mit unserem heutigen Wirtschaftsleben verknüpft sind, durch ein wirksames Gegengewicht und Gegenmittel nach Möglichkeit beseitigt werden. Statt dessen haben wir diese Verfolgungen zu erleiden, die einerseits unseren Turnvereinen – sogar die Gesangvereine werden davon betroffen – und andererseits unseren Jugendorganisationen zuteil werden.

Meine Herren, solange das Kultusministerium nicht imstande ist, uns darzulegen, dass es in einer unparteilichen Weise, unter Ausschaltung aller konfessionellen und aller politischen Gegensätze, alle Bestrebungen der hier fraglichen Art gleichmäßig, wie es seine Pflicht sein sollte, im Interesse der Allgemeinheit zu unterstützen bereit ist, solange sind wir nicht imstande, dem Kultusministerium unser Plazet zu erteilen.

(Lebhafter Beifall bei den Sozialdemokraten.)

II

21. April 1910

Meine Herren, ich werde selbstverständlich keine Spur eines Zweifels in dasjenige setzen, was Herr Abgeordneter von Schenkendorff eben gesagt hat, und ich kann ihm nur meine große Freude darüber aussprechen, dass er persönlich den Veranstaltungen unter seiner besonderen Leitung einen Charakter hat verleihen können, wie er ihn geschildert hat. Wir haben es aber selbstverständlich, wenn wir uns mit einer Erscheinung der hier fraglichen Art abfinden, nicht mit einem Einzelfalle zu tun, sondern mit der Allgemeinheit der Einrichtung, und im Allgemeinen sind die Einrichtungen von mir, so behaupte ich, richtig charakterisiert worden.

Es ist wohl niemand anders als der Herr Kultusminister gewesen, der die Korrektheit meiner Auffassung treffend bestätigt hat in den Ausführungen, mit denen er mir entgegengetreten ist. Er hat sich auf den Standpunkt gestellt, dass alle die von ihm unterstützten Organisationen keineswegs politisch seien, sie ständen nur auf dem Standpunkt der Königstreue und der Vaterlandsliebe. Ja, meine Herren, zunächst einmal ist doch der Standpunkt der Königstreue ein ausgeprägt politischer Standpunkt, und wenn Sie von Vaterlandsliebe sprechen, so wissen wir ganz genau, welche Sorte von Vaterlandsliebe die Mehrheitsparteien dieses Hauses und welche Sorte von Vaterlandsliebe der Herr Minister meint. Es ist nicht der Patriotismus im edlen Sinn des Wortes, sondern sie wollen in der großen Masse des Volkes eine Auffassung über das Vaterland erzeugen, wie sie ihnen bequem ist, sie wollen das Volk künstlich, entgegen seinen eigenen Interessen, zu Patrioten nach ihrem Geschmacke erziehen, und dem treten wir allerdings entgegen. Es kann nichts geben, was politischer wäre als gerade dasjenige, was der Herr Kultusminister hier ausgeführt hat; denn die politische Auffassung, die Sie durch die Worte Vaterlandsliebe und Königstreue zu charakterisieren pflegen, bedeutet ja nichts anderes als die Fahne, unter der sich der Reichsverband gegen die Sozialdemokratie zusammentut; sie bedeutet die Parole, unter der man in verschleiernder und, wie soll ich sagen, unklarer, verworrener und verwirrender Weise die ganze Bevölkerung in zwei Parteien zu trennen sucht: einerseits in die Sozialdemokratie und andererseits in eine Partei, die der Sozialdemokratie entgegensteht. Das ist also das ausgeprägtest Politische, was man sich überhaupt denken kann, wenn zur Grundlage für die Mitwirkung an diesen Bestrebungen von der Staatsregierung eine solche politische Stellungnahme gemacht wird.

Was der Herr Kultusminister eben als unpolitisch bezeichnet hat, ist ebenso unpolitisch wie die berühmte Unpolitischkeit unserer Kriegervereine. Dass Kriegervereine unpolitisch seien, ist eine Behauptung, an die ein vernünftiger Mensch im Ernst nicht glaubt. Genauso liegt es hier.

Wenn der Herr Kultusminister im Übrigen glauben machen will, dass dieses Verfahren die Sozialdemokratie und das Proletariat nicht verletze, so darf ich darauf hinweisen, dass wiederholt Personen, die darum nachgesucht haben, in den Turnvereinen Turnunterricht zu erteilen, die Erlaubnis dazu versagt worden ist mit der Begründung, dass sie Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei seien und infolgedessen der nötigen sittlichen Reife entbehrten. Meine Herren, es kann doch nichts – ich will einmal einen groben Ausdruck gebrauchen – Unverschämteres geben als eine solche Charakterisierung der Sozialdemokratie. Da kann einem doch wahrhaftig die Galle überlaufen, wenn man sich auch noch so sehr bemüht, innerhalb der Grenzen des parlamentarischen Anstandes zu bleiben.

Diese Methode, dass man einer der größten Parteien Deutschlands in einer so brutalen, denkbar plumpen und aufheizenden Weise in das Gesicht hineinschlägt, kann und wird – mögen die Herren ähnliche Verfügungen weiterhin erlassen, soviel sie wollen – nur der Sozialdemokratie zugute kommen.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten. Ruf rechts: „Na also!")

