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Karl Liebknecht 19111118 Abrechnung mit den reaktionären Parteien

Karl Liebknecht: Abrechnung mit den reaktionären Parteien

Zeitungsbericht über die Rede in einer Wahlversammlung in Stettin

[Volksbote (Stettin) Nr. 273 vom 21. November 1911. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 4, S. 490-493]

Der sozialdemokratische Wahlverein Randow-Greifenhagen hatte zu Sonnabend, den 18. November, abends 8 Uhr, zu einer öffentlichen Volksversammlung nach dem „Neuen Kasino" eingeladen, in welcher Genosse Karl Liebknecht-Berlin über die bevorstehenden Reichstagswahlen und ihre Bedeutung für die Arbeiterschaft reden sollte.. Schon lange vor der festgesetzten Zeit waren der geräumige Saal, aus dem die Tische entfernt werden mussten, sowie die Galerien dicht besetzt. Es mochten etwa 2500 Versammlungsbesucher anwesend sein, während die Zahl derjenigen, die keinen Einlass mehr finden konnten, auf mindestens 1000 geschätzt wird.

Genosse Liebknecht, mit Händeklatschen empfangen, führte ungefähr aus: Herr von Heydebrand und der Lasa bezeichnete auf dem letzten konservativen Parteitag für Schlesien in Breslau die Regierung als die Beauftragte der „wahren Patrioten", also den Ausschuss der besitzenden Klasse, als den sie die Sozialdemokratie schon lange bezeichnet hat. Die blauschwarzen Parteien seien die gefährlichsten Feinde des deutschen Volkes, denn sie beeinflussen die Regierung, nur zugunsten einer kleinen Schicht von Bevorzugten und Besitzenden zu arbeiten. Auch die wirtschaftliche Entwicklung bestätigt die Richtigkeit der sozialdemokratischen Wirtschaftspolitik. Wir sehen eine ungeheure Konzentration des Kapitals, welche die Kleinbetriebe vollständig an die Wand drückt.

Daher sei der Versuch der reaktionären Parteien, den Mittelstand durch Versprechungen bei den Wahlen hinter sich herzu schleppen, nur Heuchelei.

Redner wendet sich alsdann der Weltmachtpolitik der Regierung zu, die zu internationalen Konflikten führen müsse. Die Marokkoaffäre und der Krieg um Tripolis seien dafür Beweise aus letzter Zeit. Die Sozialdemokratie habe solche Konflikte vorausgesehen und sei deshalb Gegnerin der Kolonial- und Weltmachtpolitik, so wie sie von den herrschenden Klassen heute betrieben wird. Überall stoßen die weltwirtschaftlichen Kräfte aufeinander mit einer Rücksichtslosigkeit, die ihresgleichen sucht. Die Sozialdemokratie unterstütze keine Politik, die den Kolonien statt Kultur – Schnaps und Arenberge1 bringe. Wolle man Kultur verbreiten, so solle man das zunächst im eigenen Lande tun, indem man die Schätze, welche die Erde liefert, allen Menschen zugänglich macht. Zur Hebung der Lage des eigenen Volkes wird nichts getan, obgleich auf dem Wohl der breiten Masse des Volkes die Wohlfahrt eines Landes beruht. Das wahre Allgemeinwohl kann nur unter einer demokratischen Staatsform gedeihen, aber heute wird die Masse des Volkes politisch unterdrückt.

Redner wandte sich dann der auswärtigen Politik zu und meinte: Ab und zu ertönen auch mal im eisengepanzerten Europa die Friedensschalmeien. Man tauscht Monarchenküsse aus, meistens gleich auf beide Wangen (Große Heiterkeit.), man tauscht Prinzen und Prinzessinnen, Professoren und Statuen aus, hält von Frieden und gegenseitiger Freundschaft triefende Reden und – schafft zu gleicher Zeit Unterseeboote und Luftflotten an. Die Haltung der Regierung in der Marokkopolitik sei eine zweideutige gewesen, denn den alldeutschen Ausstreuungen über Landerwerb sei die Regierung nicht entgegengetreten, vielmehr habe sie versucht, den Marokkokonflikt zu innerpolitischen Zwecken auszunutzen. Die jetzige Flucht in die Öffentlichkeit beweise nicht, dass nicht gegenteilige Tendenzen vordem gebilligt worden sind. Es sei von jeher Brauch gewesen, dass Regierungen mit schlechtem Gewissen versuchen, durch die äußere Politik die Aufmerksamkeit von den inneren Zuständen abzulenken. Das beweisen auch die verzweifelten Mittel, durch die Vorgänge in Moabit2 und am Wedding3 eine Wahlparole zu schaffen, um die Philister vor der Sozialdemokratie gräulich zu machen. Der Moabiter Prozess habe allerdings einen dicken Strich durch diese Rechnung gemacht, denn dort saß die Polizei auf der Anklagebank. Seit dieser Zeit seien auch die Ausstreuungen über den Wahltermin, die man in jener Zeit mehrfach hörte, verschwunden.

