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Karl Liebknecht 19100923 Wahlrechtskampf und Massenstreik

Karl Liebknecht: Wahlrechtskampf und Massenstreik

Diskussionsrede zu einem Antrag Rosa Luxemburgs

[Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten in. Magdeburg vom 18. bis 24. September 1910, Berlin 1910, S. 447-449. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 3, S. 498-501]

Genosse Leinert hat es für zweckmäßig gehalten, mich persönlich anzugreifen und zu ironisieren. Er meint, dass ich als Mitglied der preußischen Fraktion mit Rücksicht auf den Beschluss der preußischen Landeskommission1 den Antrag Luxemburg nicht hätte unterzeichnen dürfen. Habe ich wirklich nötig, darüber ein Wort zu verlieren, wie gänzlich deplatziert und unverständlich dieser vom Zaun gebrochene Angriff ist! Ernst hat doch klar genug auseinandergesetzt, dass der Beschluss der Landeskommission dahin ging, in der damaligen Aktion von Landeskommissions wegen nach Möglichkeit Erörterungen zu vermeiden, die Verwirrung hätten anrichten können. Stecken wir denn heute noch in der Aktion drin oder sind wir nicht vielmehr in der „Pause", von der Ernst sprach? Ich schüttele also diesen Angriff mit einer Handbewegung von mir ab. Ebenso die nicht gerade geschmackvolle Bemerkung über meinen Vater. Hat er jemals gesagt, er sei bereit, innerhalb von 24 Stunden 24mal gegen grundlegende Parteitagsbeschlüsse zu verstoßen? (Zuruf: „Die Taktik zu ändern!") Bitte sehr, Leinert hat das bekannte Wort meines Vaters erstaunlicherweise erwähnt, um mich wegen meiner Haltung zur Disziplinfrage mit meinem Vater zu kontrastieren. Ich habe natürlich auch nicht gesagt – wie Leinert spotten zu dürfen glaubt –, dass ich die Disziplin mit der Muttermilch eingesogen habe, das wäre ja lächerlich, sondern dass ich mit der Muttermilch eingesogen habe die Worte meines Vaters, dass die Disziplin ein Heiligtum, der Stolz und eine Lebensnotwendigkeit der Partei sei. Ich will aber die lange Diskussion darüber nicht um Leinerts Bemerkungen willen wieder eröffnen.

Es ist ganz unzweifelhaft, dass wir hier über den preußischen Wahlrechtskampf sprechen können ebenso wie über die Wahlrechtskämpfe anderer deutscher Staaten; das tut ja der Parteitag seit Beginn der Erörterung dieses Punktes, das tut auch die Resolution des Parteivorstandes. Auch die Anzweiflung der Kompetenz des Parteitages in Bezug auf die Resolution Luxemburg ist also gänzlich deplatziert

Ich würde es für ungemein zweckmäßig halten, wenn künftig bei Wahlrechtskämpfen die Genossen all jener Staaten, in denen ungefähr gleiche wahlrechtliche Verhältnisse existieren wie in Preußen, sich in engere Verbindung, in innigere Fühlung setzen würden, um den Kampf gemeinsam, zunächst nach einem Plane, zu führen. Auf diesem Gebiete ist noch manches zu tun, wenngleich ich anerkenne, damit keinen neuen Gedanken auszusprechen, sondern etwas, was als ganz selbstverständlich von jedem einzelnen preußischen Wahlrechtskämpfer empfunden wird.

Wir sind uns über die Einzelheiten der nächsten Zukunft des preußischen Wahlrechtskampfes keineswegs klar. Es wäre falsch zu sagen, die nächste Wahlrechtsaktion werde unbedingt der nächste Wahlkampf sein. Es ist durchaus nicht ausgemacht, dass uns nicht vorher eine neue Vorlage zugeht oder dass wir nicht durch die politische Situation schon vor den nächsten Reichstagswahlen, wenn die Regierung zögern sollte, einen neuen Entwurf vorzulegen, genötigt werden, einen Druck von außen auf sie zu üben.