Im Übrigen machen wir uns natürlich nicht viel daraus, ob irgendein preußischer Regierungspräsident oder irgendein preußischer Kultusminister die Sozialdemokratie für unsittlich hält oder nicht; darüber werden wir uns erlauben, stets nach unserer Ansicht selbst zu befinden, und wir werden den Herren, die sich herausnehmen, über unsere sittlichen Qualifikationen so abzuurteilen, unser Urteil über sie nicht ersparen. Wenn der Herr Kultusminister behauptet, keine alten, verstaubten Verordnungen herausgezogen zu haben, so vergisst er dabei, dass eine ganz besondere Rolle eine Kabinettsorder von 1817 zu spielen pflegt.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Und wenn das preußische Kultusministerium meint, dass eine Verordnung, die nun nahezu 100 Jahre alt ist, noch nicht alt und verstaubt ist, so ist das ein glänzender Beleg für den Geist, der im preußischen Kultusministerium herrscht.

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

Im Übrigen darf ich wohl darauf hinweisen, dass dieselben Kabinettsordern usw., die man jetzt gegen die sozialdemokratischen, polnischen, dänischen Turnvereine anwendet, etwa dieselben sind, die einstens in einer großen Zeit Deutschlands von einer reaktionären Regierung gegen einen Mann erlassen wurden, den gerade Sie alle, in der Erinnerung wenigstens, heute noch hoch verehren: gegen den Turnvater Jahn!

(„Hört! Hört!" und „Bravo!" bei den Sozialdemokraten.)

III

22. April 1910

Meine Herren, der Herr Kultusminister hat es gestern so dargestellt, als ob die sogenannten staatserhaltenden Turnvereine und Jugendorganisationen nur Abwehrmaßregeln seien gegenüber den verhetzenden Versuchen der Sozialdemokratie, die Jugend und die Turnerschaft für sich zu gewinnen. Demgegenüber weise ich auf die Tatsache hin, die sicher auch dem Herrn Kultusminister bekannt ist, dass diese sogenannten patriotischen Turnvereine und die konfessionellen Jugendorganisationen bereits auf ein sehr ehrwürdiges Alter zurückblicken können, die konfessionellen Jugendorganisationen am Ende schon auf ein jahrhundertelanges Bestehen, während die Deutsche Turnerschaft und jene anderen patriotischen Turnvereine auch schon seit vielen Jahrzehnten ihr Wesen treiben. Die Versuche der Arbeiterschaft, auch ihrerseits Organisationen ähnlicher Art zu schaffen, sind ausschließlich als Abwehrmaßregeln zu charakterisieren gegenüber den schon seit langer Zeit in skrupellosester Weise unternommenen Bemühungen, durch Organisationen konfessioneller und sogenannter patriotischer Art die Arbeiterschaft einzufangen, die Jugend der Arbeiterschaft für sich zu gewinnen und sie abzuhalten, ihre Interessen in der für sie zweckmäßigen Weise zu vertreten. Es bedarf dazu nur weniger Nachweise, die ich mir jetzt gestatten werde, Ihnen zu erbringen.

Als das Sozialistengesetz im Jahre 1878 erlassen wurde, hat die Deutsche Turnerschaft in einer geradezu fanatischen Weise gegen die Sozialdemokratie Stellung genommen; es wurde damals von der Deutschen Turnerschaft mit in vorderster Reihe der Kampf gegen die sogenannte Umsturzpartei geführt; die Deutsche Turnerschaft hat sich damals politisch so geriert, wie das überhaupt eben nur gerade möglich ist. Es ist, solange die Deutsche Turnerschaft besteht – mit wenigen Ausnahmen mag es vielleicht nicht der Fall sein, aber ich kenne keine Ausnahme –, allenthalben üblich, dass jeder, der der sozialdemokratischen Gesinnung verdächtig ist oder auch nur einer sogenannten sozialdemokratischen Gewerkschaft angehört, aus der Turnerschaft ausgeschlossen wird.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Ich habe hier in meinen Händen ein Flugblatt der Deutschen Turnerschaft, in dem allerdings nachdrücklich bestritten wird, dass in einer solchen Weise verfahren werde. Es heißt darin unter anderem:

Sind einzelne Sozialdemokraten ausgeschlossen worden, so geschah es nicht ihrer Gesinnung wegen, sondern wegen ihrer auf Austritt aus der Deutschen Turnerschaft abzielenden Hetzerei und Friedensstörung."

(Glocke des Präsidenten.)

Präsident von Kröcher: Herr Abgeordneter, Sie müssen doch auf den Titel „Schulaufsicht und Schulräte" kommen; Sie polemisieren gegen etwas, was der Herr Minister bei einem früheren Titel gesagt hat, ich glaube, bei Titel 17. Von Turnlehrern, Turnlehrerinnen und Turnvereinen ist jetzt nicht mehr die Rede, sondern von Schulräten und Schulaufsicht. Sie müssen daher jetzt auf den Titel selbst kommen; auf andere Dinge, die bei früheren Titeln besprochen worden sind, dürfen Sie nicht eingehen.

Liebknecht: Meine Absicht geht dahin, den Charakter dieser Turnvereine darzulegen und daraus zu folgern, dass das Verfahren der Schulaufsichtsbehörden, das sich einseitig gegen die sogenannten sozialdemokratischen Turnvereine und gegen die sogenannten sozialdemokratischen Jugendorganisationen richtet, als ein durchaus Unhaltbares zu kennzeichnen ist und dass die Schulbehörden mit viel mehr Recht gegen die sogenannten patriotischen Organisationen einschreiten müssten.

Präsident von Kröcher: Herr Abgeordneter, das ist ja eine Ausführung, die Sie sehr gut machen können, aber bloß bei dem richtigen Titel. Wenn Sie das hier bei den Schulbehörden anführen, so geht es in die allgemeine Debatte, und das hätte bei früheren Titeln geschehen können. Vielleicht finden Sie nachher noch einen Titel, bei dem Sie das sagen können; aber hier darf ich Sie das nicht sagen lassen; Sie dürfen nicht so allgemein wieder in die Debatte eingehen. Von Turnvereinen ist hier nicht die Rede, sondern von Schulräten. Also, ich muss Sie bitten, dass Sie auf den Titel selbst kommen.