In diesem Zusammenhange die Marokkoaffäre betrachtend, beweist Redner, dass die Arbeiterklasse den größten Schaden, die Reaktionäre, die Panzerplattenfabrikanten und Armeelieferanten aber alle Vorteile von einem Kriege haben, und kritisierte alsdann die Kriegshetzrede des Herrn von Heydebrand und die letzten Vorgänge im Reichstage.

Seit der letzten Wahl haben die Parteien eine vollständige Schwenkung unternommen, ohne dass Gelegenheit gegeben wurde, die Wähler zu fragen, ob sie mit dieser Schwenkung einverstanden sind. Man solle deshalb den Parlamentarismus nicht überschätzen. Solange die Schwarzblauen am Ruder sind, werden sie ihren Willen durchsetzen, deshalb müsse es Aufgabe des nächsten Reichstages sein, die politischen Rechte des Volkes zu erweitern, wie es Aufgabe der Wähler ist, die Reaktion zu brechen, indem sie sozialdemokratisch wählen. Was ist übriggeblieben von den sozialpolitischen Versprechungen der bürgerlichen Parteien von 1907? Die Reichsversicherungsordnung, die auch nach Urteilen bürgerlicher Sozialpolitiker den Arbeitern eine ungeheure Entrechtung gebracht habe. Bereits 1907 habe die Sozialdemokratie neue Steuern vorausgesagt. Noch am Tage vor der Wahl sei diese Voraussage von der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" als eine Wahllüge bezeichnet worden. Die Antwort war die Finanzreform. Der Kampf um die Erbschaftssteuer, der den Sturz Bülows im Gefolge hatte, habe mit Blitzlicht erhellt, wer in Deutschland die führenden Kräfte sind. Aus purem Egoismus habe die Mehrheit die Erbschaftssteuer abgelehnt, aus purem Egoismus dem Volke ungeheure Lasten auferlegt.

Genosse Liebknecht bespricht alsdann die gegenwärtige Teuerung. Zu einem gewissen Teile sei die Dürre daran Schuld, zum größten Teile aber unsere Wirtschaftspolitik. Das Volk fordere Öffnung der Grenzen, und die Regierung, die Gefangene der Junker, schweigt dazu. Deshalb gilt es am 12. Januar, Abrechnung zu halten mit der Regierung und den bürgerlichen Parteien.

Unter spontanem Beifall, der schon die Ausführungen wiederholt unterstrichen hatte, beendete Genosse Liebknecht seine 1¾stündige Rede. Nach einem Schlusswort des Genossen Haenisch verließ die begeisterte Menge langsam den Saal.

1 Karl Liebknecht bezieht sich auf die Gräueltaten des Prinzen Arenberg, der im Jahre 1904 wegen Mordes an einem eingeborenen Polizisten in Deutsch-Südwestafrika angeklagt war. In der Verhandlung wurde festgestellt, dass Soldatenmisshandlungen und widerlichste Exzesse zum Lebensstil dieses Kolonialoffiziers gehörten. In der Agitation der deutschen Sozialdemokratie wurden die Begriffe „Arenberg" bzw. „Arenberge" als Symbol für die typischen Vertreter des Kolonialismus, Militarismus und des reaktionären Preußentums verwendet.

2 Im September 1910 streikten die Arbeiter der Firma Kupfer & Co., einer dem Stinnes-Konzern angeschlossenen Kohlengroßhandlung in Berlin-Moabit. Als Streikbrecher des Streikbrechervermittlers Hintze, geschützt durch die Polizei, provokatorisch auftraten, kam es zu blutigen Zusammenstößen zwischen der Polizei und der Bevölkerung. Die brutal vorgehende Polizei tötete zwei und verwundete zahlreiche Personen. In zwei großen Prozessen – vom 9. November 1910 bis 11. Januar 1911 vor einer Berliner Strafkammer und vom 9. bis 23. Januar 1911 vor dem Schwurgericht des Berliner Landgerichts I – wurde gegen 18 Angeklagte verhandelt, von denen 14 insgesamt 67 ½ Monate Gefängnis erhielten. Der Rest wurde freigesprochen.

3 Am 29. Oktober 1910 begann in der Fleisch- und Wurstfabrik Morgenstern (Berlin-Wedding) ein Streik gegen die als Maßregelung erfolgte Entlassung von zwei gewerkschaftlich organisierten Arbeitern. Als die Polizei provokatorisch eingriff, kam es zu Zusammenstößen zwischen der Polizei und der Bevölkerung. Zahlreiche Personen wurden verhaftet. In einem Prozess vor der 4. Strafkammer des Berliner Landgerichts III (16. bis 25. Januar 1911) wurden 18 Personen wegen Aufruhr, Auflauf, Landfriedensbruch, Beleidigung, Bedrohung und Widerstand gegen die Staatsgewalt angeklagt. Karl Liebknecht war einer der Verteidiger. Obwohl es der Verteidigung durch eine ausführliche Beweiserhebung (§ 244 StPO) gelang, das provokatorische Vorgehen der Polizei als wesentliche Ursache der Straßenkämpfe nachzuweisen, wurden acht Angeklagte zu mehrmonatigen Gefängnisstrafen und die Mehrzahl der übrigen zu einem Monat Gefängnis verurteilt. Nur ein Angeklagter wurde freigesprochen.

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