Unzutreffend ist die Ansicht, dass ein einheitlicher Beschluss die Hauptsache sei. Die Hauptsache ist, dass aus den Erörterungen und Beschlüssen des Parteitags mit einer nichts zu wünschen übriglassenden Deutlichkeit das größtmöglichste Maß von Entschlossenheit hervorgeht, den Wahlrechtskampf zum guten Ende zu führen, mag auch der Weg dahin noch so bitter sein. Darum ist auch die Resolution Luxemburg wohl am Platze. Sie ist nicht anders gemeint, als Genossin Zetkin in wahrhaft klassischer Weise dargelegt hat. Natürlich wünscht der zweite Absatz eine Einwirkung auf den preußischen Wahlrechtskampf, aber nicht in dem Sinne, dass eine Massenstreikaktion inszeniert werden soll, sondern in dem Sinne, dass wir den Boden lockern wollen, damit der Entschluss zum Massenstreik im entscheidenden Moment rascher und besser Wurzel schlägt; in dem Sinne, dass wir die Entwicklung derjenigen Disposition fördern wollen, die die Massen befähigt, im rechten Augenblick von ihrer schärfsten Waffe rasch, kühn und energisch den rechten Gebrauch zu machen. Dagegen sollte doch wahrlich nichts eingewendet werden.

Und es scheint mir auch, dass alle Bedenken gegen die Zuständigkeit des Parteitags für die gewünschte Stellungnahme zum Massenstreik unbegründet sind. Ich bin fest überzeugt, dass es der Genossin Luxemburg wie allen Unterzeichnern des Antrages fern liegt, in die Befugnis der Gewerkschaften, bei Massenstreikaktionen mitzuwirken, irgend eingreifen, diese Befugnis in irgendeiner Weise beschneiden zu wollen; das will der Antrag nicht, schon weil er von einer Massenstreikaktion gar nicht handelt. Aber auch wenn man schon die Empfehlung der Erörterung des Massenstreiks als eine solche Aktion ansehen würde, läge kein Bedenken vor. Wenn es heißt: „Der Parteitag erklärt für notwendig" usw., so ist damit noch nicht gesagt, dass diese Meinungsäußerung sofort und ohne weiteres in die Tat umgesetzt werden soll; es bleibt die Möglichkeit gewahrt, vorher noch das Einvernehmen mit den Gewerkschaften herzustellen. Man könnte schließlich, um jeden Stein aus dem Weg zu räumen, einfügen: „nach Vereinbarung mit den Gewerkschaften". Das würde geeignet sein, die letzten formalen Bedenken, die meiner Ansicht nach aber überhaupt nicht zutreffen, zu zerstören.

Ganz selbstverständlich ist es, dass jeder Einzelne von uns durch die Beschlüsse von Jena und Mannheim legitimiert ist, den Massenstreik zu erörtern und Propaganda für ihn zu treiben. (Zustimmung.) Dies ist auch für die Zukunft der Fall. Die Frage ist nur, ob wir von Parteitags wegen geradezu empfehlen wollen, in eine solche Erörterung einzutreten. Man mag den Antrag für überflüssig halten, weil jeder das Recht der Erörterung und Propagierung hat. Man mag auch meinen, es sei besser, wenn hier alles von unten kommt, als wenn es von oben suggeriert oder oktroyiert wird. Diese Bedenken könnten mich am ehesten bewegen, für die Streichung des zweiten Absatzes zu stimmen, aber eben unter der Voraussetzung und ausdrücklichen Feststellung, dass jeder heute das Recht hat, in der ihm angemessen erscheinenden Weise im Interesse der Partei und des Wahlrechtskampfes diese Erörterung und Propaganda zu betreiben. (Zustimmung. Pfannkuch: „Wer hat das je bestritten?") Ich behaupte ja gar nicht, dass es bestritten worden ist, aber es haben Missverständnisse bestanden.

Leinert hat dann noch versichert: Wann der Generalstreik kommt, das weiß nicht die Genossin Luxemburg, das weiß der Parteivorstand und die Generalkommission; diese mechanische und bürokratische Auffassung vom Wesen des Massenstreiks braucht nur erwähnt zu werden, um sofort erledigt zu sein. Das wäre ja eine schöne Sorte Massenstreik, die in dieser Weise von oben herab kommandiert werden könnte!

Niemand denkt daran, die Taktik für die Zukunft festzulegen; wir wollen nur Erörterungsfreiheit nach allen Richtungen haben, um gerüstet und befähigt zu sein, in der rechten Situation sofort mit Entschiedenheit und Kühnheit diejenige Waffe zu ergreifen, die am geeignetsten ist, endlich in die Junkerfeste Bresche zu schießen, damit man endlich auch einmal den Namen Preuße tragen kann, ohne dabei wie jetzt Schamgefühl zu empfinden. („Bravo!")

1 Die preußische Landeskommission der SPD hatte im Frühjahr 1910, inmitten des Wahlrechtskampfes, die Anwendung des politischen Massenstreiks und seine Propagierung als im gegebenen Zeitpunkt „unzweckmäßig" erklärt. Sie fügte die nichtssagende Erklärung hinzu, dass sie das Mittel des Massenstreiks jedoch nicht grundsätzlich verwerfe.

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