Liebknecht: Also, ich beschäftige mich ausschließlich mit dem Titel und habe die Absicht darzulegen, dass die Königliche Staatsregierung ihrer Pflicht als Schulaufsichtsorgan durchaus nicht entspricht, wenn sie in der geschilderten Art gegen die proletarischen Organisationen vorgeht, während sie in einer höchst entgegenkommenden Weise gegen die sogenannten patriotischen Organisationen verfährt. Ich werde nun in aller Kürze darlegen, dass diese patriotischen Organisationen im höchsten Grade politische Organisationen sind und dass infolgedessen die Königliche Staatsregierung nach dem Vereinsgesetz und nach den Grundsätzen, die sie sonst für die Schulaufsicht aufstellt, genötigt wäre, gegen die Treibereien dieser Organisationen einzuschreiten.

Präsident von Kröcher: Herr Abgeordneter, das ist doch alles allgemeine Debatte, das hätten Sie bei der allgemeinen Debatte sagen können; aber hier in diesem Titel kann ich Sie das wirklich nicht sagen lassen. An einer Stelle, wo es hingehört, würde ich Sie das sehr gern sagen lassen; hier darf ich Sie das aber nicht sagen lassen.

Liebknecht: Aber das ist doch eine Schulaufsichtsangelegenheit, mit der ich es hier zu tun habe. Meine Polemik richtet sich gegen die Ausübung der Schulaufsicht in ausgeprägter Weise; das ist ausschließlicher Zweck meines Vortrages.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Ich habe im Augenblick natürlich das Wort Schulaufsicht nicht im Munde gehabt, weil ich meinen Angriff begründe, und bei der Begründung dieses Angriffes bin ich genötigt darzulegen, dass die von der Königlichen Staatsregierung unterstützten Organisationen politisch sind.

Präsident von Kröcher: Dann bitte ich, nun aber auf die Schulaufsicht und die Schulräte zu kommen.

Liebknecht: Ich werde mich mit der Königlichen Staatsregierung, dem Kultusministerium und den Regierungen, Abteilung für Schulwesen usw., befassen; die fallen ja wohl unter den Begriff der Schulaufsichtsbehörden.

Also, die Organisationen, die von der Schulaufsichtsbehörde als ihrer liebevollen Fürsorge und des gemeinschaftlichen Arbeitens würdig angesehen werden, sind in einer ganz ausgeprägten Weise politisch. Das zeigen sie einerseits, indem sie dafür sorgen, dass die sogenannte Vaterlandsliebe in dem besonderen Sinne, in dem dieses Wort gebraucht zu werden pflegt, immer und immer wieder in den Vordergrund gerückt wird, und weiter darin, dass jegliche Bekennerschaft zu oppositionellen Gedanken, insbesondere zur sozialdemokratischen Weltanschauung, von diesen Organisationen mit der Strafe des Ausschlusses belegt wird. Insbesondere darf aber darauf hingewiesen werden, dass diese Deutsche Turnerschaft, die man wohl als antisemitisch bezeichnen darf, in ganz besonderer Weise ihren Einfluss auszuüben pflegt, um die Arbeitgeber und die höheren Angestellten zu veranlassen, die Jugend diesen Organisationen zuzuführen. Es wird in einem Rundschreiben, das mir hier vorliegt, darauf hingewiesen, dass die Arbeitgeber ein besonderes Interesse daran hätten, diese jungen Leute diesen Organisationen zuzuführen,

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

weil ja der Zweck dieser Organisationen namentlich die Pflege des deutschen Volksbewusstseins und der vaterländischen Gesinnung sei. Ganz nach Art der berüchtigten gelben Verbände.

(Glocke des Präsidenten.)

Präsident von Kröcher: Herr Abgeordneter, Sie müssen aber wirklich auf den Titel kommen; sonst sehe ich mich genötigt, Sie zur Sache zu rufen. Ich kann mir nicht helfen, ich darf Ihnen das nicht gestatten.

Liebknecht: Ich bin doch bei der Schulaufsicht.

(Heiterkeit.)

Ich verstehe nicht so ganz recht – –

Präsident von Kröcher: Herr Abgeordneter, meiner Ansicht nach sind Sie nicht bei der Schulaufsicht, sondern Sie sind bei dem Titel, der von den Turnanstalten handelt; Sie sind jetzt bei Titel 17. Da hätten Sie es sagen können; aber hier, bei Titel 23, darf ich es Ihnen nicht gestatten.

Liebknecht: Ich habe im Augenblick doch in der Tat nichts mit dem Turnen zu tun, sondern ich habe zu tun mit der Haltung der Königlichen Staatsregierung als Schulaufsichtsbehörde zu den verschiedenen Turnorganisationen.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Präsident von Kröcher: Das hätten Sie bei der allgemeinen Debatte sagen müssen, Herr Abgeordneter; in diesem Titel handelt es sich bloß um die Schulräte und die Schulaufsicht.

Liebknecht: Ich bin also bei der Schulaufsicht

(Lachen rechts.)

und werde in der Schulaufsicht weiter fortfahren.

Ich erinnere daran, dass unter anderem vor kurzem in Magdeburg, ohne dass die Schulaufsichtsbehörde Anlass genommen hat, irgendwie einzuschreiten, von dem Deutsch-Völkischen Turnverein Schwarz-Rot-Gold eine Versammlung der Jugendabteilung dieser Organisation abgehalten worden ist mit dem ausgeprägt politischen Thema: Weshalb sind wir genötigt, vom nationalen Standpunkte aus eine scharfe Stellung gegen die Sozialdemokratie einzunehmen? Ich möchte weiter die Schulaufsichtsorgane in folgender Richtung rügen. In Havelberg existiert als Lehrer der Fortbildungsschule ein Herr Dahse. Dieser Herr Dahse ist gleichzeitig Gauturnwart der nationalen Turner. Dieser Herr gestattet nun denjenigen Schülern, die dem nationalen Turnverein angehören, bereits abends um halb neun Uhr nach Hause zu gehen,

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

um an den Übungen dieses Vereins teilzunehmen, aber denjenigen, die den sogenannten sozialdemokratischen Turnorganisationen angehören, wird ein Gleiches nicht gestattet. Wo bleibt die Schulaufsicht in diesem Falle?

Ich betone des Weiteren, dass sich die nationalen Turnorganisationen in einer ganz systematischen Weise mit den Fortbildungsschulbehörden in Verbindung setzen, um zunächst einmal die Einführung des obligatorischen Turnunterrichts zu erreichen und demnächst zu erzielen, dass ihnen, diesen politischen Turnorganisationen, die Erteilung dieses Unterrichts überwiesen wird. Wo ist die Schulaufsichtsbehörde in einem derartigen Falle? Es handelt sich doch ganz offenbar um einen gröblichen Missbrauch des Fortbildungsschulzwanges, wenn er dazu benutzt wird, die Schüler durch diesen Schulzwang zu nötigen, in diese sogenannten nationalen Turnvereine einzutreten.

In welcher Weise hierbei für den Militarismus Propaganda gemacht wird und für alles dasjenige, was den herrschenden Klassen ans Herz gewachsen ist, will ich im einzelnen nicht ausführen; ich muss aber daran erinnern, dass wir in neuester Zeit die sonderbare Erfahrung haben machen müssen, dass sich in Berlin und anderen Städten unter der Leitung von Offizieren allerhand jugendliche Exerzier- und Turnvereinigungen herausgebildet haben, wo junge Kerlchen von oftmals nur zehn, zwölf, vierzehn Jahren nun von Offizieren unterrichtet und militärisch eingedrillt werden. Es ist natürlich, dass ein derartiger Unterricht in der ausgeprägtesten Weise in den Bereich der Schulaufsicht hineinfällt

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

und dass die Schulaufsichtsbehörde alle Veranlassung hätte, zu prüfen, ob diese Veranstaltungen unter denjenigen Voraussetzungen erfolgen, die in anderen Fällen von der Schulaufsichtsbehörde bei der Erteilung derartigen Unterrichts erfordert werden.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, es ist von besonderer Wichtigkeit, dass diese Turnvereine, von denen ich eben sprach, und andere Jugendorganisationen, Jugendwehren usw., denen die Schulaufsichtsbehörde ohne die geringste Überlegung die Jugend anzuvertrauen bereit ist, eine ganz systematische politische Propaganda entfalten, und zwar eine Propaganda, die, wenn sie auch nur in annähernd ähnlichem Sinne von der proletarischen Organisation entfaltet würde, sofort zu einem Einschreiten der Schulaufsichtsbehörde Veranlassung geben würde. Insbesondere betreiben diese Organisationen das militärische Turnen, Exerzieren und Schwimmen der männlichen Jugend unter allerhand patriotischem Firlefanz, ziehen mit Fahnen, Trommeln usw. einher und drillen auf diese Weise die Jugend in dem Ihnen (zur Rechten) bequemen Geiste. Es werden Zeitschriften herausgegeben von diesen Organisationen, denen die Schulaufsichtsbehörde die Jugend anvertraut, Zeitschriften, die ausgesprochenermaßen dem Zweck dienen, die Jugend für den Militarismus zu erziehen, die sich direkt an Soldaten wenden und beim Militär energisch Propaganda unter Billigung der militärischen Behörden betreiben. Es werden von diesen Organisationen allenthalben Soldatenheime und Marineheime gegründet zu dem Zweck, die Soldaten in dem Ihnen (zur Rechten) genehmen Sinne auch außerhalb des Dienstes zu beeinflussen. Es unterliegt nicht dem geringsten Zweifel, dass die Schulaufsichtsbehörde alle Veranlassung hätte, diese Veranstaltungen energisch beim Wickel zu nehmen, wenn sie unparteiisch sein, wenn sie mit gleichem Maße messen wollte, wie sie die sozialdemokratischen Organisationen misst.

Im Übrigen darf ich wohl darauf hinweisen, dass nicht nur die Sozialdemokratie ein Interesse daran hat, dass dieses Verhalten der Schulaufsichtsorgane gerügt wird. Ich erinnere, dass in der Zeit des Sozialistengesetzes die Schulaufsichtsbehörde auch damals nicht die geringste Veranlassung genommen hat, gegen das Jugendturnen dieser Deutschen Turnerschaft einzuschreiten, als die Deutsche Turnerschaft sich nicht bloß gegen die Sozialdemokratie, sondern genau ebenso gegen das Zentrum und gegen die freisinnigen Parteien wandte. Es fand sich damals, 1887, in der „Deutschen Turnerzeitung" der bekannte Satz:

Ich denke, wir Turner sind in unserer großen Mehrheit der Meinung, dass unser Kaiser und Bismarck und Moltke besser wissen als Richter und Windthorst, was zum Schutze des Reiches und des Vaterlandes wichtig ist."

Also auch diese Parteien, die schon öfter als Vaterlandsfeinde stigmatisiert waren, sollten es sich zweimal überlegen, ehe sie mit einer so einseitigen Handhabung der Schulaufsicht, wie sie hier angegriffen werden muss, ihr Einverständnis erklären.

Im Übrigen betone ich gegenüber der Behauptung, dass die sogenannten sozialdemokratischen Turnorganisationen das Turnen nur als Deckmantel benutzten und dass infolgedessen das Einschreiten der Schulaufsichtsbehörde gegen sie gerechtfertigt sei, dass diese Organisationen, wenn sie auch in einem gewissen Sinne zu ihrer Verselbständigung gegenüber den sogenannten nationalen Organisationen durch die politische Tendenz jener nationalen Organisationen gedrängt worden sind, andererseits doch rein aus dem lebhaften Bedürfnis heraus, die Gesundheit der arbeitenden Klasse nach Möglichkeit zu fördern, das Turnen auf ihre Fahne geschrieben haben. Wer jemals in der Lage war, den Veranstaltungen dieser Organisationen beizuwohnen, weiß, dass sie mit dem größten Ernst und mit der wärmsten Liebe für das Turnen an und für sich geleitet werden. Ich möchte aber behaupten, dass von den Herren der Schulaufsichtsbehörde, die in der beschriebenen Weise gegen diese Turnvereine einschreiten und über sie aburteilen, auch nicht ein einziger sich jemals die Mühe genommen hat, diese Vereine in Ihrer Arbeit kennenzulernen; es genügt vollständig für die Schulaufsichtsbehörde zu ihrem gröblich gesetzwidrigen Einschreiten gegen die Jugendorganisationen und die Turnvereine, dass ihnen von irgendeiner dem Proletariat gehässig gegenüberstehenden Seite das Stigma der sozialdemokratischen Gesinnung angehängt wird, damit ist die Sache für die Schulaufsichtsbehörde bereits erledigt, eine weitere Nachprüfung hält sie nicht für erforderlich.

(Abgeordneter Hoffmann: „Leider!")

Demgegenüber muss mit allem Nachdruck erklärt werden, dass die Beschuldigungen über die Zwecke, die die Arbeiterturnvereine verfolgen, durchaus aus der Luft gegriffen sind. Diese Organe sind ihrem ganzen Wesen nach keine politischen. Die Schulaufsichtsbehörde sollte es sich wohl überlegen, ob sie in der Lage ist, ihre Anschuldigungen und damit ihre Maßregeln gegen diese Vereine aufrechtzuerhalten. Ich mache darauf aufmerksam, dass dasjenige Liederbuch, auf das der Herr Kultusminister neulich Bezug genommen hat – oder war es der Ministerialdirektor Schwartzkopff, ich weiß es im Augenblick nicht –, dass dieses Liederbuch das Liederbuch für die Erwachsenen in diesen Turnvereinen ist, dass aber diese Turnvereine ein besonderes Liederbuch für die Jugendlichen herausgegeben haben, das in allen Beziehungen außerordentlich vorsichtig ist und von dem ich hier feststelle, dass es dem Kultusministerium vor einiger Zeit von dem Arbeiterturnerbund ausdrücklich zu seiner Information überreicht worden ist. Also, das Kultusministerium als Schulaufsichtsbehörde hat offenbar von diesem ihm überreichten Liederbuch Kenntnis genommen. Dennoch werden die Anschuldigungen weiter aufrechterhalten, und die daran angeschlossenen Maßregeln werden nicht redressiert, obwohl ihnen jegliche Unterlage entzogen ist.

Die ganzen Maßregeln, die die Schulaufsichtsbehörde gegen die Jugendorganisationen, gegen das Turnen der Arbeiterturnvereine usw. ergriffen hat und noch ergreift, sind im Grunde als durchaus ungesetzlich zu bezeichnen. Das ist nicht nur durch die bekannte Entscheidung festgestellt worden, die das Landgericht I Berlin erlassen hat und von der gestern schon die Rede war, sondern auch der Oberreichsanwalt hat am 17. September 1908 in einer dänischen Angelegenheit bereits genau denselben Standpunkt vertreten, dass nämlich die Schulaufsichtsbehörde kein Recht hat, sich in die Turnangelegenheiten der nicht mehr schulpflichtigen Jugend einzumischen. Es ist des weiteren damals vom Reichsgericht ausdrücklich ausgesprochen worden, dass jedenfalls eine Ausdehnung der Schulaufsichtsbefugnisse auf alle Minderjährigen bis zu 21 Jahren ungesetzlich ist. Insoweit ist also schon eine Reichsgerichtsentscheidung ergangen. Aber nicht einmal nach dieser Reichsgerichtsentscheidung richten sich die Schulaufsichtsorgane; im Gegenteil, sie erlassen nach wie vor – frisch, fromm, fröhlich, frei – Verfügungen, wonach aller Turn- und Gesangunterricht an Bürger unter 21 Jahren von den bekannten Voraussetzungen abhängig gemacht wird. Das ist sogar der doch wahrhaftig sehr staatstreuen „Staatsbürger-Zeitung" zu weit gegangen. Sie hatte, nachdem das Berliner Landgericht im Oktober des vergangenen Jahres sein Urteil gefällt hatte, ausdrücklich gegen das Verfahren des Kultusministeriums Stellung genommen.

In welcher Weise das Kultusministerium und die übrigen Schulaufsichtsorgane gegen diese Arbeiterturnvereine und gegen die Jugendorganisationen, soweit sie angeblich Unterricht erteilen, einschreiten, das haben wir in dieser Debatte noch nicht erschöpfend erörtert. Es geht noch viel weiter, als hier bisher im Einzelnen vorgetragen worden ist. Einmal richten sich die Zwangsverfügungen der Schulaufsichtsorgane gegen die Lehrer; man verlangt von diesen die Beibringung der Approbation, und man erteilt sie ihnen grundsätzlich nicht, wenn sie sozialdemokratisch sind. Wenn sie dennoch den sogenannten Unterricht weiter erteilen, dann geht man mit den härtesten Exekutivstrafen gegen sie vor. Nachdem die Schulaufsichtsbehörde gesehen hat, dass die Arbeiter Mittel und Wege finden, um dieser Taktik entgegenzuwirken, ist sie dann zu einer anderen Methode übergegangen. Sie begann, gegen diejenigen Gastwirte, die ihre Lokale zu den Veranstaltungen der Turnvereine hergeben, Zwangsverfügungen zu erlassen, in denen hohe Strafen – ich habe 100 und 200 Mark erlebt – für jeden Fall angedroht werden, wo sie ihr Lokal den Turnvereinen unter den fraglichen Umständen zur Verfügung stellen würden. Und die Stadtverwaltungen zwang man, diesen Vereinen die Turnhallen und städtischen Terrains zu entziehen.

Man kann hier wahrhaftig nicht mehr davon reden, dass die Schulaufsichtsbehörde innerhalb der Grenzen ihrer Kompetenz sei. Man ist nicht mehr in der Lage, mit parlamentarischen Ausdrücken dies offensichtlich gesetzwidrige Verhalten der Schulaufsichtsbehörde zu kennzeichnen. Ich habe wiederholt in aller Öffentlichkeit gegen die Organe der Schulaufsichtsbehörde die Beschuldigung gerichtet, dass sie ganz bewusst und in überlegter Weise die Gesetze zu ihrem Zweck, im Interesse der Reaktion missbraucht, um die Arbeiter zu schädigen. Ich habe dies in aller Öffentlichkeit unter Ausschluss der Immunität behauptet, ohne dass jedoch gegen mich eingeschritten worden wäre.

(Glocke des Präsidenten.)

Präsident von Kröcher: Herr Abgeordneter, das geht zu weit, wenn Sie den Behörden vorwerfen, dass sie in bewusster Weise die Gesetze missbrauchen. Herr Abgeordneter Liebknecht, ich rufe Sie dafür zur Ordnung.

(„Bravo!" rechts.)

Liebknecht: Es ist dieserhalb keine Anklage gegen mich erhoben worden. Dann ist der Weg eingeschlagen worden, zum Ungehorsam gegen die Verfügungen aufzufordern, um die Regierung zu zwingen, endlich einmal vor dem ordentlichen Richter Rede und Antwort zu stehen. Und der erste Versuch, der in dieser Beziehung gelungen ist, hat sofort dazu geführt, dass die Schulaufsichtsbehörde mit ihren Maßregeln desavouiert worden ist. Wenn angesichts solcher Umstände die Schulaufsichtsbehörde immer wieder und wieder an ihrem bisherigen Verfahren festhält und wenn der Vertreter des Kultusministeriums in der geschehenen Weise diese Maßnahmen zu decken sucht, so müssen wir das in der allerschärfsten und schroffsten Weise missbilligen.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Leider ist ja Preußen insofern noch nicht einmal im Beginn der Entwicklung zu einem Rechtsstaat begriffen,

(Lachen rechts.)

als alle die Maßnahmen, die innerhalb der Schulaufsicht stattfinden, irgendeiner rechtlichen Nachprüfung nicht unterworfen sind. Es gibt nicht einmal die Möglichkeit, auf dem Wege des an und für sich schon nicht genügende Garantien bietenden Verwaltungsstreitverfahrens gegen die Maßregeln der Schulaufsichtsbehörde einzuschreiten. Das Oberverwaltungsgericht stellt sich konstant auf den Standpunkt, dass es hierfür unzuständig sei. Wie kann man sich denn da noch gegen derartig gröbliche Ungesetzlichkeiten wehren! Wir haben die Absicht, uns gegen die Maßregeln der Schulaufsichtsbehörde zu wenden; wir verklagen den Schulrat oder das Provinzialschulkollegium oder die Abteilung für Schulwesen im Ministerium bei der obergeordneten Instanz, um zu erfahren, dass die obergeordnete Instanz, bei der wir diese Unterinstanzen verklagen, gerade diejenige Instanz gewesen ist, die die Maßregel veranlasst hat und auf Grund deren die unteren Organe vorgegangen sind. Ist das eines Kulturstaates würdig, dass man nicht die Möglichkeit hat, innerhalb einer so gewaltigen Kompetenz, wie sie der Schulbehörde zusteht, irgendeinen Rechtsweg zu beschreiten?! Die Schulaufsichtsbehörde ist natürlich sehr zufrieden damit, dass man, wenn man sich wehren will, genötigt ist, sich bei ihr selbst zu beschweren, das heißt, den Teufel beim Beelzebub zu verklagen. Weiter kommt man auf diese Weise natürlich nicht, und wenn uns nicht der letzte Weg übrigbliebe, die ordentlichen Gerichte auf mehr oder weniger gewaltsame Art in Bewegung zu setzen, so würde innerhalb des gewaltigen Bereiches der Schulaufsichtsbehörde die Regierung einfach machen können, was sie will, sie würde uns einfach auf der Nase herumtanzen können, sie würde einfach das Gesetz mit Füßen treten können; es würde keine Möglichkeit vorhanden sein, irgendwie Remedur zu schaffen. Innerhalb dieses Bereichs, wo sich die Regierung absolutistisch und uneingeschränkt durch irgendwelche Kontrolle fühlt – innerhalb dieses Gebietes sollte meiner Ansicht nach die Regierung ganz besonders vorsichtig in ihren Maßregeln und darauf bedacht sein, sich peinlich in den Grenzen der Gesetze zu halten und nicht allenthalben die Überzeugung zu erwecken, dass, wie es hier geschieht, mit den Gesetzen und Verordnungen geradezu Schindluder getrieben wird.

(Glocke des Präsidenten.)

Präsident von Kröcher: Dieser Ausdruck ging viel zu weit. Herr Abgeordneter, ich rufe Sie zum zweiten Male unter Hinweis auf die Folgen, die die Geschäftsordnung vorschreibt, zur Ordnung.

(„Bravo!" rechts.)

Liebknecht: Meine Herren, dass diese Befehle, diese Maßregeln der Schulaufsichtsbehörde von dem Herrn Kultusminister selbst ausgehen, das ist uns zweifelsfrei bekannt geworden. Ein Geheimerlass des Herrn Kultusministers vom Jahre 1907 enthält generelle Anweisungen an die unteren Schulaufsichtsorgane, durch die diese veranlasst werden, in der hier charakterisierten ungesetzlichen Weise gegen die Arbeiterturnorganisationen und die anderen von mir besprochenen Organisationen einzuschreiten.

Meine Herren, über eins dürfen Sie sich nicht täuschen, und ich möchte das ganz besonders dem Herrn Kultusminister ans Herz legen und ihm zu bedenken geben: Mit derartigen Maßregeln erreichen Sie selbstverständlich bei der Arbeiterschaft nichts, Sie erreichen höchstens das Gegenteil von dem, was Sie wollen.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Ich habe so oft Gelegenheit gehabt, in Versammlungen und anderwärts über diese Maßregeln zu sprechen, und ich kann Ihnen versichern: Wenn diese Maßregeln in einer ihrer würdigen Weise charakterisiert wurden, so bemächtigte sich eine leidenschaftliche Empörung der Zuhörer, die Ihnen zu denken geben sollte. Selbstverständlich, wenn Sie uns ein so vorzügliches Material in die Hand geben, das dazu dienen kann, die Massen über den wahren Charakter der preußischen Regierung aufzuklären – wir müssten ja Narren sein, wenn wir dies Material nicht ausnutzen wollten!

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Die Schulaufsichtsbehörde hätte alle Veranlassung, in ihrem eigenen Interesse sich nicht weiter zu diskreditieren und diese Kampfesweise künftig nicht weiter zu verfolgen, sondern pflichtgemäß politisch-unparteiisch zu verfahren.

Die Jugendorganisationen, die man als sozialdemokratische zu bezeichnen gewohnt ist, obwohl sie das durchaus nicht sind, und die Arbeiterturnvereine, von denen dasselbe gilt, werden unter jenen Maßregeln am allerwenigsten leiden. Wir werden dafür sorgen, dass diese Organisationen, die bereits gegenwärtig einen so eminenten Aufschwung genommen haben, immer weiter und immer schneller wachsen; und das beste Agitationsmittel, um eine Stärkung dieser Organisation zu erzielen, wird für uns immer und immer wieder sein das gesetzwidrige Verhalten des Kultusministeriums und der Schulaufsichtsorgane.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

IV

22. April 1910

Ich möchte den Herrn Minister nur darum bitten, dass er diejenigen „zahlreichen Gerichtsentscheidungen", die nach seiner vorigen Behauptung das Verfahren der Schulaufsichtsbehörden in der gekennzeichneten Richtung rechtfertigen, einmal dem aufhorchenden Ohre der Mitwelt mitteilen möchte. Ich glaube verraten zu dürfen, dass solche Entscheidungen bisher nicht existieren und dass der Herr Kultusminister mit der Behauptung, dass solche Entscheidungen existieren, in der glänzendsten Weise gezeigt hat, dass er über die in Frage kommenden Rechtsverhältnisse nicht hinreichend orientiert ist.

(Heiterkeit.)

V

22. April 1910

Meine Herren, was der Herr Kultusminister eben geantwortet hat und die Entscheidung, die er zitiert hat, trifft den Punkt, um den es sich hier handelt, überhaupt nicht, nämlich den Punkt, über den die Entscheidung des Landgerichts I Berlin handelt: die Frage, ob die Schulaufsichtsbehörde überhaupt befugt ist, außerhalb der Grenzen des schulpflichtigen Alters Maßnahmen der fraglichen Art zu ergreifen. Das Landgericht I Berlin, dessen Urteil ich Ihnen jetzt, mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten, in seinem wesentlichsten Teil vorlesen will, sagt folgendermaßen:

Das Gericht ist der Rechtsauffassung der Angeklagten beigetreten. Die Kabinettsorder von 1834 spricht lediglich von dem Unterricht und der Erziehung der Jugend. Weder die Kabinettsorder noch die Ministerialinstruktion von 1859 geben für den Begriff der Jugend eine bestimmte Altersgrenze an. Offenbar haben diese beiden Gesetze, wie aus Paragraph 1 der Ministerialinstruktion, die ausdrücklich von schulpflichtiger Jugend spricht, entnommen werden kann, lediglich den Privatunterricht der schulpflichtigen Jugend, der als Ersatz des öffentlichen Schulunterrichts dienen soll, regeln wollen. Jedenfalls geben die beiden genannten Gesetze keine genügende gesetzliche Grundlage dafür, den Begriff der Jugend – wie es die Schulaufsichtsbehörde in ihren an die Turnleiter erlassenen Strafverfügungen tut – sogar bis auf alle diejenigen, die die Volljährigkeit, das heißt das 21. Lebensjahr, noch nicht erreicht haben, auszudehnen. ,Jugendlich' ist ein Begriff, dessen Grenze sehr flüssig ist. Er deckt sich jedenfalls nicht ohne weiteres mit ,minderjährig'. Das Fürsorgegesetz zwar erstreckt seine Fürsorge auf alle, die die Volljährigkeit noch nicht erreicht haben. Das Strafgesetzbuch, das Vereinsgesetz, die die Fortbildungsschule betreffenden Bestimmungen der Gewerbeordnung verstehen unter jugendlichen Personen nur solche, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben. Alle diese Gesetze setzen aber die Altersgrenze der Jugendlichen genau fest. Dies ist jedoch in den beiden Gesetzen (der Kabinettsorder und der Ministerialinstruktion), auf die sich lediglich die Strafverfügungen der Schulaufsichtsbehörde an die Turnleiter gründen, nicht geschehen. Es gehen also diese Anordnungen der Schulaufsichtsbehörde, in denen sie die Erteilung von Turnunterricht an jugendliche Personen allgemein, ohne zwischen der schulpflichtigen Jugend und solcher Jugend, die der Schulpflicht schon entwachsen ist, zu unterscheiden, von einer Konzession abhängig machen, über den Rahmen der der Behörde durch die Gesetze (Kabinettsorder und Ministerialinstruktion) gegebenen Befugnisse hinaus. Diese Anordnungen der Schulaufsichtsbehörde sind demgemäß nicht ,innerhalb ihrer Zuständigkeit' getroffen worden und konnten deshalb nicht den Schutz des Paragraphen 110 Strafgesetzbuchs genießen."

Hier ist in einwandfreier Deduktion, deren Schlüssigkeit sich noch verstärkt, wenn man die einschlägigen Bestimmungen der Gewerbeordnung über den entgeltlichen Turnunterricht heranzieht, dargetan, dass der diesseitige Standpunkt zutrifft und der Standpunkt des Kultusministeriums sich nicht verteidigen lässt. Ich habe übrigens darauf hingewiesen, dass bereits im September 1908 eine Entscheidung des Reichsgerichts ergangen ist, nach der in einem ähnlichen Fall eine Verfügung, die gleichfalls alle Minderjährigen zu treffen suchte, für ungültig erklärt wurde, während der Oberreichsanwalt in seinen Anträgen noch weiter ging und entsprechend dem Urteile des Landgerichts den Standpunkt vertrat, dass ausschließlich die schulpflichtige Jugend durch die betreffenden Gesetze getroffen sein könnte.

Hiernach ist der Sachverhalt wahrhaftig soweit geklärt, dass das Kultusministerium alle Veranlassung hätte, sich die Geschichte noch einmal zu überlegen, nicht aber hier eine Haltung einzunehmen, als ob der Rechtsboden, von dem es ausgeht, ganz und gar einwandfrei sei. Das Kultusministerium hat sich hier unzweifelhaft selbst, wenn man nicht bereits die Sachlage in meinem Sinne als vollkommen geklärt betrachten will, auf einen Boden begeben, der durchaus unsicher ist, und mindestens das Bekenntnis dessen könnte man wahrhaftig nach der jetzigen Sachlage von dem Kultusministerium erwarten. Statt dessen hält es auch gegenwärtig noch den Standpunkt aufrecht, dass seine Rechtsauffassung allein in Frage komme und allein interessiere. Das beweist, mit welcher Rücksichtslosigkeit man dort außerhalb des Schulwesens und der Schulinteressen liegende Angelegenheiten im Interesse der herrschenden Klassen gewaltsam zu verfolgen sucht; es beweist auf das deutlichste, wie wenig das Kultusministerium mit der nötigen Sorgfalt und der nötigen Delikatesse bemüht ist, sich an die Grenzen des Gesetzes zu halten.

VI2

22. April 1910

Meine Herren, ich bin dem Herrn Kultusminister dankbar, dass er endlich diejenige Stelle aus dem Erkenntnis des Oberverwaltungsgerichtes zur Verlesung gebracht hat, auf die er sich stützen zu können vermeint. Ich glaube, nachdem Ihnen nunmehr die beiden Erkenntnisse, um die es sich hier handelt, unterbreitet sind, und die Rechtsfrage, um die es sich handelt, klar genug sein dürfte, – ich glaube, meine Herren, dass es auch Ihnen nunmehr ohne Weiteres klar geworden ist, wie wenig die Entscheidung, die der Herr Kultusminister zum Vortrag gebracht hat, mit der allein hier in Betracht kommenden Rechtsfrage zu tun hat.

Wenn der Herr Kultusminister des Weiteren eine so große Vorsicht gegenüber der Landgerichtserkenntnis hat obwalten lassen, weil dagegen ja Revision eingelegt sei, so begreife ich nicht recht, weshalb er denn mit derselben Vorsicht auch der Entscheidung des Reichsgerichts vom 17. September 1908 aus dem Wege gegangen ist, von der ich mir vorher auch zu reden erlaubt habe, und auch in die hier fragliche Angelegenheit im Gegensatz zu dem Erkenntnis des Oberverwaltungsgerichts tief genug eingreift. Es scheint mir nach alledem das Verdikt, das ich über die Amtsführung der Schulaufsichtsorgane gefällt habe, nämlich das Verdikt, dass sie einer unzulässigen und missbräuchlichen Anwendung unserer Gesetze nicht nur dringend verdächtig, sondern schuldig sind, gerechtfertigt zu sein.

(„Sehr wahr!“ bei den Sozialdemokraten.)

1 Förderung der Turn- und Sportbewegung. Die Red.

2 Fehlt in den „Reden und Schriften

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